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Antizyklisch

Sonette

Klaus M. Rarisch: Die Geigerzähler hören auf zu ticken

Ans Herz gelegt
von Günther Emig,
stellvertretender Leiter
der Stadtbücherei Heilbronn


Einem Bibliothekar in einem großstädtischen Bibliothekssystem wie Heilbronn gehen schätzungsweise einige hundert, wenn nicht tausend Neuerscheinungen pro Jahr durch die Hand. Bücher darunter, die unspektakulär, aber nützlich sind: vom Mietrechtsratgeber bis zum Autoreparaturbuch. Solche, die eigentlich so überflüssig sind wie ein Kropf (»Krawatten. Fliegen, Tücher und Schals gekonnt binden«. 48 Seiten, 9,80 DM). Bestseller, bei denen man sich manchmal fragt, zu wieviel Prozent sie nur gekauft/verschenkt und zu wieviel Prozent sie tatsächlich gelesen werden. Mißverständliche oder mißverstandene Geschichten, die das Leben schrieb, wie Betty Mahmoodys Melodram »Nicht ohne meine Tochter«, dessen ungeheurer Erfolg – mein Eindruck – zu einem gut Teil auf einem Vorverständnis/ Mißverständnis der Leser(innen) beruht: einem sehr deutschen Muttergefühl, mit Pseudo-Feminismus angereichert und mit einem latenten Schuß Ausländerfeindlichkeit gewürzt.

Bei all dem Gejage nach dem Neuen möchte man manchmal sagen: Lies doch mal – zum Beispiel – den Dadaisten Walter Serner, wenn du starke Prosa magst: »Der elfte Finger«, »Der Pfiff um die Ecke« oder »Der isabelle Hengst« heißen Bücher von ihm, und sie dürften noch lieferbar sein. Serner, das ist eine Facette der Erzählkunst unseres Jahrhunderts – und nicht die schlechteste.

Oder lies Klaus M. Rarisch, wenn dir nach den locker-flockigen Labergedichten der Siebziger und den assonierenden Reimereien der Achtziger der Sinn nach Form steht, nach einer der strengsten Formen, die die Dichtkunst kennt: das Sonett. (»Form ist Wollust«, heißt es in einem Gedicht des Expressionisten Ernst Stadler aus den Anfängen unseres Jahrhunderts.)

Ich weiß: Rarischs Sammlung aus einem Vierteljahrhundert ist sicher in keiner Buchhandlung vorrätig und wohl auch in kaum einer Bibliothek. (»Wen interessiert das schon?« fragt man hier wie dort – sofern man fragt.) So empfehle ich also gegen alle Konjunktur, gegen die Jahreszeit, die die leichte Urlaubslektüre fordert, gegen den Markt – gegen alle Vernunft Klaus M. Rarisch: Die Geigerzähler hören auf zu ticken. Neunundneunzig Sonette mit einem Selbstkommentar. Robert Wohlleben Verlag, Hamburg 1990. Ganze 500 Exemplare wurden gedruckt. Hoffentlich ist noch eins für Sie da.

Heilbronner Stimme, Nr. 178, 3. 8. 1991