Die Lyrik des Quietismus Liest man wieder einmal eine Gedichtauswahl aus vergangenen Zeiten, beispielsweise die ehemals sehr populäre Sammlung »Moderne Deutsche Lyrik«, herausgegeben von Hans Benzmann (1903), so findet man darin ein breites Spektrum der mannigfaltigsten Tendenzen, von der Exklusivität eines Stefan George bis zu dem auf Treffsicherheit, Eindeutigkeit und Unmißverständlichkeit gerichteten Stilwillen eines Arno Holz kurz man findet individuell geprägte, den aufnahmebereiten Leser prägende Persönlichkeiten. Nicht finden wird man (von den unvermeidlichen Epigonen abgesehen): sprachliche Uniformität, Monotonie der Metaphern und Gedankenleere. Wer dergleichen sucht, lese deutschsprachige Gedichte der Gegenwart. Er wird sich dazu allerdings mit Engelsgeduld wappnen müssen, um nicht spätestens auf Seite 29 einzuschlafen wie der Teufel in Grabbes Komödie »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« bei der Lektüre von Klopstocks »Messias«. Braucht man aber kein Schlafmittel, so lasse man die modernen Gedichtbände im Regal des Buchhändlers verstauben, wenn sie da überhaupt noch stehen, denn das allgemeine Desinteresse der Kunden als Reaktion auf den Ruin der Lyrik hat zwangsläufig dazu geführt, daß der Buchhandel derart Unverkäufliches eben nicht mehr »führt«, geschweige denn sich »fürsoglich« werbend dafür einsetzt. Den Ruin der Lyrik können weder die Lobreden korrupter Kritiker noch die Füllhörner privater und öffentlicher Literaturpreise bemänteln oder gar abwenden, denn: »Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen«. Dieser Ruin ist wie Arbeitslosigkeit oder Kirchentreue, um andere gesellschaftliche Phänomene zu nennen kein unabwendbares Naturereignis, sondern das Resultat historischer Prozesse und handfester Interessen, die im Falle der Lyrik vor allem durch die Manipulationspraktiker der Gruppe 47 mit ihrer eitlen Kahlschlagideologie ins Werk gesetzt und artikuliert worden sind. (Wer sich näher darüber informieren will, findet Hinweise dazu in dem Aufsatz des Verfassers »Vom Ausverkauf der Poesie«, in: IG Papier & Schreibmaschine. Junge Autoren zur Lage ... die Lage junger Autoren, Starnberg 1973). Man müßte einmal eine zeitgenössische Gedichtsammlung ohne Nennung der einzelnen Lyriker zusammenstellen, nur daß dies auf urheberrechtliche Schwierigkeiten stoßen würde. Ginge es aber, so könnte niemand mehr die anonymen Autoren voneinander unterscheiden. Ob Mann oder Frau, ob Bundesrepublikaner, DDR-Bürger, Österreicher oder Schweizer die Modedichter würden sich als graues Kollektiv der Austauschbarkeit und Entpersönlichung präsentieren. Als Beweis für diese Behauptung mag die nachfolgende Collage dienen, die Quintessenz aus mehr als 2000 Seiten deutschsprachiger Lyrik der Gegenwart, entnommen aus weitverbreiteten, meist als Taschenbuch veröffentlichten Gedichtsammlungen und bezogen auf das bezeichnende Wortfeld der Stille und des Schweigens. Es wird vielleicht manchen erstaunen, darin einige »große« Namen zu finden, aber darauf kommt es nicht an. Gewiß gibt es unter der eher zufälligen Auswahl dieser 87 Lyriker solche, die eine Tendenz initiiert, solche, die sie perfektioniert, und solche, die sie als Nachahmer bestätigt haben. Worauf es hier ankommt, ist einzig die herrschende Tendenz, und das ist die zum Quietismus, zum Streben nach gottseliger Ruhe. Selbst die wenigen Autoren, die offenbar darunter leiden, mucken dagegen nur zaghaft (und übrigens in fünffüßigen Jamben!) auf: |
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Ich raschle planlos mit der Lorbeerzunge,
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Warum lieben diese entsetzlich Stillen im Lande, diese »teutschen Tichter«, den Flüsterton, das Raunen, die Beschwörung, das leise Murmeln der Wahrsagerei? Warum schwören sie »zerschwiegene Schwüre«, warum legen sie feierliche Gelübde ab, »das Maul zu halten«? Nur um den Schwur im nächsten Vers zu brechen, nur um wieder »herumzusalbadern«? Das wohl nicht. Was immer sie wahrsagen wollen: jede Wahrheit verschweigen sie. Was immer sie raunend beschwören: es ist nicht zu fassen. Sie lassen die Muscheln rauschen, den Greis aufs stimmlose Meer hinausgehen, sie schweigen unter Pflaumen-, Nuß- und Kastanienbäumen, und wenn sie »Störgeräusche« jaulen hören, so haben sie immer einen, der leise flüstert: »Blasphemie!« und mit seinem leisen Flüstern nur einen Pleonasmus liefert, eine überflüssige Häufung sinnverwandter Worte. Sie sind Ästheten, ihnen genügt zum Religionsersatz die rituelle Gebärde. Den Glaubensinhalt überlassen sie dem dummen Pöbel, der ihr Schweigen nicht deuten kann und der, von ihnen schmählich im Stich gelassen, sein Heil, sein Opium wiederum bei handfesteren Institutionen suchen muß und so zwangsläufig in den Schoß der Alleinseligmachenden zurückkriecht. Einst haben die Künste und nicht zuletzt die Lyrik sich von der Kirche die Kompetenz für die seelischen Bedürfnisse der Menschen erstritten. Heute danach befragt, antworten die Dichter nicht mehr. Sie flüchten in den Kult des Atemlosen, Lautlosen, Wortlosen, Sprachlosen. Haben sie uns noch etwas zu sagen? |
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RUHE IST DIE ERSTE DICHTERPFLICHT Eine stille Zeit. Schlafenszeit! (l) Man muß bescheidener werden. (4) Wo endet das Atemlose? (7) ich raschle planlos Ich weiß nicht, ob es gut war, Ohne Stimme dreh dich lautlos, (10) Ich schweige. Ich schweige, leg mir den Hausrock um. (24) Nichts mehr sag ich dir: jede Wahrheit Aha! die Zunge ist es, Mir fehlen endlich die Worte. Du füllst, weiche Stelle der Welt, Die Rastlosen Deine Ruhe, Gib keine Antwort. (36) jemand schweigt Stumm ging der Greis aufs Meer hinaus. (45) und dann die große Stille Wir essen die Äpfel der Stummen. (48) Mit Taubheit rüstet sich das Ohr, (51) Der Moment Zufriedenheit ruhig, das will Weile haben, Sie schweigt ud schweigt Den Abend beschwören, Gebt Ruh, ihr, Stumm zogen sie weiter, (6) heiteres Lächeln Zauberzeichen, an den niedrigen Himmel sich der taster tastet: schweigen (60) Unter der Wurzel der Distel Ins Unhörbare nicht diese Wortbegier! (31) Vergessen: Sprache (78) Die Weisheit der unausgesprochenen Worte Zuvor sie senkten oh und die sorgsame stille der hände, (83) verhört in den Gehegen, ist es so still, (86) |
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Die Zitate stammen aus folgenden Anthologien: Erschienen in |
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