www.fulgura.de

Klaus M. Rarisch:
Gedanken über ein Gedicht von Arno Holz
 

Über einen alten, scheußlich zerlesenen Schweinslederband gebückt,
aus dessen üblem, finstrem Latein
mich der ganze, gräßlich konzentrierte Irrsinn
von fünf,
heimlich noch immer in uns nachschwelenden, christlichen Jahrhunderten anweht,
habe ich alles um mich vergessen.

Malleus … maleficarum!

Der
Hexenhammer!

Ersticktes Jammern, herzzerreißendes Gestöhn,
Schreie,
dumpfe, unbarmherzige, brunsttolle Henkersgier und –
Blutbrodem!

Von all dem qualvoll Widerlichen wie gebannt, vor innerstem Entsetzen fast gelähmt,
mühsam,
Satz für Satz, Zeile um Zeile,
arbeite ich mich durch das schauerliche Schlußkapitel.

Das leise Geräusch, mit dem ich eine neue Seite umdrehe,
läßt mich, plötzlich,
aufblicken.

Der tiefrote Fenstervorhang,
seltsam lang,
hängt unbeweglich, drohend starr,
voll schwarzer, schwerer, grauser, unheimlichst stummer, gespenstischster Schatten!

Die Lampe
brennt,
von allen Wänden
schweigen um mich … die dunklen Bücher.

Eine kleine Fliege, die noch munter ist,
verirrt sich
in den gelben Lichtkreis.

Sie klettert über den grau verstaubten Büttenrand,
putzt sich die Flügel,
läuft geschäftig drei Finger breit durch das krause Letterngewirr,
stutzt,
duckt sich und tupft mit dem Rüssel auf das Wort:

INFERNO.

Das obenstehende, später als »INFERNO« betitelte Gedicht von Arno Holz (1863–1929) stammt aus seinem Hauptwerk »Phantasus«. Der »Phantasus« ist das größte lyrisch-epische Wortkunstgebilde der deutschen Sprache. Es erstreckt sich in der inzwischen vergriffenen Nachlaßfassung (Arno Holz Werke, herausgegeben von Wilhelm Emrich und Anita Holz, Bd. I–III, Luchterhand Verlag, Neuwied und Berlin 1961/62) über 1587 Seiten im Großformat. Der »Phantasus« enthält u. a. den längsten zusammenhängenden Satz der Weltliteratur, der gesprochen etwa zwei Stunden dauert; eine Tonbandaufnahme dieses Riesensatzes, erschienen 1974 und vorgetragen von Klaus M. Rarisch, ist als Band Nr. 11 im S Press Tonband-Verlag Düsseldorf erhältlich. Am »Phantasus« arbeitete Holz sein halbes Leben lang, wobei er die einzelnen Gedichte immer wieder erweiterte, inhaltlich vertiefte, formal vervollkommnete und schließlich zu dem allumfassenden Poem zusammenfügte, das aus dem Nachlaß des Dichters erst 33 Jahre nach seinem Tode erschien und einem breiteren Leserpublikum noch immer kaum bekannt ist.

Die Erstausgabe des »Phantasus« erschien in zwei dünnen Heften, die nur 108 unpaginierte Seiten enthalten, 1898/99 in Berlin bei Sassenbach. Seit 1968 liegt diese Urfassung in einem Nachdruck in Reclams Universal-Bibliothek (Nr. 8549/50) wieder vor.

In dieser ersten Version (S. 70) ist unser Gedicht ein Siebenzeiler und lautet: »Die Lampe brennt. // Von allen Wänden / schweigen um mich die dunklen Bücher. // Eine kleine Fliege, die noch munter ist, / verirrt sich in den gelben Lichtkreis. // Sie stutzt, duckt sich und tupft mit dem Rüssel auf das Wort // Inferno.« Also ein bloßes impressionistisches Stimmungsbild à la fin de siècle: Momentaufnahme eines muntren Tierchens, das vor dem Auge des Dichters mit einem unangemessen düsteren Wort konfrontiert wird. Nichts von dem ideologiekritischen Hintergrund christlicher Hexenverbrennungen, durch den der Sekundeneindruck erst die gedankliche Tiefenschärfe gewinnt.

