Wenn das moderne Zeitgedicht noch eine literarische Chance hat, dann offenbar am ehesten in der Verbindung von zeitkritischem Engagement und artifiziellem Spiel. Nachdem sich das rein hermetische Gedicht und das bloß deklamatorische Polit-Gedicht, diese beiden Extremformen deutscher Nachkriegslyrik, weitgehend erschöpft haben, scheint auch für den gesellschaftskritischen Protest-Poeten das Gedicht als Waffe nur noch in der artistischen Kombinatorik zu funktionieren. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man bei der Lektüre von Klaus M. Rarischs Gedichtband »Das gerettete Abendland«, einer lyrischen Ernte aus 25 Jahren literarischer Aktivität, in der der Autor die Epoche kritisch Revue passieren läßt, die Zeitgeschichte bissig kommentierend, kompromißlos in seiner Polemik, schonungslos, rücksichtslos. Es sind provozierende Texte eines radikalen Nonkonformisten, der sich hart an der Gesellschaft, am Kultur- und Literaturbetrieb ebenso wie an Staat, Kirche und traditionellem Kunstbegriff reibt. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. In diesen vehementen Stücken vollzieht sich die Demontage aller »Werte«. Dabei ist das Bestreben erkennbar, die kritisch-destruktiven Motive durch Techniken der Satire, der Parodie, der Ironie lyrisch zum Schwingen zu bringen. Diese Gedichte wollen mehr sein als bloße Gebrauchstexte, als lyrische Flug- und Kampfblätter, als politische Tagesgedichte. Es steckt in ihnen ein artifiziellcr Anspruch. Sie sind gestimmt auf hämmernde Pointen, enthalten eine Fülle literarischer Anspielungen und leben von der Parodie, dem literarischen Gag. Die Gedichte sind voll von Wortmontagen. In einer Montagetechnik, die weniger mit Nuancierungen und Schattierungen als vielmehr mit summarischen Formeln arbeitet, werden extrem heterogene Motive miteinander verknüpft: Literarisches und Politisches, Erhabenes und Triviales, Historisches und Aktuelles, Bildungsreminiszenzen und Gegenwartsmiseren, und zwar immer im Zeichen der parodistischen Destruktion aller Inhalte. Ein Verfahren, das stellenweise an dadaistische Sprachcollagen erinnert. Sicherlich sind auch weitere literarische Vorbilder nicht zu übersehen: Heines Technik der parodistischen Pointen, manche Benn-Klänge und nicht zuletzt die Wortballungen von Arno Holz. Interessant ist unter anderem die Neubelebung der traditionellen Sonett-Form. Das Sonett bietet dem modernen Autor die Möglichkeit, sein disparates Material in eine strenge Form einzufügen. Es gewinnt auch in den vorliegenden Texten strukturbildende Funktion. Zudem ist es als eine dem unmittelbaren Gefühlsausdruck sich verschließende, hingegen das Gedankliche, die Reflexion herausfordernde Form eine ästhetische Möglichkeit des zeitkritischen Satirikers. Rarisch betreibt im Sonett den Abbau des Erhabenen und verwandelt das Sonett ins zeitkritische Gedicht mit populärem Material und auflösender Wirkung. Eine traditionelle, sanktionierte Form wird, im Sinne der Parodie, mit neuen, modernen Inhalten gefüllt. Auf diese Weise kann dann das traditionelle Sonett zum modernen »Anti-Sonett« werden, und nicht ohne Grund trägt denn auch ein Gedicht den Titel »Anti-Sonett«. Ausgeprägt in den Texten ist die Zitat-Parodie. Immer wieder werden Klassiker-Zitate, etablierte, geflügelte Verse, aber auch Lyrismen moderner Dichter parodiert. So wird beispielsweise im Sonett »Totensonnabend« das Pathos eines bekannten Rilke-Verses schockartig in Frage gestellt: »Die Brücken krümmen schrecke Katzenrücken. / Wer jetzt im Rollstuhl fährt, wird lange fahren / zu dem Bordell, wo sich die Krüppel paaren, / wo die Prothesenwesen sich beglücken.