Kasparow 2

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Ottensen, 16. Mai 1997

Lieber Klaus!

Ich komme mit Deinen vermuteten/unterstellten Oppositionen nicht klar. Computerfreund = Schachfeind? Das wäre die schlichteste. Maschinenintelligenzler = Biotengegner ...? Aber was soll das? Also: Ich versteh die Bemerkung »eigentlich« nicht.

Stimmen tut: Seit inzwischen wohl mehr als 30 Jahren WEIGERE ich mich – wenn dazu gebeten oder aufgefordert –, Schach zu spielen. Grund ist: Vor wohl mehr als 30 Jahren hab ichs als QUÄLEND erlebt, vorm Brett zu sitzen und zu spüren, wie aus den Achseln der Schweiß am mageren Oberkörper abrinnt ... DAS WOLLTE ICH NICHT MEHR. Punkt. – Abstinenz also, aber doch nicht Ablehnung.

Und: Was das »Siegen« oder »Unterliegen« angeht, ist es mir einfach EGAL, ob nun Österreich Ungarn oder Österreich-Ungarn die Generalstaaten oder FC Ottensen den Wittenauer SV BESIEGT ... WER ist denn dieser Kasparow, daß er hätte SIEGEN müssen? Nun magst Du sagen, ich wär ignorant.

Mensch versus Maschine ... ist das denn wirklich ein Problem? Stets haben WIR doch Maschinen erfunden, auf daß sie unsre Begrenztheiten (sollte ich sagen: Borniertheiten?) »lindern« ... Beispiel: Wer eine Sauklaue hat, empfindet schon mal die Schreibmaschine als Segen. Und all die Flaschenzüge, Hydrauliken und Pneumatiken, die uns über unsre angeborne physische Kraftlosigkeit (auch Tarzan fiele noch drunter) hinweghelfen ... müßte deren inzwischen unabstreitbare Unabdingbarkeit nicht dringendst nahelegen, daß VIELLEICHT auch unser mentales Zentralorgan nicht ganz so allvermögend ist, wie wirs vielleicht wünschen?

Und ich möcht fragen: Könnt es nicht IRRIG sein, ausgerechnet SCHACH zum Prüfstein von Über- oder Unterlegenheit zu machen? Nach allem, was ich an mir selbst erlebt und mir bei Ellin (Weiß), Zweig (Schachnovelle) und Nabokov (Luschins Verteidigung) erlesen habe, könnt ich mich fast zu vermuten trauen: Schach ist nicht Leben. Oder wenigstens nicht so ganz.

Den Test auf leere Logik zu bestehen, fangen die Maschinen langsam an (in 5, 10, 15, 20 Jahren würden wir KUCKEN) ... nu, es sind nicht die Maschinen, sondern die ERFINDER!!! Und DIE nämlich haben Kasparow »besiegt«. MENSCHEN also ... insofern verstehe ich Deine Bestürzung nicht.

Aber vom Bestehen des sogenannten Turing-Tests *) ist einstweilen – wohl auch bei DEEP BLUE! – noch keine Rede.

Wahrscheinlich gehts den Maschinen nicht so sehr viel anders als uns, ihren »Erfindern«, die wir etwa hie im Ödipus-, da im Elektrakomplex gefangen sind, von der ganzen Narziß-Syndromatik zu schweigen ... bei den Maschinen ist vielleicht ELIZA *) das Problem.

Fast vergessen: »Computerfreund« bin ich wohl nicht in dem Sinne, daß ich damit automatisch zum »Feind« von etwas anderem würde. Der Computer ist ein Werkzeug. – Dein Schreibwerkzeug ist die Schreibmaschine ... aber damit bist Du doch kein »Schreibmaschinenfreund«!

Gruß!

