Aus einem Interview mit André Glucksmann
TAGESSPIEGEL: Ein deutsch-französisches Mißverständnis ist der Ausgangspunkt Ihres neuen Buches, das als Briefwechsel über »Das Gute und das Böse« aufgebaut ist. Warum haben Sie dafür als Beispiel die Auslegung des Märchens vom Rotkäppchen gewählt?
GLUCKSMANN: Die Geschichte vom Rotkäppchen ist Gemeingut. Aber wir sehen es jeweils anders. Die Franzosen erzählen von einem Mädchen, das schön war und von einem Wolf verführt wurde. Das Rotkäppchen von Grimm dagegen ist nicht schön, es ist »süß«, die Güte in Person. Und der deutsche Wolf ist die Verkörperung des Bösen, die Bestialität. In Frankreich fühlen wir uns angezogen durch das Böse. Das Böse ist Teil der Selbsterkenntnis. Das Böse in der deutschen Geschichte ist äußerlich. Seit 1945 haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Deutschen entdecken, daß das Böse innerlich ist, daß Hitler deutsch war. Und die Franzosen vergessen, daß die Kollaboration des Vichy Regimes französisch war. Die Franzosen spielen das deutsche Rotkäppchen, die Deutschen haben das französische Märchen vom Rotkäppchen gelernt.
DER TAGESSPIEGEL, 22.7.1998
|