« Rarischs Gedichte sind provokatorische Gedichte. Identifikation, Stimmung, Gefühlseinklang von Gedicht und Leser sind ihre Sache nicht. Sie zielen auf die Irritation des Lesers, auf Leserverstörung, auf Desillusionierung und Schock. Das geschieht in diesem (anti-) lyrischen Realismus mit energischem sprachlichen Zugriff. Häufig prallen Tradition und Modernität in parodistischen Pointen aufeinander: »Einst klang die Flöte Sanssoucis / heut brüllt das Disco-Paradies.« Oder: »Statt Bauten, die von Schinkel stammen, / bricht heut Beton in sich zusammen.« Das kann man akzeptieren. Witzig ist z. B. auch die Anspielung auf einen bekannten Korruptionsskandal: »heut grüßt als Held des Gangsterdramas / ein Ehrenmann von den Bahamas.« Problematischer ist ein Vers wie: »Einst machte Goebbels Propaganda / heut kommt von Schmidt zum Trost ein Panda.« Wo besteht hier der Sinnzusammenhang? fragt sich der Rezensent. Wenn einer der »Sprüche« lautet: »Der Könner setzt sieh durch / als Lurch: / Hitler, Himmler, Hindenburch!«, stellt sich die kritische Frage, ob in diesen Versen nicht der Reimzwang die Feder geführt hat. Man kann feststellen, daß die Pointen nicht immer poetisch funktionieren, sondern manchmal ein wenig aufgesetzt, zu forciert, zu überhitzt wirken. Was beispielsweise im »Anti-Sonett« gegen Grass und Böll (»nicht Scheiße wie Herr Böll zu bauen«) formuliert wird, ist nicht mehr vertretbar. Hier läuft das lyrische Ich Amok. Diese Lyrik ist »realistisch« im Sinne der polemischen Satire. Die Wörter sind nicht »trigonometrische Zeichen« (Günter Eich) zur quasi »objektiven« Definition von Wirklichkeit, sondern sie sind primär Mittel der subjektiv-polemischen Auseinandersetzung mit der Welt. Im Zerrspiegel dieser Satire erscheinen die Zeitgenossen, Literaten und Dichter ebenso wie Politiker und Kirchenmänner, nur noch als Karikaturen. Rarischs Lyrik ist »Gehirnlyrik«, Bewußtseinspoesie, Großstadtdichtung, versehen mit allen Signalements und Stigmata des Zivilisationsliteraten. »Wir sind aus Riesenstädten, in der City, nur in ihr schwärmen und klagen die Musen.« Dieses Wort Gottfried Benns, das den historischen Ort des modernen Bewußtseinsgedichts signalisiert, trifft auch auf das »Gerettete Abendland« zu. Dabei gibt es in diesem Sammelbändchen auch so etwas wie einen Wechsel der Töne. Die meisten Gedichte sind auf einen Parlando-Ton gestimmt, der von saloppen Berlinismen über aggressiven Jargon-Stil bis zu blanken Zynismen reicht. Alle »Werte« verfallen dem Kahlschlag, und zuletzt bleibt nur noch die Tabula-rasa-Situation übrig. Daneben tauchen aber auch Gedichte der lyrischen Innerlichkeit auf, die sanftere, elegische Töne anschlagen, z. B. »Ahnung«, »Zeitlichkeit«, »Dichterliebe« oder »Chopin op. 10 Nr. 3«. Gelegentlich artikuliert sich Sehnsüchtig-Visionäres, wie im Gedicht »Warum«, dessen Thema die Diskrepanz zwischen niederziehender Alltagswirklichkeit und dem »Traum« von einem fernen »Schloß am Meer« ist. Aber diese, z. T. von Benn inspirierten Gedichte sind im ganzen die Ausnahme. Es dominiert die Satire, die harte, beißende Satire, die Personal-, Gesellschafts- und Literatursatire. Manchmal rückt auch Kabarettistisches in den Vordergrund, wie im Gedicht »Haut den Lukas«. Zuletzt bleibt die Frage, ob nicht diese zynisch-aggressiven Gedichte Ausdruck eines Leidens an der Wirklichkeit sind. Und wenn auch diese Satire keine Zukunftsperspektive eröffnet, kein utopisches Moment enthält, so ist sie doch Ausdruck der existentiellen Selbstvergewisserung des Schreibenden gegenüber den modernen Wirklichkeiten. Theo Meyer die horen, Nr. 128 (1982)
|
||
" height=12 width=14> |