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Paradiesgärtlein, rheinischer Meister

Paradiese hinter Mauern und Zäunen

Außer bei Reinhard Piper kommt das eine oder andre Paradies bei allen andren des Regiments Sassenbach vor. Das Thema hatte offenbar seine Faszination. Idyllisch gehts bei Arno Holz im zweiten Phantasus-Heft zu:

Hinter hohen Mauern
hinter mir
liegt ein Paradies.

Grüne, glitzernde Stachelbeersträucher,
eine Strohbude
und Bäume mit Glaskirschen.

Niemand weiss von ihm.

An einem Halm
klettert ein Marienkäferchen,
plumps, und fällt in goldgelbe Butterblumen.

Hilfreich neigen sich Tausendschönchen,
Stiefmütterchen machen ein böses Gesicht.

Verschollen
glänzen die Beete! [1]

Wenige Seiten drauf amüsiert sich Holz darüber, wie sich eine hinter Bretterwand statt Mauer imaginierte Märchenwelt bei genauerem Hinsehn auflöst … keine Prinzessin für den Froschkönig, sondern schwangere »Gänsemagd« mit Nasenkatarrh und ohne Schnupftuch:

Hinter den Brettern, die die Welt vernageln,
sitzt ein Frosch mit goldnen Augen.

Schade!

Wenn ich jetzt drüben sässe,
wäre ich ein Königssohn.
Gärten aus blühenden Rosenlauben
funkelten,
Springbrunnen plätscherten,
in ihren weissen Armen wiegte mich eine Prinzessin . . .

Da, kuck, ein Astloch.

Ich blinzle durch.

Eine grüne Wiese mit Klapperkraut,
Gänse,
Schnips, der Hund,
und dazu, stubsnäsig, Trine,
die, den Rock schon vorn zu kurz – Lichter zieht und Schmalzbrot kaut! [2]

Rolf Wolfgang Martens stellt die Unmöglichkeit heraus, ins lockende Paradies hineinzugelangen, mit gewissem vorgreifendem Anklang an Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz«:

Ich möchte wissen, bestimmt wissen,
was hinter der großen schwarzen Mauer ist.

Das alte fromme Tantchen
erzählt bunte Geschichten.

Niemand hat dahinter gesehn!

Versuch ichs, hinüber zu klettern,
und bind ich auch alle Leitern zusammen,
ich komm nicht weit!

Und will ich durchs Thor,
durch das einzige,
so schreckt mich der große, unerbittliche Engel
mit dem Flammenschwert. [3]

Bei Georg Stolzenberg der erotische Sündenfall des Halbwüchsigen in einem mauerumgebenen Eden:

In jenem göttlichen Rosengarten,
in den über Glasscherbenmauern die Jungen steigen,
ganz rot
und mit schon zu kurzen Confirmandenhosen,
fühlte auch ich zwischen den Fingern Paradiesäpfel durch den Flor.

Aus ihrem Herzmündchen
spielte eine gespaltene Zunge.

Hundert Religionsbücher sprachen lautlos ihren Fluch über mich.

Meine achtzehn Jahre stöhnten Seligkeit! [4]

Bei Robert Reß bleibt nach massenhaftem Eingehn ins Paradies ein eigenartiges Endzeitbild. Denken läßt es mich unwillkürlich ans bereits menschenleere New York, in dem der Zeitreisende James Cole in Terry Gilliams »12 Monkeys« einmal fehlerhafterweise zu spät ankommt:

Jenseits der grossen Nebelmauer
führt ein dunkles Felsenthor ins Paradies.

Der letzte Mensch in ihm
verschwand.

In die verlassnen Straßen
glitzert mondhell das Schneegebirge.

Längst drang herein die grüne Wildniss.

Ueber den Marktplatz
schreitet brüllend ein Löwe.

Entsetzt
flieht eine Antilopenheerde. [5]

Und hier geht es Reß um quasi paradiesische Fremd- und Verwunschenheit:

Auf die verrufne Mauer
schwingt sich kaum einmal ein Bauernjunge.

Sieht hinüber
mit grossen, aufgerissnen Augen,
wo hinter scharlachroten Beeten
um ein schwarzes Mausoleum
flimmernd
der Mittag zittert.

Drinnen,
in den dunklen, kühlen Zimmern
zanken sich, kreischen
um bis zur Decke getürmte Bücherstösse
Affen und Papageien.

