Erstfassung
Klaus M. Rarisch So sollte das Gedicht gelten ... bis sich von Kaarst her Ernst-Jürgen Dreyer einmischte und Klaus M. Rarisch sich ans Ändern machte. Da mischte sich von St. Ives (Cornwall) her Heinz Ohff ein und forderte das Festhalten an der Erstfassung ein. So gehts! Was geht dann im Kopf des Sonettisten vor??? Klaus M. Rarisch suchte das in einem Brief an Heinz Ohff zu verklaren. Und läßt mich mitlesen: Daß Sie so hartnäckig auf »Deep Blue« zurückkommen, freut mich als Beweis Ihres außergewöhnlichen Interesses. Die richtige Betonung ist bereits bei simpler Prosa entscheidend. Beispielsweise lautet die beste Definition für den Begriff »Junggeselle«: Das ist ein Mann, dem zum Glück die Frau fehlt. Der Hauptton KANN entweder auf »Glück« und »Frau« liegen oder auf »fehlt«; dann ergibt sich die gegenteilige Bedeutung. In der Lyrik wird das Problem dadurch komplizierter, daß Metrum und Rhythmus (dieser durch die Betonung gekennzeichnet) divergieren können. In der Erstfassung von »Deep Blue« handelt es sich um die problematischen Verse 4, 5 und 8. Soll der reiche Reim als solcher herauskommen und klingen, muß man betonen: lénken ein / schwénken ein / rénken ein. Wenn man das mit dieser Betonung laut liest, wirkt das Ganze unnatürlich und gekünstelt, weil sich ein klanglich offenbarer Widerspruch zu Vers 1 ergibt, der NUR SO betont werden kann: denken: KLEIN Auch Sie werden zugeben müssen: die Betonung dénken: Klein wäre absolut sinnwidrig. Da aber die Betonung in den miteinander korrespondierenden Reimzeilen 1/4/5/8 übereinstimmen muß und da die richtige Betonung durch Vers 1 unabänderlich festgelegt ist, MUSS ich 4/5/8 so betonen: lenken EIN / schwenken EIN / renken EIN. Dieses dreimalig identische »ein« jedoch, da hat Dreyer recht, wirkt simpel, dumpf, monoton, kurz: unschön. Deshalb habe ich mich von der Notwendigkeit überzeugen lassen, die Quartette zu ändern. KMR spinnt unterm 19. Juli 1997 das Thema weiter aus: Lieber Herr Ohff : ich danke für Ihren Brief und nehme zur Kenntnis, daß Sie nach wie vor an der Erstfassung von DEEP BLUE festhalten. Diese Meinungsverschiedenheit ist so merkwürdig, daß Robert Wohlleben sie auch im Internet verbreitet hat, wie die Beilagen zeigen. Eine Sonett-Regel für die »richtige« Betonung gibt es nicht; diese Feinheiten muß jeder Sonettist für sich selbst begreifen und beherzigen. Daß es aber auf die Betonung ankommt, gilt sogar für klassische deutsche Versdramen wie z. B. für Schillers »Wilhelm Tell«. Ich habe als Zuschauer im Theater erfahren müssen, daß im Laufe meines Lebens von den Schauspielern, denen offenbar während ihrer Ausbildung die Verskunst immer weniger nahegebracht wurde, dementsprechend auch immer sinnwidriger betont wurde. Ich gebe zwei Beispiele aus dem »Tell«, die ziemlich bekannt sind und die zeigen, wie der gute alte Schiller durch falsche Betonung hingerichtet oder sagen wir weniger pathetisch: lächerlich gemacht werden kann. Es handelt sich beim »Tell« um Blankverse, also um fünffüßige ungereimte Jamben. 1.) (Tell zu Ruodi:) Der bráve Mánn denkt án sich sélbst zuLÉTZT Zu diesem berühmten Zitat, das auch im Büchmann steht, ist forma1 zu sagen: Die metrische Betonung KANN hier gar nicht mit der rhythmischen identisch sein, weil das án sinnvollerweise keinen Ton tragen DARF. Vermutlich würde dies auch kein Schauspieler mit intuitivem Sprachgefühl tun. Wer aber mangels einer entsprechenden Belehrung im Schauspielunterricht das metrische Schema nicht erkennt, könnte den Vers für Prosa halten, wo die Betonungen ganz frei sind, und so sprechen: Der bráve Mánn dénkt an SÍCH selbst zuLÉTZT wodurch der Sinn