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Walter Mehring

Walter Mehring

im Interview
mit Klaus M. Rarisch


Am 29. April 1896 in Berlin geboren, in Berlin, das einmal ein wirkliches Kulturzentrum ohne pseudoliterarische EsPeDe-Wahlkämpfer und Senatssubventionen war, wird er demnächst 80, einsam in der Schweiz oder wieder auf einer der gewohnten Vortragsreisen: Walter Mehring, der letzte Überlebende aus der Phalanx der scharfen Zeitkritiker der Zwanziger Jahre, der Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Richard Huelsenbeck und wie sie alle heißen. Grund genug, an ihn zu erinnern, dem Heinrich Albertz, als er noch Regierender Bürgermeister von Berlin war, in einer offiziellen Laudatio den »größten deutschen Dichter« als Vorbild anempfahl: nicht Goethe, wie der Laie und wie auch Mehring vermutete, sondern – Martin Luther. Unter dem Titel »Gott zum Discountpreis« veröffentlichte Klaus M. Rarisch in der inzwischen eingestellten Literaturzeitschrift total (Nr. 16/1968) ein Interview mit Mehring, das hier, leicht gekürzt, wieder abgedruckt wird, zumal es nicht an Aktualität verloren hat und gleichzeitig als Programm für die künftigen Beiträge der vorliegenden Serie dienen kann. Oskar Panizza, Carl Einstein, die Expressionisten, Dadaisten und nicht zuletzt die Ultimisten sollen an dieser Stelle präsentiert werden. Mehring kennt sie alle. Zu ihnen, nicht zu Goethe oder Martin Luther, bekennt er sich; und wir, als von seinen Versen Betroffene, bekennen uns zu ihm: Salut, Walter Mehring!

Rarisch: Herr Mehring, im »Dada-Almanach« von 1920 sind Sie mit einem Couplet »Berlin simultan« vertreten; es ist übrigens nicht identisch mit dem gleichnamigen Gedicht aus dem »Neuen Ketzerbrevier«. Im »Ultimistischen Almanach« von 1965 ist von Ihnen ein Simultansong veröffentlicht, ein »Wettrennen zwischen Schreibmaschine und Nähmaschine« – zwischen Ihnen und George Grosz. Es ist die Dokumentation einer Dada-Matinee von 1918 und entspricht in der Form dem, was wir heute als Happening bezeichnen würden. Das zeigt, daß Sie unter persönlichem Einsatz damals im Dadaismus eine führende Rolle gespielt haben; nur leider erfährt man davon in Ihrem Buch »Berlin-Dada« zuwenig. Uns würde interessieren, wie Sie nun Ihre ganz persönliche Rolle innerhalb des Dadaismus beurteilen.

Mehring: Das müßte ich nun allerdings meinen Freunden Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann überlassen, die sich untereinander wieder nicht ganz einig sind. Sie sollten es beurteilen, welche Rolle ich gespielt habe; ich selber kann meine Rolle ja nicht festlegen. »Berlin simultan«, so hieß der zweite Gedichtband, den ich herausbrachte, der aber – im Kaemmerer Verlag 1919 – unter dem Titel »Das Politische Cabaret« erschien. Ich habe nie ein politisches Cabaret gegründet; »Berlin simultan« wurde von dem Verlag abgelehnt, »simultan« schien zu provokatorisch, zu einseitig dadaistisch damals. Heute hat man sich daran gewöhnt.

Rarisch: Wir schlagen hier die letzte Seite Ihres »Neuen Ketzerbreviers« in der Taschenbuchausgabe (dtv Nr. 353) auf und finden da eine Bibliographie der Versbände. Da ist der Band, den Sie eben erwähnten, als erster genannt, und zwar mit der Angabe »konfisziert zweite Auflage«. Das war 1919. Und weiter 1924: »Europäische Nächte – Eine Zeitrevue« – beschlagnahmt in Sachsen und Thüringen, vor der Aufführung in Wien vom Magistrat verboten. Diese Verbote und Konfiskationen zeigen, daß Sie mit der Obrigkeit in starkem Konflikt standen. Könnten Sie uns das erläutern?

Mehring: Ja, ich war schon 1919 mit der Obrigkeit im Konflikt. Das erste war ein Prozeß gegen unsere Zeitschrift »Jedermann sein eigener Fußball«. Der Herausgeber und ich, wir stritten uns um die Ehre, wer von uns zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt werden sollte. Durch das Eingreifen aber von Gottfried Benn als Sachverständigem wurden wir davor noch bewahrt. Ich wurde dann noch ein paarmal verfolgt …

Rarisch: Soweit wir wissen, ist das Gutachten, das Gottfried Benn in diesem Prozeß abgegeben hat, verloren gegangen.

