Surreales Theater des getakteten Daseins Recht lange her: 1980 setzten Wolfgang Uster, Hajo Maerz und ich zu einer Veröffentlichungsreihe an: »Stadt + Land Hand in Hand Beiträge zur Erleuchtung oder Beleuchtung Mitteleuropas«. Das erste und dann doch nur einzige Heft mit dem Thema »elektronisch geprüft, stark gefühlsecht«. Vorwörtlich kam ich da auf unser dreier enthaltene Liebesgedichte zu sprechen, meinte zu denen von Wolfgang: »Nach dem musikalischen Prinzip der ohraufreißenden Dissonanz gehn da auch mal die Wörter koppheister.« (Für mich besonders wirksam, wenn er sie mit eigenhändiger Gitarrenbegleitung sang.) Und nun: Wolfgang Uster erzählt. So knapp gesagt, hört es sich einfach an, ist aber nicht ganz so einfach klarzumachen. Besinnlich, behaglich, gemütlich ist es schon mal gar nicht. Auch wenn hier und da solche erzählerischen Zungenschläge anklingen: »dorthin, wo die gebrochenen Wellen von Ewigkeit zu Ewigkeit immer noch ein wenig auslaufend gegen die Gesteinskanten schäumen«. So zu lesen in »Reflux«, der ganz und gar von diesem Erzählton durchzogenen surrealen Erzählung von der Verwandlung eines Menschen in eine riesige Seegurke nicht in einen Käfer. In die dort anfangs so in Reinform verbreitete, fast altfränkisch beschworene Beschaulichkeit mischen sich im Fortgang mehr und mehr semantische Dissonanzen und gedankliches Störfeuer ein, bis schließlich »diese mit Stacheln überzogene kratzbürstige lederhäutige Gurke, die nun in einem Befreiungsschwall ihr vergiftetes Innerstes vollständig nach außen stülpte, ihre klebrigen Fäden ausstieß, die sich um die Beine und Leiber der Schwimmenden wickelten, sie lähmten und ihren Atem stocken ließen«. Es ist nicht die einzige Verwandlung im Buch. Gleich in der ersten Erzählung wird ein einsamer, unfroher Namenloser, stets überall und von überhaupt allen grotesk Übersehener, insofern auf so gut wie ein Nichts Reduzierter zu einem oft und gern Wahrgenommenen, freundlich ins Gespräch Gezogenen. Zu danken ist es einer nach seinen Wünschen abstrus gestochenen dreidimensionalen Tätowierung, die sein T-Shirt sich aufwölben lässt und ihm endlich wenigstens einen Spitznamen einträgt: Beule. Zu einer Art Verwandlung führt auch das kreativ-progressive Schulprojekt einer monatelangen, unter extremen Einschränkungen begonnenen Fahrradreise, in deren Verlauf eine Klasse »voll kleiner Fettsäcke« und »zickiger Östrogenbeutelchen« geistig wach, entsprechend findig, schlank und durchtrainiert wird, woraufhin sie wegen ihrer geringstmöglichen Ressourcennutzung öffentlich breit als beispielhaft beachtet für den »neu ausgelobten Kreativ-Friedensnobelpreis« in Frage kommt. Die Parabel vom Sumsi-Schaf erzählt davon, wie es geschehen kann, daß sich Moral ganz, ganz heimlich, still und leise peu à peu von Ethik abkoppelt und wie auch das anfangs so überaus herzig daherkommende Sumsi-Schaf am Ende ins Blutige umkehrt, buchstäblich! Mithin ebenfalls eine Verwandlung. »Erfelyk«, die dem Band den Titel gebende Erzählung, knüpft an Wolfgang Usters autobiographische Erkundung Bewusstsein formender Prägungen an, 2018 mit dem Titel » Früher war alles besser« erschienen. Letzte Station darin ist eine Wohnung auf dem Gelände des Mennonitenfriedhofs im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld, und zwar im Haus der Friedhofsverwaltung. Dort Anfang der 1970er Jahre real Erlebtes ist in »Erfelyk« geradezu etwas schauerromantisch ausgebaut, friedhöfliche Details wie die Grabplatte der Familie des Mennoniten Jacob Becker stammen also aus damalig eigner, von Neugier getriebener und notierter Anschauung. Die in »Früher war alles besser« der Friedhofsepisode noch folgende, nach der erzählten Zeit des Zuvorigen