Dein Robert

Der Türke, Schachautomat von Baron Wolfgang (Farkas) von Kempelen

Berlin-Wittenau, 17. Mai 1997

Lieber Robert –:

Wie es sich für mich gehört, habe ich den Sieg von DEEP BLUE bereits sonettistisch kommentiert. Ich will aber auf Deinen gestrigen Internet-Brief noch argumentativ eingehen.

Sollte ich Dir mit der ironischen Bezeichung »Computerfreund« zu nahe getreten sein, nehme ich das zurück und ersetze es durch die sehr ehrenwerte Titulierung als Computerexperte, der Du – zudem noch auf autodidaktische Weise – geworden bist. Selbstverständlich ist der Computer nur ein Werkzeug, das ich nicht beherrsche, das Dir aber sehr nützlich ist.

Bleibt die Frage der »künstlichen Intelligenz«. Ob der FC Ottensen den Wittenauer SV besiegt oder umgekehrt, wäre nur für Lokalpatrioten interessant. Aber: Mensch gegen Maschine ist von ganz anderem Kaliber, ist keine regionale Frage, sondern ein prinzipielles Problem.

Ellin kenne ich nicht, aber nach meinen bescheidenen Schachkenntnissen besagen Deine anderen Beispiele aus der Literatur wenig. Stefan Zweigs »Schachnovelle« behandelt den absolut unwahrscheinlichen, ans Unmögliche grenzenden Fall, daß ein Autodidakt den Weltmeister schlägt. Autodidaktisch läßt sich, wie gesagt, z.B. die Computertechnik erlernen. Dagegen ist jeder Schachspieler auf die ständige Übung angewiesen, d.h. auf konkrete Spiele gegen reale Gegner, sonst bleibt er für immer ein Schachstümper wie Dein armer Freund K.M.R.; bestenfalls könnte er Clubstärke erlangen, aber niemals die Meisterklasse. Vermutlich war Stefan Zweig selbst nur ein armer Schächer, der die Grundlagen des Spiels nicht richtig einschätzen konnte. Er hat somit das Thema verfehlt.

Anders Vladimir Nabokov. In seinem Roman »Lushins Verteidigung« geht es ausschließlich um die Psychologie eines Schachspielers von Meisterstärke, d.h. um die von vielen Meistern biographisch bezeugte Tatsache, daß es für sie auf der Welt einzig und allein Schach gibt und sonst nichts. Lushin ist – scheinbar absurderweise – nur der Repräsentant des Typus »Schachmeister«; eine außerschachliche Individualität besitzt er nicht. Dafür gibt Nabokov einen versteckt ironischen Hinweis: Erst in den letzten drei Zeilen des ganzen Romans (in meiner Ausgabe auf S. 263), nach dem vollzogenen Selbstmord des Helden, erfährt der Leser die Vornamen Lushins: Alexander Iwanowitsch. Für den Typus Lushin gilt, entgegen Deiner Vermutung: Schach IST Leben.

Du fragst: »WER ist denn dieser Kasparow, daß er hätte SIEGEN müssen?« Ich antworte: Kasparow hätte siegen MÜSSEN, weil er selbst das vorausgesagt hatte. Welche natürliche Intelligenz man einem Weltmeister zubilligen oder bestreiten mag: Daß so einer leichtfertig eine falsche Prognose abgibt und sich damit die größtmögliche Blamage zuzieht, ist nur unter der Prämisse zu erklären, daß sein Gegner, also die Maschine, in kürzester Zeit eine zuvor für unmöglich gehaltene Stärke erlangt hat. Aber wie konnte das passieren?