Mehring: Es ist leider verloren gegangen. Dann wurden George Grosz und ich während des Kapp-Putsches verfolgt und sollten verhaftet werden. Wir retteten uns nur durch einen schlauen Schachzug von Grosz. Es kamen ein Offizier und zehn Mann in sein Atelier, um uns festzunehmen, und fragten George Grosz: »Kennen Sie den Zeichner Grosz?« »Ich kenne keine Zeichner«, sagte Grosz, »ich bin kein Künstler.« Er hatte nämlich damals noch einen falschen Ausweis, den ihm ein im Ersten Weltkrieg gefallener Kollege vermacht hatte.

Rarisch: Die Zeitrevue »Europäische Nächte«, die nach dieser Anmerkung in Wien aufgeführt werden sollte und dort verboten wurde – : was war nun der Stein des Anstoßes in dieser Revue? Was warf man Ihnen vor?

Mehring: Ich könnte sagen, wie man früher im deutschen Militär sagte: die ganze Richtung paßte ihnen nicht. Es war alles darin: Unsittlichkeit, Gotteslästerung und Beleidigung der Behörden. Ich muß betonen, daß meine Zwistigkeiten mit den Regierungen schon aus der Weimarer Zeit stammten. Ich war z. B. – ich kann es heute offen sagen – auch gegen den Feldmarschall Hindenburg, und auch das hat mir einige Unannehmlichkeiten eingetragen. Und dann gegen – wie hieß er doch? Ich glaube, Adolf Hitler.

Rarisch: Wie sehen Sie das Problem der Gotteslästerung? Haben Sie da einen Kontrahenten, den Sie überhaupt lästern können?

Mehring: Das war die Schwierigkeit. Der Kontrahent, also der eigentlich Beleidigte, hat sich in den drei Prozessen, die ich hatte, nie gemeldet, nie zum Wort gemeldet. Ich hatte ja einmal seine Vorladung beantragt, aber er hat ihr nicht stattgegeben.

Rarisch: Sie haben ja auch, als Grosz wegen seiner Zeichnung »Christus mit der Gasmaske« verurteilt wurde, ein satirisches Weihnachtslied geschrieben, das wir jetzt im »Ketzerbrevier« wiederfinden. Und da haben Sie als wesentlichen Punkt herausgestellt, daß der Beleidigte, also Gott, doch dann durch Zahlung von 2000 Mark relativ schnell zufrieden gestellt wurde.

Mehring: Ich würde nicht sagen Gott, sondern sein damals in Preußen-Deutschland zuständiger Stellvertreter.

Rarisch: Vielleicht können wir hier den Schluß dieses Gedichtes zitieren: »Wir seynnd durch Deynen glauben starck / Wer schwach ist zahlt zweytausend marck / In Deynem Namen / Amen!« – Was meinen Sie damit?

Mehring: Ich meine damit, daß ich für mehr als nur eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse, wie sie nun einmal so oder so-so sind, bin, sondern für eine Abschaffung. Eine Abschaffung des Kapitals - da stimme ich gern zu, denn ich habe keines. Abschaffung der Sklaverei – die scheint mir nicht möglich ohne Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. Abschaffung der Armut – aber ich halte Konzentrationslager und Atombomben nicht für das geeignete Mittel.

Rarisch: Und Sie sind sich dessen bewußt – weil Sie von der allgemeinen Wehrpflicht ausgingen –, daß z. B. in der Bundesrepublik Deutschland die Kirche einen Seelsorgevertrag mit der Truppe geschlossen hat, daß wir wieder Wehrmachtspfarrer haben, genau wie früher.

Mehring: Ich möchte mich hier – ich bin ja Ausländer, gewordener Ausländer – in diese internen Angelegenheiten nicht einmischen, aber das scheint mir nicht nur in der Bundesrepublik so zu sein, sondern auch jenseits der Mauer. Ich sehe keinen großen Unterschied. Wahrscheinlich braucht die Menschheit eine Religion, oder sie hat es immer gebraucht. Und es gibt ja auch den Reliquienkult sogar in Sowjetrußland, obgleich man sagt, daß ein Nachleben nach dem Tode nicht existiere.

