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RW über das Sonett »Gaswerk«

DIE ZEIT

28. Mai 1962

Sehr geehrter Herr Wohlleben,

doch, ich lebe noch und darf Ihnen gegenüber auch weiterhin die Redaktion vertreten – was mich zum Beispiel nötigt, Ihnen die neuen Manuskripte samt und sonders zurückzugeben. Da sich noch nicht einmal Platz gefunden hat für das alte und alle seine Gefährten im Warten – wie sollten wir da unser schlechtes Gewissen noch vergrößern! Außerdem: das beste Gedicht, das Sie mir diesmal mitschicken, »Beim Gaswerk geht ...«, ist eine perfekte Heym-Imitation; ich habe eigentlich gar nichts gegen die Beherzigung von Vorbildern, besonders wenn sie die Statur eines Heym haben – aber wahrscheinlich hätte ich es doch auch bei günstigeren Verhältnissen nicht annehmen können.

Mit freundlichen Empfehlungen

(Dieter E. Zimmer M.A.)


Robert Wohlleben
Hamburg-Rahlstedt
Ringstraße 16o

31. Mai 1962

Sehr geehrter Herr Zimmer!

Für Ihren Brief vom 28. ds., worin Sie u.a. meine Zweifel an Ihrer Zugehörigkeit zum Redaktionsstab der »Zeit« zerstreuten, zunächst meinen herzlichen Dank. Die kurze und bündige Ablehnung meiner Gedichte schmerzt mich ein wenig, ist nicht zu ändern und traf mich schließlich nicht ganz unerwartet. Was Sie jedoch von der »Heym-Imitation« schrieben, verwirrte mich einigermaßen und läßt mir voraussichtlich auch dann noch keine Ruhe, wenn ich diesen Brief (über dessen unzureichende Form Sie, bitte, hinwegsehen wollen; – wenn ich Ihnen überhaupt seine Lektüre zumuten kann) werde fertiggestellt und abgesandt haben.

Im ersten Augenblick schien mir der Fall ganz klar zu sein: daß ich nämlich diesen »Anwurf«, wenn auch nicht scharf, so doch bestimmt zurückweisen müßte. Dann aber verwirrten sich erst einmal die Tatbestände, zumal ich plötzlich in der Schlinge, dem »eigentlich«, Ihres nächsten Satzes festhing, den ich als Sprachregelung des Inhalts auffaßte, daß Sie »eigentlich gar nichts«, sondern durchaus sehr viel »gegen die Beherzigung von Vorbildern« haben. (Das Epitheton »perfekt« freute mich übrigens nicht wenig, und vielleicht haben Sie es auf dem Gewissen, wenn sich bei mir so eine Art van-Tegelen-Komplex herausbildet und ich eines Tages das betreffende Gedicht oder einige andere in entsprechender Aufmachung Herrn Professor Schneider zuspiele.)

Gegen meinen spontan gefaßten Plan zu einer Erwiderung im erwähnten Sinne setzte sich jedoch die Einsicht durch, daß ich mich vorerst einmal bei Ihnen zu entschuldigen hätte für die Übersendung eines solchen Gedichts, von der Sie doch nur auf eine Geringschätzung Ihres Urteilsvermögens schließen können. Derartiges liegt mir fern. (Ich habe seiner Zeit ja auch nicht meine noch nicht allzu alten Benn-Sprüche an Sie geschickt.) Ich versichere Ihnen – und bitte Sie, mir dies zu glauben, da es anders kein Gewicht hätte – , daß Sie das Gedicht nie zu Gesicht bekommen hätten, wäre mir seine Heym-Nähe bekannt gewesen.

