Eindreiviertel Stunden |
Unmittelbar zuvor das Tonband 10: |
Der Holz-Text gehört der sperrigen Endfassung des Lyrikzyklus »Phantasus« an. Erkennt man die Marktlage, hält man wohl die Luft an: Der Große »Phantasus« in drei Bänden der siebenbändigen Ausgabe »Werke« (Luchterhand) ist teuer und kaum wirklich präsent. Daneben gibt es von Arno Holz als alleinigem Verfasser nur den barockisierenden »Dafnis« (dtv) und eine Faksimileausgabe der »Phantasus«-Erstfassung (Reclam). Zumal die 99 kleinen Gedichte des Erst-»Phantasus« mögen dann eine weitere Beschäftigung mit Arno Holz gar blockieren, da sie oberflächlich die landläufige Gleichung »Arno Holz = Mittelachsenlyrik = Phantasus« so glatt erfüllen. Ein übriges tut vielleicht Gerhard Schulz, wenn er am Ende seines Herausgeber-Nachwortes zum Reclam-»Phantasus« sozusagen den »ganzen Holz« verspricht: »So sind die frühen Phantasus-Gedichte eigentlich das Vollendetste, was Holz als Lyriker geschaffen hat.« Als ob tatsächlich die Erstfassung des »Phantasus« mit den späteren Fassungen zu vergleichen wäre! Die genauere Beschäftigung mit dem Holzschen Werk ergibt vielmehr, daß es in zwei grundverschiedenen Phasen entstanden ist. Die erste Phase ging ungefähr mit Holzens viertem Lebensjahrzehnt zu Ende; gegen Ende dieser Phase legte er Erst-»Phantasus« (1898/99) und »Dafnis« (1903) vor. Das Arbeitsprinzip auf eine grobe Formel gebracht, ging es Holz darum, Sachverhalte und Bilder zum passenden Wort kommen zu lassen, mehr oder weniger Kurzformen waren das Ergebnis. Im fünften Lebensjahrzehnt vollzieht sich jedoch unter großen Schwierigkeiten eine tiefgreifende Umorientierung, nach deren Abschluß nun die Wörter zu den Bildern kommen, und sind sie nicht willig, mit Gewalt (d. h. zur Not mit Wörterbüchern u. dgl.) dorthin getrieben werden, und zwar auch gleich in hellen Haufen. 1912 beginnt Holz erneut mit der Arbeit am »Phantasus« und bleibt bis zu seinem Tode dabei. Die hundert Gedichte der Erstfassung sind für den nun entstehenden neuen »Phantasus« aber meist nicht mehr als ein dünner motivischer Rahmen, der völlig neu mit Wortmaterial ausgefüllt wird. Überaus bezeichnend ist »Das Tausendundzweite Märchen«, dem der »längste Satz der Weltliteratur« entstammt: 15 Zeilen der Erstfassung stehen 460 Druckseiten der Endfassung gegenüber, beide Fassungen beginnen und enden mit denselben Worten. »Das Tausendundzweite Märchen« ist ein voyage autour de la chambre. Um »das schönste Kind in Trans-Sphäranien« zu gewinnen, muß der Held 13 monströse Gerichte vertilgen. Der »längste Satz der Weltliteratur« ist sein Bewußtseinsstrom, während er sich zum dritten Gang überwindet (»Tausendfüßer à la Tartare«). Thema ist die Ausgestaltung des Palastes dieser Schönen. Dabei setzt es ein furioses name-dropping kreuz und quer durch Kultur- und Geistesgeschichte von Orient und Okzident, die Namen immer wieder Anlaß zu zupackenden Miniaturen, die in raschen Schnitten den Durchblick auf den jeweiligen Hintergrund öffnen: Arno Holz bringt die Wörter zu den Bildern, und wie! Die Leistung des Textes besteht nicht zuletzt darin, daß die semantische Dimension des einzelnen Wortes in dieser Legion von Wörtern einen Sog ausübt, der den Leser und um ein Vielfaches mehr noch den Hörer von Wort zu Wort und von Evokation zu Evokation in eine vehemente Bewegung durch einen sehr weiten vieldimensionalen Raum reißt. So ist Arno Holz im Großen »Phantasus« wirklich »Vater Arno Holz«, wie Helmut Heißenbüttel ihn vom Standpunkt moderner Literatur her nannte. Im Erst-»Phantasus« dagegen ist er »Großvater« (was kein Qualitätsurteil ist), trotz mancher Vorwegnahmen, z. B. Gottfried Bennscher Töne. Vor dem Holz-Tonband der Edition S Press müßte also eigentlich gewarnt werden: Vorsicht! Sprache! Das ist auch dem Sprecher (das Wort reicht nicht aus) zu verdanken, Klaus M. Rarisch, der über die phantastisch vielen Register verfügt, die der Text für eine authentische Wiedergabe erfordert. Als Ultimist und Mitwirkender an der Zeitschrift »Total« war Klaus M. Rarisch vor einer Weile jakobinisch umtreibender Aktivist der Berliner Literaturszene. Auch heute noch ist er stets auf dem Sprung, mit blanker Schreibmaschine gefährdete Posten literarischer Rechtlichkeit freizukämpfen (zu entsetzen, im militärischen Verstande), vorzugsweise wenn Amo Holz tangiert ist. Mehr als 200mal hat Rarisch öffentlich gelesen, man merkt die Erfahrung: Er verhebt sich nicht am starken Text, sein Vortrag hat Drive. Robert Wohlleben die horen, Nr. 94, Sommer 1974, S. 59 f. |
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(nicht ganz vollständig)