Rarisch: Wir haben ja ein Beispiel, das vor allem durch Ihre literarische Tätigkeit wieder ins allgemeine Bewußtsein gerückt wurde. Ich meine damit, Sie haben in Ihrem Buch »Die verlorene Bibliothek« den Fall Oskar Panizza eindringlich beschrieben, d. h. den Fall eines Schriftstellers, der von der Staatsmacht mit der Ideologie der Kirche im Hintergrund in seiner Existenz und auch physisch vernichtet wurde. Diese Passage in Ihrer »Verlorenen Bibliothek« hat im übrigen Literaturgeschichte gemacht. Der französische Professor Bréjoux hat Ihr Buch gelesen, hat daraufhin das »Liebeskonzil« von Panizza meisterhaft übersetzt; es ist mit einem Vorwort von André Breton in Frankreich erschienen (und später in Paris erfolgreich aufgeführt worden). Dann hat es ein junger deutscher Verleger, Petersen, entdeckt und in Deutschland vor einigen Jahren in einer Faksimile-Ausgabe neu herausgebracht, während das Buch vorher nur zu hohen Preisen im Antiquariat zu haben war. Diese Neuausgabe wurde von der Staatsanwaltschaft etwa ein Jahr lang beschlagnahmt; man sah dann aber von der Eröffnung eines Verfahrens ab. Sehen Sie das Schicksal des Autors Panizza und des Buches »Das Liebeskonzil« als symptomatisch an?

Mehring: Symptomatisch nicht nur für Deutschland, sondern eigentlich für überall. Panizza, bewundert von Wedekind und seinem Kreis, wurde wegen Gotteslästerung zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt und nachher von seiner Familie – übrigens war das ein Parallelfall zu Marquis de Sade – ins Irrenhaus gesteckt, lebenslänglich. Es ist das Schicksal, das zeigt, daß nachher die außerordentliche Wirksamkeit des Autors ihn überlebt, gegen den Willen aller Autoritäten und gegen den sogenannt »guten Geschmack« der Rechtdenkenden, die es von jeher und bis heute gegeben hat.

Rarisch: In ähnlicher Weise wurde in der Weimarer Republik das Drama »Die schlimme Botschaft« von Carl Einstein verboten. Sie haben ja mit Einstein zusammen die schon erwähnte Zeitschrift »Jedermann sein eigener Fußball« herausgegeben.

Mehring: Gerade da wurde ich wegen Beleidigung der Reichswehr verurteilt. Es kam dann eine neue satirische Zeitschrift, die George Grosz hauptsächlich bebildert hat. Als wir darüber berieten, welchen Titel sie haben solle, sagte Carl Einstein: »Die Pleite«, denn dann würde in den Zeitungen stehen: Die deutsche Regierung hat die Pleite verboten. Und so geschah es.

Rarisch: Sie sind dann später in Frankreich weiter mit Carl Einstein in Verbindung geblieben. Carl Einstein wurde ein Opfer Hitlers; er hat Deutschland nicht wiedergesehen, während Sie nun auf Umwegen und als Gast nach Deutschland zurückgekommen sind. Glauben Sie, daß die Erlebnisse, die Sie im Exil, in der Emigration durchmachen mußten, Sie zu einem anderen Urteil über Deutschland geführt haben, oder haben Sie das Urteil, das Sie sich schon vor 1933 über die deutschen Verhältnisse und die deutsche Mentalität gebildet hatten, dadurch nur bestätigt gefunden?

Mehring: Das Exil war für mich überhaupt kein außergewöhnliches Erlebnis. Heinrich Mann schrieb mir einmal, als wir im Exil waren, auf einer Postkarte: »Sie hatten Hitler nicht erst nötig, um zu dem zu kommen, was Sie heute sind.« Mir scheint das Exil ein Zwischenfall zu sein. Er hat mich in meinem Urteil weder über die Welt noch über Deutschland in irgendeiner Weise beeinflußt oder hat es abgeändert. Mein entscheidendes Erlebnis hatte ich am 29. April 1896, als ich auf diese Welt kam.

Rarisch: In literarischen Lexika wird u. a. erwähnt, daß Sie Mitglied der deutschen Akademie für Dichtung und Sprache sind. Würden Sie daraus schließen, daß Ihr Schreiben, Ihre Literatur jetzt akademisch geworden sei?

Mehring: Das wäre allerdings furchtbar. Ich hoffe, nicht. Ich bin eines Tages in diese würdige Akademie für Darmstadt – oh Verzeihung: für Dichtung und Sprache hineingewählt worden. Mitglied bin ich nirgends und war auch niemals Mitglied irgendeiner Gruppe, wie immer sie sich genannt hat.

Rarisch: Und würden Sie die Gruppe 47, die ja in der deutschen Nachkriegsliteratur eine bestimmte Position innehat, schon aus dem Grunde ablehnen, weil Sie in keine Gruppe jemals eingetreten sind, oder gibt es eventuell noch andere Gesichtspunkte, wie man diese Gruppe beurteilen kann?

Mehring: Ich lehne die Gruppe 47 gar nicht ab; ich lehne ja überhaupt keine Gruppen ab. Ich bin in der Beziehung der Meinung des Fridericus Rex, obgleich ich in anderen Dingen nicht mit ihm übereinstimme: es soll jeder nach seiner Fasson selig … also man könnte hier sagen: weltberühmt werden.

Erschienen in
Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ)
Berlin
Nr. 1/1976



 


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