Auf Ihren Brief hin suchte ich zusammen, was sich – verzettelt – in meinem Buchbestand von Heym fand (nicht gerade viel): Ein Gaswerk, ein schwarzes Tier, ein Feuerkraut, um nur etwas herauszugreifen, fand ich nicht (das einzige lyrische Gaswerk, das ich kenne, urkundet bei T. S. Eliot). Dagegen stieß ich sofort auf ein Gedicht aus den sehr eigenartig klingenden alternierenden 5hebern mit Auftakt, wie ich sie in meinem Gaswerk-Sonett natürlich ebenfalls verwendete. Auch scheinen bei Heym recht häufig Periode und Vers zusammenzufallen, was sehr strafft und der Einprägsamkeit der Wendungen zugute kommt. Aber auch die andre Seite der Heymschen Syntax springt ins Auge. Das syntaktische Inventar besteht anscheinend hauptsächlich aus Relativsätzen, die zu fast jeder Gelegenheit eingeschaltet werden und der Heymschen Lyrik das nur ihr (?) eigene apokalyptische Tempo verleihen, – wobei allerdings, dies ist zu sagen, der Eindruck des Apokalyptischen vom Inhalt überhaupt erst induziert, von der Syntax nur verstärkt wird. (Nicht nur von der Syntax, sondern wohl auch z.B. durch das häufig angewandte »präsens lyricum«.)

Nach dem Überfliegen des mir sozusagen nur vom Guten-Tag-Sagen bekannten Heym zog ich, / das ich in Wahrheit beherzige, mein Vorbild zu Rate, / Klopstock, den größten Dichter der Deutschen. Ich weiß nicht, in wie weit Klopstock heute überhaupt irgendwo irgendwie Vorbild abgibt, außer bei mir. Ich rechne übrigens von vornherein darauf, mit seiner Erwähnung ein gewisses Lächeln hervorzurufen, das m.E. auf mangelnde Unterrichtung zurückzuführen ist. Der Weg von Klopstock zu Heym scheint weit kürzer zu sein als 150 Jahre. Ich will natürlich nicht sagen, daß die finstere Verklärung des einen und die finstere Verbiesterung des andern nun annähernd verwechselbar seien. Doch ihre Infrastrukturen sind anscheinend, wenn auch spiegelbildlich verschieden, nach einem und demselben Plan angelegt. Ganz formelhaft und grob vereinfachend gesagt: wo der Eine in den Himmel kommt, gelangt der Andre in die Hölle. Diese Formel ist meines Erachtens sehr wohl dazu geeignet, die hauptsächlichen inhalts- und frequenzmäßigen Unterschiede zu erklären, d.h., mittels einer einfachen Transformation beide Dichter in einem und demselben Koordinatensystem zu versammeln.

(Fortgesetzt am 23. 6. 62)

Der Abstand zwischen Ihrem Brief vom 28. Mai und dem meinen scheint mir allmählich schon Unhöflichkeit zu werden. Doch komme ich ich selbst bei bestem Wollen nicht rascher damit zu Rande, da ich z.Z. – ich weiß nicht, ob ich Ihnen dies seiner Zeit bereits mitgeteilt hatte – etwas Schrift leite (allerdings eine ganz andere als Sie, worüber ich nicht ganz froh bin) und gerade jetzt unseren seit einer Weile urlaubenden Chefredakteur weitgehend zu vertreten habe. Zudem bin ich optimistisch genug, auch mein Studium weiter zu verfolgen, und versuche außerdem, mich um Gedichte und solch Zeug zu kümmern. Schließlich möchte auch meine Frau etwas von mir haben.

Deshalb bin ich auch, wenn ich jetzt das vor mehr als 3 Wochen angeschlagene Thema wieder aufnehme, nicht besser ausgerüstet als auf den vorangegangenen Seite. Es war mir unmöglich, irgendwie geartete nähere Auskünfte über Heym einzuholen. Hinsichtlich Klopstocks jedoch habe ich – um es recht auszudrücken – kein reines Gewissen.

Hier bricht der Briefentwurf ab.
An das Klopstock-bezügliche Gewissenhafte
erinnere ich mich nicht mehr.
Der Brief lief jedenfalls darauf hinaus,
daß mir Klopstocks Satzbau Eindruck gemacht habe. RW

 

     
Remington-Anspitzer  

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