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Selbstkommentar zum Sonett »Immobilieninserat«

Dieses Sonett, geschrieben in Hennef am 5.9.2001, ist durchaus erklärungsbedürftig – und im Grunde mir selbst ein Rätsel. Ich schrieb es nach einem langen nächtlichen Traum, von dem ich beim Aufwachen nur Bruchstücke behalten hatte: Ich besichtigte einen riesigen alten Gebäudekomplex, den man mir zum Kauf anbot; darunter eine große Ruine, die vor vielen Jahren als Hotel oder Theater gedient haben könnte und die ich hätte komplett sanieren lassen müssen. Ich war deshalb skeptisch und wollte nicht kaufen; weiß nur noch, daß die Verkäufer finstere Gestalten waren, die als Erbengemeinschaft als »Ronconitische Gesellschaft« auftraten und mich mit Gewalt zum Kauf drängen wollten ...

Schon im Traum dachte ich an den Regisseur Luca Ronconi und seine glanzvolle Aufführung des »Ignorabimus« von Arno Holz am 18. Mai 1986 in Prato. Das Sonett schrieb ich gleich nach dem Traum. Ich glaubte aber nicht an Zufälle und wollte wissen, was die geheimnisvolle »Gesellschaft« bedeuten könnte. Der Name Ronconi ließ sich ja vielleicht von einem italienischen Begriff ableiten. So fand ich nachträglich, in Berlin, im Wörterbuch merkwürdige Anklänge: ronca = Hippe; roncare = ausjäten; ronco = (l) Sackgasse, (2) Rebenmesser; roncola = Hippe; roncolo = Rebenmesser – alles Vokabeln, die mir im Italienischen vorher noch nie begegnet waren, die aber auf Tod und Zerstörung hindeuten.

Meine Aufgabe beim Sonettieren war es, den Traum einigermaßen zu rationalisieren. Man weiß, daß das Ich des Träumers oft das charakterliche Gegenbild zum Wachenden darstellt. (Deshalb habe ich auch im folgenden Sonett, »Im Turm«, gleich in Vers 1 auf den Wachzustand verwiesen.) Ob mir die Rationalisierung des labyrinthischen Traums gelungen ist, kann ich selbst nicht beurteilen. Ich möchte nur eine mögliche Deutung anbieten:

Das lyrische Ich im Traum ist ein kauziger, weltabgewandter Außenseiter mit dem Hang zur Vergangenheit, zu Ruinen und zum Tode. Er kennt offenbar die Tragödie »Ignorabimus« und faßt sie als Schicksalsdrama einer degenerierten, aussterbenden Familie auf. Er kennt auch Ronconis Versuch, die Tragödie zu verlebendigen. Seiner Meinung nach muß hinter diesem Versuch eine gefährliche Geheimgesellschaft stecken. Von beiden Seiten fühlt er sich angegriffen, gegen beide wehrt er sich. So müssen (Vers 14) die Fehden der Tragödienfamilie geschlichtet werden; die Ronconitische Gesellschaft ist unschädlich zu machen, ist zu richten. Nur weiß er nicht, wer dies vollbringen könnte. Er selbst fühlt sich offenbar zu schwach dazu, vielleicht weil er insgeheim spürt, daß Arno Holz mit seinen Anhängern ihm an Phantasie und Konsequenz weit überlegen ist.

Jedenfalls ist er, wie die meisten Literaturwissenschaftler und Theaterpraktiker, ein entschiedener Gegner von Holz – und damit für mich ein Wahnsinniger. Anders kann ich mir einen solchen Charakter nicht vorstellen. – Wie mein Freund Ernst-Jürgen Dreyer (Brief vom 2.10.2001) sofort bemerkte, entwickelt sich der Wahnsinn des Träumers ganz langsam im Verlauf des Sonetts. Die Verse l und 2 klingen noch vernünftig, könnten tatsächlich in einer Immobilienanzeige stehen. In den folgenden Quartettversen stellt er sich als – vielleicht noch harmlosen – Kauz dar; jedoch die Terzette entlarven ihn als aggressiven Irren.

Ich habe mir hier, ganz gegen meine Gewohnheit, eine höchst hermetische Dunkelheit geleistet. Wenigstens einmal wollte ich auch ein Rätselsonett schreiben.

Klaus M. Rarisch
 

     
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