Die von uns oben zitierte Fassung stammt aus der seltenen Großfolio-Ausgabe des »Phantasus« im Insel-Verlag (Dresden 1916, S. 218 f.), die heute als Prunkstück aller Bibliophilen zu den meistgesuchten Büchern im Antiquariat gehört. Hier nun wird aus der lyrischen Skizze der Urfassung plötzlich das weltanschauliche Pronunziamento: die zufällige Begegnung der harmlosen Stubenfliege mit der aufgeschlagenen Buchseite wird jetzt erst einsichtig und erhält den notwendigen Bezugspunkt der schaurigen Erinnerung an die Macht der alleinseligmachenden Kirche, an das Inferno auf Erden.

Der berüchtigte »Hexenhammer« (Malleus maleficarum) der Dominikaner Heinrich Institoris und Jakob Sprenger war das Standardwerk für die Inquisitionsgerichte zur Hexenverfolgung. Es erschien 1487 in Köln und erlebte danach mehr als 30 weitere Auflagen, zuletzt in deutscher Übersetzung 1922/23. Ausführliche Informationen darüber bietet Kindlers Literatur Lexikon (dtv-Taschenbuchausgabe 1974, Bd. 14, S. 5952-5954). Wir wissen nicht, ob Holz schon 1898/99 bei der Urfassung des Gedichts an den »Hexenhammer« dachte. Die beiden Textversionen verraten nur, daß Holz als Dichter ursprünglich von dem Stimmungskontrast zwischen Fliege und Inferno ausging, später aber als Denker diesen Gegensatz dialektisch aufhob. Indirekt bezog er sich dabei auf den von ihm in lebenslanger Haßliebe verfolgten Erfolgsschriftsteller Goethe. Der Teufel gilt seit Goethe u. a. als Herr der Fliegen. Mephistopheles bezeichnet sich selbst als »Herr der Ratten und der Mäuse, / Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse« (Faust I, Vers 15l6 f.). Demnach können die Fliegen als Teufelskreaturen gelten. Ist es also nur Zufall, daß bei Holz just eine unscheinbare Fliege auf das Reich ihres Meisters verweist, auf das Inferno?

Arno Holz hat sich zeit seines Lebens mit der Kirche auseinandergesetzt (ausführlich informiert darüber der Beitrag »Arno Holz« von Klaus M. Rarisch in dem Sammelwerk »Das Christentum im Urteil seiner Gegner«, herausgegeben von Karlheinz Deschner, 2. Band, Limes Verlag, Wiesbaden 1971, S. 51-67); an dieser Stelle wird darauf noch zurückzukommen sein. Hier sei nur erwähnt, daß sein Gedicht »INFERNO« in der Nachlaßfassung formal erheblich erweitert wurde (Luchterhand-Ausgabe, Bd. I, S. 434-437). Von inhaltlicher Bedeutung ist lediglich, daß Holz in dieser letzten Ausformung die »christlichen Jahrhunderte« in Anführungszeichen setzte, um damit zu betonen, daß neutestamentliche Theorie und kirchliche Praxis unvereinbar sind. Solange die Kirche die Existenz des Teufels propagiert – und wie sollte sie nicht! –, kann ihre Reaktion auf das vermeintlich dämonische Ketzer- und Hexenwesen nur zwei Alternativen zulassen; entweder den Ketzer nach der Anleitung des »Hexenhammers« auszurotten oder ihn nach dem Rituale Romanum von seinen Dämonen zu befreien. Schließen wir also zu dieser letzten, scheinbar »menschlicheren« Methode mit dem Zitat eines anonymen Humanisten aus der Reformationszeit:

 

Ihr Christen, frohgemute, grämliche,
die Ihr vom Teufel Euch besessen wißt,
lernt, daß der Exorzist der nämliche:
der Teufel, den er austreibt, selber ist!

Erschienen in
Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ)
Berlin
Nr. 4/1976



 


Rechte bei Klaus M. Rarisch