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Gelingen und Ideal
Oder: Sonett und Mainstream
Sonettologische Replik auf Thesen Rüdiger Ganslandts

Mein prinzipielles Wort zum Sonett stammt vom August 1982 und wurde acht Jahre später, im Sommer 1990, in meinen Buch GEIGERZÄHLER (S. 108-143) erstmals veröffentlicht. Vorher gab es dafür keine Publikationsmöglichkeit. Schon diese enorme Spanne zwischen Niederschrift und Druck eines sonettpoetologischen Grundsatzessays beweist: Das deutsche Gegenwartssonett steht außerhalb jeder mafiahörigen Moderichtung im Literaturbetrieb. Ein «Mainstream», gleich welcher Art, existiert für das Sonett derzeit nicht. In fast allen Anthologion moderner Lyrik führt das Sonett ein Schattendasein.

Die Tatsache, daß in den letzten Jahren zahlreiche Sonette von Zelebritäten wie Ulla Hahn, Peter Maiwald, Wolf Biermann, Günter Grass usw. in großer Auflage gedruckt und in den Mafia-Medien (FAZ, ZEIT etc.) gefeiert worden sind, ist nur ein Symptom dafür, daß die betreffenden Autoren und ihre Manager (Reich-Ranicki mit seinen professoralen und journalistischen Handlangern) unter starken Legitimationsdruck geraten sind: sie glauben, sich durch den Rückgriff auf die von ihnen nicht beherrschte Sonettform vom Verdacht der Scharlatenerie und Stümperei befreien zu können. Tatsächlich aber bestätigen ihre Pseudo-Sonette diesen Verdacht und lassen ihn zur Gewißheit werden. Diesbezügliche Detailanalysen von mir liegen vor, konnten aber bisher nicht veröffentlicht werden.

Rüdiger Ganslandt ventiliert die Frage einer «globalen Perspektive» und meint damit, sofern ich ihn richtig verstehe, die realhistorischen Bedingungen der Sonettproduktion. Hierzu zitiere ich das Motto, das Hans Pfitzner seinem Hauptwerk, der Musikalischen Legende «Palestrina», 1916 vorangestellt hat:

    Jenem rein intellektuellen Leben des Einzelnen entspricht ein eben solches des Ganzen der Menschheit, deren reales Leben ja ebenfalls im Willen liegt – – Dieses rein intellektuelle Leben der Menschheit besteht in ihrer fortschreitenden Erkenntnis mittelst der Wissenschaften, und in der Vervollkommnung der Künste, welche Beide, Menschenalter und Jahrhunderte hindurch, sich langsam fortsetzen, und zu denen ihren Beitrag liefernd, die einzelnen Geschlechter vorübereilen. Dieses intellektuelle Leben schwebt, wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gährung entwickelnder wohlriechender Duft über dem weltlichen Treiben, dem eigentlich realen, vom Willen geführten Leben der Völker, und neben der Weltgeschichte geht schuldlos und nicht blutbefleckt die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste. Arthur Schopenhauer

Ich stelle fast: Das «perfekte Sonett» ist ein unerreichbares Ideal, eine fixe Idee, ein Phantom (vgl. GEIGERZÄHLER S. 125 ff.). Das gelungene Sonett charakterisiert sich durch die ästhetische Tendenz, den unüberbrückbaren Abstand zur Vollkommenheit (das «minus x» in der Terminologie von Arno Holz) zu minimieren. Die Entwicklung des individuellen Sonettisten ist daran zu messen, inwieweit dieser Abstand in Laufe seiner lebenslangen Sonettproduktion sukzessive geringer wird, auch wenn – wie gesagt – der Wert «x» niemals Null erreichen kann. Schätzungsweise 90 % aller Sonette, auch der besten Dichter, spielen dabei keine Rolle, denn das gelungene Sonett ist immer der seltene Glücks- und Ausnahmefall. Historische und soziale Rahmenbedingungen sind für diesen Glücksfall irrelevant. Oder anders gesagt: ambitioniertes Sonettieren vollzieht sich nicht «in Krisenzeiten», wie Ganslandt meint, sondern vor dem Hintergrund einer permanenten Krise, die aus der Divergenz zwischen Ansprüchen der Sonettform einerseits und der Rezeptionsfähigkeit und -bereitschaft selbst des avancierten Lesers auf der anderen Seite resultiert.

So nützlich die Frage nach dem Wert der Brechtschen Sonette auch sein mag – weit wichtiger wäre es, den Problemkomplex ursachenanalytisch zu untersuchen, warum Rilkes Sonette größtenteils mißlungen sind und dennoch maßlos überschätzt werden oder warum so genuine Lyriker des 20. Jahrhunderts wie Arno Holz und Gottfried Benn nicht sonettiert haben. Ferner vermisse ich in Ganslandts Überlegungen den Hinweis auf die letzte Blütezeit des deutschen Sonetts, auf den Expressionismus mit Georg Heym an der Spitze.

Die Frage, ob und inwiefern sich das Verhältnis von Literaten und ihrem Publikum «umformiert» (Stichwort: 68er Generation), halte ich in unserem Kontext für belanglos. Denn der Sonettist schreibt nicht mit Blick auf potentielle Leser, mit deren Verständnis er zu Lebzeiten ohnehin nicht rechnen kann. In der Praxis produziert der Sonettist entweder für die Schublade oder, bestenfalls, für eine Buchauflage von 500 Exemplaren, die dann in einer wiedervereinigten BRD von ca. 80 Millionen Einwohnern noch nicht einmal verkauft werden kann.

Klaus M. Rarisch

Sonett-Sprechsaal

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Rechte am mitgeteilten Text bei Klaus M. Rarisch