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 Plakat »Neue Lyrik« von Wilhelm Jordan

Zur Topologie der Motive
beim Regiment Sassenbach

Arno Holz sah die Gedichte seiner beiden Phantasus-Hefte von 1898/99 als erste Lieferung einer »Komposition, die […] zum ersten mal mit den Mitteln der Lyrik ein Weltbild versucht«. [1] Das bedeutet: Dem Motivreservoir sind so gut wie keine Grenzen gesetzt, die Phantasie ist von der Leine. So wären Überschau und Freiheit zu gewinnen:

Gottseidank!

Die Hausthür ist zu, mich kann Niemand mehr besuchen.

Ich öffne ein Päckchen »Blaubienenkorb«
und stopfe die lange Pfeife.

Es regnet so schön.

In den Schlafrock gewickelt,
die Tapete entlang,
fährt sichs jetzt prächtig nach alten Ländern.

Alles versinkt!

Aus einem stillen, himmlisch blauen Wiesenwässerchen
mit bunten, gespiegelten Blumen und Wolken
lande ich in ein Städtchen.

Die dünnen Gräserchen über die bröckelnde Rundmauer blinken noch,
jedes sich drehende Wetterfähnchen
erzählt mir eine Geschichte. [2]

Das Eintreten ins Haus zugleich das befreiende Heraustreten aus den Zwängen der Allerweltswelt, die Haustür sperrt sie aus. Nun unballastet, gehts »Up – Up and Away« in irgendeine ixte Trancedimension, die Tapete als weites Feld für Gedankenreisen. In den Großfassungen des anfangs nur neunzehnzeiligen Dachkammer-Gedichts, in dem Holz die Versammlung der Mitdichter beschreibt, [3] übernehmen in der ausführlichen Eingangssequenz die »Mörteldecke« mit ihren »Konturen, Figuren, Strukturen« et cetera und der Ofen mit seinen Geräuschen diese Rolle. Betrachtung der Atelierdecke »verleitet« zu »Inspirationen, / Phantasmen, Kreationen, Enthusiasmen, / Halluzinationen, Exaltationen, / Einfällen, / Verzückungen und Hirngespinsten«, »gebunden« an »Anlässe, Umstände, Zufälle, Ursachen, Eindrücke, Einwirkungen, Einflüsse, Erlebnisse und Begebnisse«. [4] Vom bullernden, polternden, heulenden Ofen sind »Taten, / Tatsachen, / Handlungen, Angelegenheiten, Ereignisse, Begebnisse, / Exekutionen, Aktionen, Operationen, / Tragödien, Interludien, Manöver, Prozeduren, / Abenteuer« zu erfahren. [5] Ein »Großer Dichtermittwochnachmittag In Meiner Feuerstuhlbude« – so die Überschrift in der Luchterhandschen Ausgabe – bekommt damit seine Direktive zur Motivgewinnung per – wie soll ich sagen? – Ekstase der Kreativität.

In der Dichtergruppe, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts um Arno Holz zusammenfand, nach ihrem Verleger Johannes Sassenbach intern als »Regiment Sassenbach« firmierend, gehörte alternative Motivverarbeitung zu den Arbeitspraktiken. Eine Reihe von Motiven findet sich in verschiedenen Ausformungen, in jeweils ganz eigenem Ton: Abend am Grunewaldsee bei Martens, Piper und Holz, »Milljöh« bei Martens und Reß, der pathetische Reiter bei Holz, Martens und Reß … und bei Stolzenberg in hinreißender Verulkung, Smalltalk auf leerlaufenden Gesellschaften bei Reß, Holz, Martens und Paul Ernst, Tod der Mutter bei Reß und Stolzenberg, Paradiese hinter Zäunen oder Mauern bei Holz, Martens, Reß und Stolzenberg. Gelegentlich wittere ich den Werkstattspaß, auf die dichterische Lösung eines andern »eins draufzusetzen«.

Zusammenschau von motivisch verwandten Gedichten läßt auf die Arbeitsweise der Werkstattkooperative durchblicken und gibt zugleich wenigstens einen kleinen Eindruck von den Dichterpersönlichkeiten. Im Sinn zu behalten: Die Lyrikwerkstatt um Arno Holz war ein Labor und frühes Beispiel einer Creative-Writing-Gruppe. Hier wurde mit Sprache experimentiert und gearbeitet. Einfälle, Motive waren kein eifersüchtig gehütetes Privateigentum, sondern im Prinzip für die andren Gruppenmitglieder verfügbar. Wenn nicht gar gleich gemeinsam ein reizvolles Motiv gegriffen wurde wie von Arno Holz und Paul Ernst im Fall des berittenen Leutnants im Tiergarten sowie von Holz und Robert Reß angesichts des öden, erst in Erschließung befindlichen Neubaugebiets am Stadtrand. Um die Erprobung von Zugriffstechniken ging es dabei. Doch mag darüber hinaus Wettstreit im Spiel gewesen sein … letzteres hat ja auch damit zu tun. Manche Motive wurzeln gewiß im Diskurs innerhalb der Gruppe, in Konsensen wie auch in Divergenzen. Veranlassung mag weiterhin gewesen sein, der eignen Auffassung anzupassen, was ein andrer vorgab.

Robert Wohlleben


1] Arno Holz: Das Werk. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer. 10 Bde. Berlin: J. H. W. Dietz Nachfolger 1924 u. 1925, Bd. X, S. 544.
2] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 74.
3] Erstdruck ebd., S. 104. – Arno Holz: Phantasus. Leipzig: Insel 1916, S. 251-314. – Holz, Das Werk, Bd. III, S. 877-1102. – Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. 7 Bde. Neuwied, Berlin-Spandau: Luchterhand 1961–1964, Bd. III, S. 7-263.
4] Holz, Werke, Bd. III, S. 15.
5] Ebd., S. 41.

Antreten zum Dichten

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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