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Gall


Träume

Althergebracht ist das Rätseln über den Traum als schwerverständlichen Bewußtseins- oder Seelenzustand. Wie für Arno Holz galt für die andren Angehörigen des Regiments Sassenbach das Ziel, Bewußtsein in möglichst vielen seiner Nuancen faßbar zu machen. Da boten selbstverständlich auch Träume ein Motivreservoir. Bei Arno Holz wie auch bei Georg Stolzenberg allerdings sind sie nicht so recht zu finden, es sei denn, Tagträume und müßige Spintisierereien würden dazugezählt.

Protokollierung eines Traums scheint zu sein, was Robert Reß auf einen Friedhof oder wenigstens in seine Nähe führte:

Arm in Arm gehn wir den gewohnten Weg,
lachen und sind glücklich.

»Aber deine Mutter ist gestorben!«

Ein Zug leerer Leichenwagen rollt an uns vorbei.

In dem letzten,
seltsam hin und her,
schwankt ein offner Sarg.

Wie ich ihre gebrochnen Augen zudrücken will,
wölbt sich über mir zum Dom ein Wald von weissen Rosen.

Sie ist es ja gar nicht!

Sondern . . . Du? [1]

Sigmund Freuds »Traumdeutung«, gegen Ende 1899 ausgeliefert, kommt – so »hübsch« es auch wäre – als Anregung für Ressens zu diesem Zeitpunkt bereits erschienenes Gedicht nicht in Frage. Die Bildlichkeiten des Gedichts und zum Schluß die Überblendung von toter Mutter und – wie ich vermute – Partnerin könnten zu denken geben.

Georg Stolzenberg allerdings könnte sich in einem seiner 1903 veröffentlichten Gedichte darauf bezogen haben. Die Anwendung von Psychoanalyse erschien ihm anscheinend als so hochbedrohlich, daß zur Dimensionierung der Gefahr der französische Scharfrichter Anatole Deibler an den Tanz mußte:

Sie erzählt dir von ihrem toten Mann unter Tränen.

Nach fünfundzwanzig Jahren!

Weil du ihr mal mit einem bunten Einfall das Herz erhellt,
hat sie dich lieb.

Dumm?

Du
mit deiner sogenannten Seelenanalyse!

Liebenswürdig trittst du unter den Jourfix.
Scharfrichter Deibler,
schon im Frack und weißen Handschuhen!

Durch deinen besten Freund
saust dein Fallbeil. [2]

Wie Alptraum mutet dies Martenssche Gedicht an:

Ein nackter weißer Weiberleib
beugt sich über mich.

Sie küßt mich.

O, Gott!

Ich liege auf dem Operationstisch; um mich Ärzte mit Messern.

Karbolgeruch.

Man stülpt über mich die Chloroformmaske. [3]

Das Gedicht sieht entschieden nach Traumerinnerung aus. Oder erinnerte sich Martens an eine Phantasie, die womöglich einem Delir nach voraufgegangener Operation entsprang?

Bei Reß explizit Alptraum und ebenfalls blutig:

Mich würgt eine Schlange.

Meine Glieder knacken wie dürre Äste.

Aus meinem Mund
schiesst
Blut!

Ich erwache.

Im Halbschlaf hältst Du meinen Hals umklammert.

Lächelst.

Dein Leib glüht! [4]

Die geträumte Schlange entpuppt sich als der Arm der realen Bettgenossin. Der eher banalen Erklärung im damals aktuellen Pierer nach brauchte man sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen, denn es handelt sich um »solche Fälle, wo Störungen in der Zirkulation, Druck auf große Gefäßstämme ängstliche Träume, z. B. die Vorstellung einer auf den Körper gelegten Last (sog. Alpdrücken) veranlassen«. [5]

Reß bietet noch einen Alptraum, allerdings andrer Art, nicht mit gestörter Blutzirkulation zu erklären:

Durch ein dunkles Gassenlabyrinth
hallen meine Schritte.

Thüren öffnen sich,
Gesichter starren mich an,
schreiend läuft mir ein Kind nach.

Ich werde nie mehr zurückfinden.

Zu Hause, an meiner geschmückten Tafel,
sitzen die Gäste.

Einer nach dem andern steht auf, wirft dem Diener ein Geldstück hin,
knallt die Thür zu! [6]

Auch bei Piper geht eine Gasterei ungut aus:

Ich habe viele Bekannte geladen.

Nach dem Mittagsmahl führe ich sie in meinen schimmernden Garten.

