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Jens Cords: Umschlag 	Neue Texte 1

Robert Biedermann

neue texte I
Dichtung und Graphik
Hamburg, Juni 1959


BESUCHTE NOCH EINMAL –

Besuchte noch einmal die alten Stätten,
so wie sie waren, so wie sie sind –
doch spürte ich kaum noch die Glieder der Ketten,
die zu diesen Flüssen und fremdenden Betten
mich einstmals zogen im Gehn oder Wind.

Von keinen Adern mehr blau geblendet,
wenige Farben noch, kahles Geäst –
ich wurde früh von allem abgewendet,
und auch dem Himmel bin ich weit entfremdet,
nur manchmal streift mich ein abstrakter Rest.

Kaum daß ich weiß, was war, als ich begann,
kaum daß ich frage, was mich durchlief –
weniges zeigen mir heute die Wegweiser an:
den Reif der Hänge, das Weiße, die Kälte, und dann:
jener Ebenen Male, die fern und tief.


EIN ZUSTAND

Ein Zustand, der vielleicht zu beschreiben wäre. Und es ist auch der Drang da, ihn zu beschreiben, aber nur innerhalb der Überflüssigkeit selbst. So quält man einiges hervor, bestimmte Züge werden halb beleuchtet, das Ganze dagegen erscheint in um so schieferem Licht. Immerhin, etwas hat sich konkretisiert, man steht nicht mehr so völlig leer und allein vor sich, sondern schrammt um das Schiefe herum.

Das Verhängnis körperlichen Wohlbefindens: man wird gewahr, daß für jede Erschöpfung, Schwere, In-sich-Abgesacktheit man dankbar sein mußte, man konnte sich ins Bett legen und schlafen, oder konnte sich auf diesen Wunsch doch zwingend spannen, hatte also eine unmittelbare Ablenkung. Aber jetzt? Es ist alles abgeloschen und liegt in unheimlich klarem, sich gleichzeitig ergebendem und abstoßendem Licht. Zwischen diesen Antipoden aber gibt es keine Mitte und keinen Übergang: dennoch steht man hier und nirgend anderswo, zu erregt, das widerstandslose Licht ruhig in sich aufzusaugen, zu müde, es zu umfassen.

Auch das Unheimliche ist keine Diskrepanz zu einem selbst: es schließt die Heimat aus, aber wo wäre man zu Hause, wo will man zu Hause sein?

Ein Zustand, in dem selbst das Grauenhafte noch einen willkommenen Inhalt in Form einer Bereitschaft zur Abwehr bedeuten würde. Man selbst ist zuende aber das Bewußtsein thront wie nie zuvor, schluckt auch den letzten Winkel Dunkelheit auf, in den man sich oder doch diesen oder jenen Teil seines Selbst noch bergen könnte. Es ist alles nur allzu klar, es ist alles nur allzu überflüssig. Es dennoch beschreiben? Auch die Schiefe der Beschreibung erstreckt sich nur auf diese Beschreibung selbst, ist rein äußerlich, dringt nicht im mindesten ein, man kann eine Weile sich mit seinem Speichel drankleben, für dessen Verlust man alsbald um so teurer bezahlen wird: indem man trockenen Mundes erlebt, daß sich nichts, aber auch nichts verändert hat, und man weiter steht: nackt, allein und ohne Zusammenhang.

Was nützen Bücher selbst erregenden Inhalts in bezug auf Ablenkung von sich selbst, wenn vorher die eigne Erregung bäuchlings auf den Buchdeckel knallt, und das schwere geringe Bemühen, zu dem man unter Aufbietung der letzten Reserven bis zu völliger Verausgabung noch fähig war, teils zerschmettert liegenbleibt, teils in alle Ewigkeit zurückgeschleudert wird?

Wie ist immer alles vorher bestimmt, nichts neu, nichts plötzlich, als sei von Anbeginn schon alles assimiliert, wie wird auch der leiseste Ansatz für ein Entstehen, ja für die vage Möglichkeit irgendeines Überraschungsmomentes von vornherein ausgeschaltet! Nirgends Isolierungen, alles ist in jedem Augenblick mit allem verbunden, kaum Überhöhungen sind jemals festzustellen – eine Entelechie, die zurücktreibt: wieder in die Verzweiflung hinein. Eine Verzweiflung freilich, in der man nicht steht mit den Händen gegen Wände trommelnd, sondern nur mit blutloser Verwunderung, was man dort schon wieder soll.

Nichts, nichts, völlige Verausgabung, deckungsloses Preisgegebensein, volles Fangen jeden Augenblick! Wie fruchtlos aber dieser Aufwand! (Aufwand?) Nicht die Spur einer Verletzung, eines Nachlassens der Übersicht eines gekrümmten Haares, von Zusammenbruch gar nicht zu reden. Was auch sollte er? Oben dauernd geschlachtet, unten dauernd lebenserneuert (oder umgekehrt), Prometheus am Felsen, hat man schon längst nicht mehr die Kraft, selbst einen Zusammenbruch – und was gäbe es mehr zu wünschen? – als Erlösung zu empfinden. Vielleicht ist man – jenseits aller Kraft, ausgelaugt, wie man ist, und dennoch existierend – ausschließlich deshalb so tragisch gefeit.

Eine psychische Konstitution, die elastisch ist, sich unaufhörlich jagend, zu Tode hetzend, an allen Dingen brechend, namentlich Aquarien, in denen das Sein und die Ruhe schwimmt – eine Konstitution ohne Ruhe, ohne Raum, ohne Entfaltungs- und Verweilungsmöglichkeit, ohne die Spur einer Front der ewig blinden, in sich gleichgültigen, statischen Welt gegenüber – und was wäre notwendiger? –, nur jener immer graue, Schlammassen wälzende, krokodilene, aber in sich vibrierende, mimosenverschwisterte, nuancenzerfleischende Fluß.

Ach wäre Fluch, Zynismus, Hohn, Verfolgung, Haß – man wüßte, wovor man angstzerfressen, schlaflos und bleich in alle Winde flieht. Doch sieht man um sich, wo auch immer, sind die Gefilde leer.

Kaum zu umgehen, was der Drang zu beschreiben verlangt, es sei, man schöbe sich einen zweiten Dolch langsam selbst in den Rücken, anstatt den ursprünglichen zwar nicht herauszuziehen, was unmöglich ist, aber doch eine Weile in eine anästhesierte Zone zu legen.

Wahrlich, man muß froh sein, wenn beispielsweise Vorstehendes reicht, endlich ins Bett zu finden.
 
 

Rechte bei Robert Biedermann