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Klaus M. Rarisch:
Das gerettete Abendland.
Songs und Hymnen.
Mit einem Nachwort von Jean Bréjoux

Wissenschaftlicher Verlag A. Lehmann
Gerbrunn 1982
Kl.-8°, 136 S. Preis geb. DM 12,80

Klaus M. Rarisch: Das gerettete Abendland

Den an zeitgenössischer deutscher Lyrik interessierten Teilnehmern der Konferenz von WAGS im Oktober 1982 in El Paso ist der Name Rarisch nicht mehr fremd, da er durch zwei Sitzungen »Poetry and Prose Reading« mit Gedichten und eigenem Kommentar in Selbstdarstellung und in »Democracy – Challenge and Challenged« mit einem Vortrag unter dem Titel »Klaus M. Rarisch, ein visionärer poète maudit« zu Worte kam. Daß er Anklang fand, erstaunt nicht. Rarisch ist ein außergewöhnlich vielseitiger Lyriker, der vor keinem noch so kontroversen Thema zurückschreckt, weder vor Attacken gegen die Bonner »Dem’kratie« (damn-cracy) noch vor dem heißen Eisen der Abtreibung mit der trockenen Reminiszenz im Nachhinein an die Mutter: »Hättest du mich abgetrieben / wär’ ich dir erspart geblieben« (Lebenslauf). Mit den heiligen Kühen der Bundesrepublik macht Rarisch kurzen Prozeß, vom Berliner Symphoniegott »Bernstein contra Kajaran / Primadonneneitelkeit«, bis zum »Noböll«-Laureaten in »Böllsche Gebete«:

    Unser täglich Brot gib uns heute und vergib mir den Nobelpreis.

Inzwischen erschien die vorliegende neue Anthologie seiner Gedichte, die verdient, einen weiteren Leserkreis zu erreichen und damit zu gewinnen. Der sarkastische Titel ist einem gleichnamigen Gedicht entnommen, wahrlich »Verse von Rost und Vitriol«, wie es im »Prolog zum Nihil« heißt:

    SPD schließt Konkordate, Notstand ist ein frommes Werk. Atheisten winseln Gnade: »Wehner, grauser Todeszwerg, schlugest uns bei Godesberg!« – ... Büchner-Grass wird Erzprälate.

Wie immer bei Rarisch wird hier der Leser mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert, mit denen er sich auseinandersetzen muß:

    Ich glaube an die Dressurfähigkeit und an die Ersetzbarkeit jedes einzelnen Menschen. (Das Lied von der Freiheitsglocke).

In grausamer Reminiszenz an die dekadente Müdigkeit von Rilkes »Herbsttag« heißt es bei Rarisch, sämtliche Opfer unserer Zivilisation einschließend, in »Totensonnabend«:

    Die Brücken krümmen schrecke Katzenrücken.
    Wer jetzt im Rollstuhl fährt, wird lange fahren
    zu dem Bordell, wo sich die Krüppel paaren,
    wo die Prothesenwesen sich beglücken.

Und doch hat das »Zauberwort mourir« (La Belle et la Bête) auch für den polyglotten Rarisch Geltung; er hat Gedichte von Filippo Tommaso Marinetti aus dem Italienischen kongenial übertragen und u.a. einführende Essays über französische Dichter wie Tristan Corbière verfaßt. Er ist ein Bildungsdichter, der auf dem Instrument der Weltliteratur ganz eigene Töne hervorbringt.

Soll Lyrik nicht erheben? O ja, wenn Goethe »Im Walde so für mich hin« ging. Bei Rarisch herrscht ein anderer Ton:

    Spazierst du im Walde –
    balde:
    er wird zur Abfallhalde! (Sprüche).

Warner gibt es heute viele, doch die meisten sind unartikuliert. Was Rarisch einmalig heraushebt, ist seine frappierende Sprachkunst. Scheinbar schwerelos jongliert er mit ausgeklügeltsten Stilmitteln; man lese daraufhin die hier angeführten Gedichtauszüge und das folgende Sonett; bereits das ist ein Phänomen, daß ein Autor heute nicht nur Sonette schreibt, sondern, daß sie ihm formvollendet gelingen. Es sei nur auf einige stilistische Kriteria hingewiesen: Umkehrung konventionalisierter Sprachbilder, Zitatenvariation, Metapher, Metonymie, Neologismus, Ellipse, rhetorische Figuren wie Anapher, Epanalepse, Anadiplose und Polyptoton, Endreim, Binnenreim und Alliteration, alles auf die Antiklimax des letzten Wortes zulaufend, das durch den Titel das Ganze zum Circulus vitiosus als Chiffre unserer Zeit werden läßt:

    Pleite

    Zusehends dünner wird die Haut der Welt,
    dieweil die unsre immer dicker wird.
    Es überlebt der Mensch, solang er irrt.
    doch wer noch irrt, wird nimmermehr ein Held.

    und Helden braucht die Welt, bis sie zerfällt.
    Was tun? Von Satelliten rings umschwirrt ...
    Wie ruhn? Wenn jeder Nerv synkopisch klirrt ...
    Wer hört die Fragen? Wem sind sie gestellt?

    Wir haben Treu und Redlichkeit geübt,
    uns haben Reu und Schädlichkeit betrübt,
    begoßne Pudel suchen wir das Weite

    und finden nichts – nur immer engre Enge.
    Aus uns grinst Angst, schlägt über alle Stränge:
    Picassos Taubenzucht ging plötzlich pleite.


INGEBORG L. CARLSON
Arizona State University

German Studies Association
Newsletter
vol. IX, no. 1, Spring 1984


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