Der Abend dämmert.
Die letzten Gäste verlassen mich.

Ich geh noch einmal durch meine Beete.

Plötzlich seh ich:
In allen Blüten hängt Speichel! [7]

Pipers Gedicht und das motivisch recht ähnliche von Reß zeigen Merkmale des Traums. Womöglich hat es zwischen den beiden Austausch, Verständigung oder Verabredung gegeben. In der Werkstattgruppe nicht ungewöhnlich. Sicher allzu spekulativ ist die Annahme, Reß und Piper hätten sich vorgesetzt, etwas zu erfinden, was nach Traum aussieht, ohne daß es tatsächlich geträumt worden war.

Obwohl es so »verträumt« daherkommt, handelt dies Reß-Gedicht nicht von einem Traum:

Jemand löschte die Lampe.

Aus seligem Perlmutterglanz
tönen Stimmen.

Seelen aus einer andern Welt!

Ich will eine haschen.

Ein zarter, zirpender Wehlaut;
feiner Sprühregen kühlt meine Stirn. [8]

Tatsächlich gibt es Eindrücke von einer Séance wieder. Wie die Tochter Sabine Reß (1904 bis 1985) im Gespräch mitteilte, fanden in ihrem Elternhaus regelmäßig spiritistische Sitzungen statt. Das 1899 erschienene Séance-Gedicht macht deutlich: schon zur Zeit des Regiments Sassenbach. Arno Holz habe an den Sitzungen teilgenommen. Der hatte dort Anregungen zu den Okkultismus-Motiven der Tragödie »Ignorabimus« gefunden, 1913 gedruckt. Reß kannte sich aus: Wo er in seinem »Mahn-und Weckruf« auf dies ungefüge Grenzwissenschaftsdrama zu sprechen kommt, läßt er gleich zwanzig relevante Namen fallen:

    Arno Holz mit seinem »Ignorabimus« hat sich heute furchtlos bis an die äußerste Grenze des innerhalb der »Naturwissenschaften« überhaupt Möglichen vorgewagt und behandelt die Phänomene, deren exakt experimentelles Studium seit einer Generation in England durch die großen Namen Crookes, Wallace, um nur die wichtigsten zu nennen, Varley und Lodge, vertreten glänzt, in Amerika durch Hare, Hodgson und Hyslop, in Frankreich durch Richet, Rochas, Flournoy und Flammarion, in Italien durch Lombroso und Schiaparelli, in Rußland durch Baron von Güldenstubbe, Aksakow, Ochorowicz und erst noch ganz kürzlich Naum Kotik, und in Deutschland durch Zöllner, Weber und Reichenbach. [9]

Übrigens scheint Holz in den Großfassungen des ursprünglich 19-zeiligen Gedichts über die Dichterversammlung in seiner Dachkammer [10] auf diese Reßsche Neigung anzuspielen. Denn da, wo es zunächst nur um die Eingangstür zum Atelier unterm Dach und den Türspion geht, ohne daß schon jemand eingetroffen wäre, kommt ein »Freund« zur Sprache: »der Hellseher, der Handleser, der / Transmaler, Traumdeuter, / Geisterphotograph, Wünschelrutengänger, Horoskopsteller, / Kristallvisionär und Heilmagnetopath«, »der in Tischklopfen und Spökenkieken, der in Nekromantik und Doppelgängerei, der / in Mediumismus, in / Okkultismus und in Spiritismus / ›macht‹«. [11] Etwas später ist davon die Rede, daß dieser auch klimatologisch interessiert ist, was zu Ressens Utopie eines Paradieses dank Klimawandel paßt (siehe Paradiese).

Robert Wohlleben


1] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 18.
2] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Drittes Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1903, S. 44.
3] Martens, Befreite Flügel, S. 22.
4] Reß, Farben, S. 12.
5] Pierers Konversations-Lexikon. 7. Aufl. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1888–1893, Bd. 12, Spalte 363.
6] Reß, Farben, S. 32.
7] Ludwig Reinhard [d. i. Reinhard Piper]: Meine Jugend I. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 38.
8] Reß, Farben, S. 11.
9] Robert Reß: Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung. Ein Mahn- und Weckruf an das deutsche Volk. Dresden: Carl Reißner 1913, S. 214.
10] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 104.
11] Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. Neuwied, Berlin-Spandau: Luchterhand 1961–1964, Bd. III, S. 21 bzw. S. 25.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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