und philippinisch fern spielende Reiseerzählung »Von Morong bis Olongapo (Ein Leben zwischen den Welten)« beschließt das Buch, sozusagen als Andeutung des entelechischen Ziels der so ausführlich nachgezeichneten Erlebens- und Empfindensverläufe in »Erfelyk«. Mit den Erzählungen von der horrenden Wassernot im Tal der Wasserbüffel im nördlichen Nordvietnam und vom unbeholfenen Leben und Sterben an schnöder Hirnblutung, nicht an gebrochnem Herzen des ewigen Rucksacktouristen Archibald McDouglas auf den Kapverden ist solche Motivik in den Band »Erfelyk« eingegangen. Wolfgang Uster ein höchst neugierig und aufmerksam Reisender. Schon in seinem 1981 als Meiendorfer Druck erschienenen Gedichtheft »Der Speckfresser oder Danke gleichfalls« sich vermuten lassend mit dem Gedicht »Alte Altersfreuden«, datiert und lokalisiert als »1981 im Flugzeug über Indien«. Das 1988 in derselben Reihe herausgekommene Heft Dschungelkummer enthält ausschließlich Gedichte aus der Ferne: Belize, Australien, Mexiko, Philippinen, Indien. Dort als letztes das Gedicht »Neue Altersfreuden«, zur Entstehung vermerkt: »23. Januar 1982 / Thekkady, Kerala, Indien«. Mit der Zeile »Wenn ich mal alt bin« beginnen alle fünf Strophen, Schluß der letzten: »Dann beiß ich fauchend um mich / und gröhle wie ein Wildschwein / und trete dummen Malern / ins schöne bunte Bild rein.« Erzählungen, Satiren, Kurzgeschichten, Essays verspricht der Untertitel von »Erfelyk«, was sich vielleicht mit Capriccios, Impromptus, Drôlerien, Burlesken oder Grotesken weiter ausfächern ließe. So bunt, auch mal beißend, wenn auch keineswegs wie von einem Wildschwein gegröhlt, geht es her, allerdings gelegentlich an dunkel umwölkt Nichtgeheures streifend. Eine Formulierung in der Erzählung »Schlafma(h)l« deutet diese Richtung an: »jetzt regiert die Beklemmung, übernimmt sie die Regie und weist gekonnt die Rollen zu im surrealen Theater des getakteten Daseins«. Ähnlich ist in »Rütkers Erwachen« vom »Wegbrechen von Bezügen im Traum« die Rede. In den Essays herrscht konzentriertes, dabei von Empathie geleitetes Sezieren. Immer spürbar die in den Wortkaskaden vibrierende Emotion, sei es Heiterkeit, Erbitterung bis hin zur Erbosung, Freude oder Schmerz beim Mitempfinden. Sprachlich werden viele, viele Register gezogen. Das reicht vom Präparieren unterm Mikroskop angeschauter Sachverhalte in Sätzen, deren serpentinige Kurvenführung zu lang für ein Beispiel an dieser Stelle hier an Thomas Mann und Robert Musil denken lassen könnte, über das Verkleiden mit jeweils einschlägigen Jargons, Dia- und Soziolekten à la die locker im Vorübergehen gegebenen »Fünf« bis hin zum Stilmittel der Hyperbel, gern unerschrocken derb spaßhaft wie über jemanden in der erwähnten Radfahrgruppe: »Kevin, der Superdöner, dessen Hinterbacken sich um den Sattel gelegt und fast bis zu den Pedalen heruntergefallen waren.« Und merke: Die Sicht des Erzählers ist bestimmt vom Gedanken, daß »wir offensichtlich am Anfang der Menschheitsentwicklung, am Übergang vom Säugling zum Kleinkind« stehen als »Missing Link der Menschwerdung zwischen einer spezifizierten Tierwelt und dem möglicherweise eines schönen Sonnentags aus den Tiefen evolutionärer Schübe kommenden Homo sapiens sapiens«, wie es im Essay »Die Bedürftigen« heißt. Nachgeschoben die berechtigt besorgte Frage: »Wie aber wird es da erst in der menschheitsgeschichtlichen Pubertät zugehen?« Damit erweisen sich die hin und wieder vorkommenden Sottisen wie auch mal bitteren Abfertigungen, die manchen Vertretern unsrer Art in ihrer augenblicklichen Ausprägung und Verfassung gelten, als nur zu verständlich, weil verdient. Robert Wohlleben
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