Ein kleiner, steinalter Herr,
vornüber gebückt,
streichelt eine weisse Angorakatze,
die sich schnurrend an seinen grünen Beinen reibt. [6]

Juliisothermen

Unmittelbar vor Ressens Paradies-Gedicht mit dem Felsentor in menschenleerer Welt steht – ohne Zaun oder Mauer – diese sozusagen paradiesische Utopie, chiliastisch überbordend:

Gleich nach Weihnachten
schlugen die Bäume aus.

Im Januar grünten die Saaten,
blühten die Kirschbäume.

Das Wasser der Bäche war so warm,
als ob heisse Quellen es speisten.

Auf die Dächer
liessen sich seltsam prächtige Vögel nieder,
die noch niemand gesehn hatte.

Todfeinde
umarmten sich.

Der Kaiser selbst,
umringt von seinen Paladinen,
stieg von seinem Thron
barhäuptig
mitten unter die Bettler.

Von Land zu Land
läuteten die Glocken,
das tausendjährige Reich ist da!

Eine goldne Uhr fällt dann nicht mehr auf
im deutschen Reich.

Bis ins Herz der ehemaligen Wüste Gobi
flutet durch Kanäle das Meer.

Mitten im stillen Ocean,
auf einem Unterbau von Platin,
ruht ein neuer Erdteil.

Bis Spitzbergen hinauf blühen das ganze Jahr
Apfelsinenwälder! [7]

Lange hielt ich das Gedicht schlicht wegen seiner kabarettistischen Veralberung seinerzeit grassierender Fortschrittseuphorie für amüsant, die »eminente Entwickelung auf allen Gebieten« in der Diktion eines Meyerschen Lexikographen. [8] Dann fand ich in der Titelgeschichte des »Spiegel« vom 7. Mai 2007 – der Klimawandel wird weichgezeichnet – den Hinweis, daß der mir aus dem Chemieunterricht vor Jahrzehnten bekannte Svante Arrhenius 1896 globale Erwärmung und damit einhergehende Verbesserung der Lebensbedingungen vorhergesagt hat. [9] Den betreffenden Fachaufsatz wird Reß kaum gekannt haben. Doch vielleicht wetterleuchtete ja die wissenschaftliche Diskussion darum in der Publikumspresse …? Von daher vielleicht die Apfelsinenwälder »bis Spitzbergen hinauf«, die »Hebung der Besitzstände« mitsamt sozialem Frieden. Was im Gedicht von 1899 als absurde, auf Science-fiction hinauslaufende Übersteigerung erscheint, wie die Meerwasserkanäle zur Gobi und der künstliche neue Kontinent, geistert in mehr oder weniger verstiegenen Plänen späterer Jahrzehnte: schon zur Zarenzeit angedachte, noch in den 1970ern diskutierte russische Überlegungen, sibirische Ströme zum Kaspischen Meer und zum Aralsee umzuleiten. Aus solchem Geist heraus dann auch gegen Ende der 1920er Jahre Herman Sörgels Atlantropa-Vision, zwecks Landgewinnung die Straße von Gibraltar und das Mittelmeer zwischen Italien und Nordafrika durch Dämme abzusperren.

Reß hat wohl zur Zeit des Regiments Sassenbach von derlei geredet, zu schließen nach dem, was Arno Holz in den Phantasus-Großversionen aus den neunzehn Zeilen seines Dachkammergedichts von 1899 [10] hat werden lassen, in der Nachlaßfassung, überschrieben »Großer Dichtermittwochnachmittag in Meiner Feuerstuhlbude«, 264 Seiten umfassend. Dort ist in der Eingangssequenz von einem Freund die Rede, der – siehe Träume – »in Spiritismus ›macht‹« [11] und der »durch den ihm gemeinst aufgezwungenen, nicht gerade glimpflichen, aber auch durch nichts ihm verständlichen kontinentalen Klimawechsel« [12] beunruhigt ist … beides offensichtlich auf Robert Reß weisend.

Robert Wohlleben


1] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 91.
2] Ebd., S. 99.
3] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 13.
4] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Drittes Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1903, 3. Heft, S. 30.
5] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 36.
6] Ebd., S. 20.
7] Ebd., S. 34 f.
8] Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl., neuer Abdruck. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1905–1909, Bd. 6, S. 32 f.
9] Svante Arrhenius: On the Influence of Carbonic Acid in the Air upon the Temperature of the Ground. In: Philosophical Magazine and Journal of Science, April 1896.
10] Holz, Phantasus (Reclam), S. 104.
11] Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. Neuwied, Berlin-Spandau: Luchterhand 1961–1964, Bd. III, S. 25.
12] Ebd., S. 30 f. (Auslassungen nicht gekennzeichnet).

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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