ins Gegenteil des Gemeinten verdreht wäre. 2.) Hier wird nun der Vers dialogisch gebrochen, so daß das Metrum noch schwerer zu erkennen ist: (Geßler zu Tell:) Ist dás dein Knábe, Téll? Hier hat schon Schiller selbst mit dem Metrum Schindluder getrieben; Geßler muß nämlich, entgegen dem Jambus, so betonen: Ist das DÉIN Knabe, Tell? Denn selbstverständlich sieht Geßler, daß er einen Knaben vor sich hat; seine Frage kann also nur darauf zielen, ob Tell der Vater ist. (Tell zu Geßler:) Ja, LÍEber HÉRR. Hier erweist sich Schillers Behandlung des Metrums erneut als Schlamperei, denn der Kern von Tells Antwort ist das »ja«, und dieses ist metrisch unbetont. Welcher durchschnittlich wenig gebildete Schauspieler soll sich da noch zurechtfinden? Ein solcher könnte also Schiller folgendermaßen hinrichten: Ja, LÍEber Herr. womit Tell sagen würde: Da kann man sich als Mann nie ganz sicher sein. Es wäre eine sprecherische Parodie, in der jedoch (armer Verskünstler Schiller!) das metrisch unbetonte »Ja« tatsächlich völlig unbetont bleibt und nur ganz wie nebenbei gesprochen wird. Unsre Kontroverse über »Deep Blue« hat ebenfalls einen formalen Grund. Ich habe nämlich darin ausnahmsweise einen (vierfüßigen) Trochäus verwendet. Das trochäische Metrum ist in der deutschen Verskunst ungebräuchlich; ich erkläre gleich, warum. Es ist wie beim Schach: Verwende ich ungebräuchliche, in der Praxis selten vorkommende Eröffnungsvarianten (wie Kasparow gegen Deep Blue), so erhöht sich mein Risiko. Als Poet habe ich dann ein größeres Risiko, vom Leser mißverstanden zu werden. Der Grund ist ganz einfach darin zu sehen, daß der Jambus sozusagen das natürliche Versmaß ist, weil in der deutschen Sprache die Artikel normalerweise unbetont sind. Ich konstruiere ein didaktisches Beispiel ohne poetischen Wert: Der MANN, die FRAU, das KIND Zu diesem dreifüßigen Jambus schreibt sich die dreifach reich gereimte Antwortzeile quasi von selbst: seht AN, wie BLAU sie SIND! Und das klappt ebenso mühelos auch mit dem unbestimmten Artikel: Ein MANN, ein WEIB, ein KIND wer KANN, der TREIB im WIND. Um nun nicht immer nur auf die armen Schauspieler zu schimpfen, sage ich: Es wäre ebenso wünschenswert, daß man auch den deutschen Jungpoeten die Grundlagen der Metrik beizubringen versuchte, und mit so simplen Beispielen müßte man anfangen. Ich will mit diesen Beispielen Sie nicht zu meiner Meinung über »Deep Blue« bekehren. Aber unser Gedankenaustausch sollte prinzipiell gezeigt haben, daß in der metrischen Poesie sich das Verständnis des Gehalts (bzw. die Bedeutung oder wie immer man das nennen will) vom Begreifen der formalen Aspekte (Reim, Metrum, Rhythmus) gar nicht loslösen läßt. Der Ruin der deutschen Gegenwartslyrik hat seinen Grund darin, daß die Form kaum noch begriffen, geschweige denn beherrscht wird. Alles, was Sie über Hortensien geschrieben haben, glaube ich Ihnen unbesehen. Obwohl ich in Italien einigermaßen zuhause bin, wußte ich nicht, daß die Hortensien dort als Totenblumen gelten. Ich habe mich auf andere Weise blamiert. Als Greenhorn, vor urewigen Zeiten, widerfuhr mir die Ehre, von einer jungen venezianischen Künstlerin in deren Haus eingeladen zu werden. Als ich, mit dem üblichen Blumenstrauß bewaffnet, klingelte, öffnete zu meiner Verblüffung die Mutter der Dame und fragte, für wen die Blumen bestimmt seien. Anstatt zu antworten: Per Lei, Signora, sagte ich dummerweise: Per Sua figlia ... Dieser erste Besuch in dem Hause blieb auch der letzte. Herzlich Ihr KMR RW und KMR über Kasparow und Deep Blue Rechte an den Texten bei Klaus M. Rarisch
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