Die kommerziell höchst cleveren Gruppendynamiker setzen ein Kampfspiel ein, um Skeptiker zu überzeugen und als Klienten zu gewinnen. Es ist ein Überlebensspiel, das auf realen Daten der NASA beruht. Richard Huelsenbeck hatte 1970 in der West-Berliner Akademie der Künste noch behauptet, die Raumfahrt sei eine enorme Geldverschwendung, weil sie ja als einziges Ergebnis nur ein paar Brocken Dreck vom Mond vorzeigen könne. Nun, den gruppendynamischen Geschäftemachern hat dieser gigantische Unsinn schon viel Geld eingebracht, eben durch dieses Mondspiel. Nach einem Raumfahrtunfall auf dem Mond trennen sich zwei Gruppen von, sagen wir, je sechs Leuten. Beide Gruppen sind mit wenigen Werkzeugen ausgestattet, die aber auf dem Mond teilweise anders wirken und anders eingesetzt werden müssen als auf der Erde. Darüber muß nun jede Spielergruppe separat diskutieren und entscheiden, wobei die einzelnen Spieler als Laien von lunaren Bedingungen wenig wissen. Sieger wird die Gruppe, deren Überlebensstrategie sich besser bewährt.

Damit wollen die Gruppendynamiker ihre Hauptthese verifizieren, wonach in einer optimal kooperierenden Gruppe das Resultat der gruppendynamischen Aktivität die Summe der Einzelintelligenzen übersteigen muß, u.a. deswegen, weil im Verlauf der Gruppenberatung falsche oder gar tödliche Vorschläge einzelner Gruppenmitglieder durch überzeugende Argumente anderer Mitglieder annulliert werden können. Das klappte zwar in der Praxis nicht, als ich vor ca. 30 Jahren am Mondspiel teilnahm, aber inzwischen dürfte das Verfahren perfektioniert worden sein.

Aber genau diese These hat jetzt bei DEEP BLUE zum Erfolg geführt. Selbstverständlich wurde auch diese Maschine von Menschen konzipiert und konstruiert, unter anderem von hochintelligenten Programmierern und Schachmeistern. Jeden einzelnen darunter hätte Kasparow mühelos geschlagen, aber selbst wenn die ganze Gruppe zu einer Beratungspartie gegen Kasparow angetreten wäre, hätte sie nicht die geringste Chance gehabt, und darauf beruhte seine voreilige Siegesprognose. Aber die in der Maschine gebündelten Einzelintelligenzen haben einen unvorhersehbaren Qualitätssprung vollführt: hier ist tatsächlich einmal die Quantität in Qualität umgeschlagen. Ob man das nun als »künstliche Intelligenz« bezeichnet, ist eine relativ belanglose Definitionsfrage. Jedenfalls ist die menschliche Intelligenz nunmehr durch das Computer(un)wesen gefährdet, und das darf ich doch beklagen. Oder nicht?

Gruß!

Dein Klaus

*) Turing + Eliza

Rechte bei RW und KMR

NACHTRAG:

Später Vorwurf. Der Schachgroßmeister Garri Kasparow hat knapp zwei Jahre nach seiner Niederlage gegen den Computer »Deep Blue« schwere Vorwürfe gegen die Herstellerfirma IBM erhoben. Der Computer, gegen den er 1997 verloren hatte, sei manipuliert gewesen. »Deep Blue« habe Spielzüge gemacht, die ein Computer als schlecht hätte erkennen müssen. AFP

TAGESSPIEGEL
12. 3. 1999

NOCH EIN NACHTRAG:

Blitzschach während der Spielfilmpause
Noch mehr künstliche Intelligenz
Wer es schon immer einmal am Schachbrett mit Bobby Fischer, Anatoli Karpow oder Gary Kasparow aufnehmen wollte, kann sich dieser Herausforderung am PC stellen. Eines der aufwendigsten neuen Schachprogramme, der »Chessmaster 8000«, simuliert die charakteristischen Spielweisen dieser und anderer Großmeister. Einen ganz anderen Typ von Schachspieler spricht »Virtual Kasparov« an: Hier kann auf der PlayStation eine Runde Blitzschach während der Werbepause des Spielfilms absolviert werden. An Anfänger und Fortgeschrittene richtet sich der Chessmaster 8000, die aktuelle Version des mit mehr als vier Millionen Exemplaren wohl meistverkauften Computerschachspiels.

TAGESSPIEGEL
25. 4. 2001