Zwischen 1993 und Ende Mai 2003 hat Rudi Faßbender aus Prasdorf bei Kiel die 55 »Sonette an Orpheus« von Rainer Maria Rilke ins Fußballmilieu transponiert und das Ergebnis unterm Namen Rainer M. Ricken im September 2003 selbstverlegerisch in die Welt gesetzt. Der laut Selbstetikettierung Dorfbolzdichter, Gnadenbrotbolzer und verkanntete (sic!) Dorfpoet befürchtet, daß er sich mit der Legierung von Rilke und Fußball einsam in die hohle Gasse zwischen den Zielgruppen hie der Rilke-, hie der Fußball-Aficionadas und -dos manövriere. So etwa sagt ers im Nachwort. Dann aber die Zueignung auf dem Innentitelblatt: »Geschrieben als ein Mahn-Mal für alle Lyrik-Parodisten dieser Welt« sie deutet an, daß der Dorfpoet durchaus von seinem Ort weiß: literarisches Kabarett. Also nicht unbedingt so ganz und gar im Abseits (falls ich diese Abseitsregel recht verstehe). Doch bevor ich genauer in die »Sonette an tOrpheus« des pseudonymen Rainer Maria Ricken hineinsehe, gehört kurz angeschaut, wie es denn mir und meinen Vorurteilen mit Rilke und Fußball geht.
Ach, Fußball ich für mein Teil kann damit herzlich wenig anfangen. Gelegentlich hat mich was aus diesem Lebensbereich amüsiert. So etwa vor Jahrzehnten der Satz in der Anzeige einer Möbelhandlung: »Ihre Möbel entsprachen den von mir erwarteten Voraussetzungen«, vom Werbetexter dem in Hamburg populären Fußballer Uwe Seeler in den Mund gelegt und dies verkennend von einem Glossisten der »Welt« aufgespießt: »Mit dem Kopf verwandelte Uwe.« Oder der aus einer ansonsten unbeachteten Sportreportage im Hintergrundradio aufgeschnappte Satz: »Die Sankt-Paulianer massieren sich hinten.« Bleibende Erinnerung auch, wie vor etwa dreißig Jahren meine beiden Söhne und ich nach einem Besuch im Hamburger Völkerkundemuseum an der Rothenbaumchaussee am Eingang der U-Bahnstation Hallerstraße in die Zuschauerscharen gerieten, die aus dem HSV-Stadion strömten: Entgeistert stellten die Kleinen fest, sie hätten »noch nie so viele Besoffene auf einem Haufen« gesehen. Dazu paßt es, daß ich komisch finde, was der Cartoonist Peter Neugebauer mit der Andeutung einer Fußballszene in römischer Arena verbildlicht. Und Rilke? Angesichts seiner Gedichte habe ich oftmals den Eindruck einer hochweihevoll und angestrengt vorangetragenen Sensibilität, auf die ich mich so wenig einlassen kann wie auf die Verfließlichkeiten von Aquarellen aus Anthroposophenhand. Ich vergleiche mit einer gut zwanzig Jahre zurückliegenden Erinnerung: Mein Freund Frank Böhm bereitete eine Ausstellung seiner Bilder im kulturell höchst ambitionierten Restaurant »Podium« vor, wo es sehr feinsinnig gedämpft und abgezirkelt zuging; für die zweite Vorbesprechung lieh ich mir die breitschultrige Motorradjacke meines Ältesten ein Abwehrzauber? So scheinen mir Rilkes Gedichte stets eine innere Motorradjacke aufzunötigen. Dennoch sind welche dazwischen, die ganz oder in Teilen bei mir einen Wohnplatz in der Ortschaft der Worte haben. »Verwaschenes wie an einer Kinderschürze« aus dem Sonett »Blaue Hortensie« zum Beispiel. Das kann hier und da zu punktuellen Anspielungen führen. Ist auch schon passiert, daß Rilkesche Zeilen mir in einem Sonett den Takt vorgeben: »Die Arme sind vom Tragen all der Tüten / so lang und müde, daß die Hand schon krampft.« Mit der Anwendung auf die Trivialität des Einkaufs im Supermarkt hatte ich aber nicht im Sinn, Rilkes Panther zu parodieren. Im Gegenteil: Das anklingende Gefangensein ist durchaus beabsichtigte Hintergrund-Mitteilung. Zu Anfang des zweiteiligen Orpheus-Zyklus, »geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop«, läßt Rilke den singenden Orpheus Flora und Fauna in Bewegung und ins schweigend anbetende Zuhören versetzen (so gerät der Baum ins Ohr). Vegetative und animalische Zwänge wandeln sich in überweltliches Streben:
Zur Dichtungstechnik: Rilkes Sonett hält sich halbwegs an die klassische Form, besteht aus den in zwei Quartette und zwei Terzette geordneten vierzehn Zeilen mit Auftakt und fünf Hebungen, bringt aber im zweiten Quartett neue Reime, statt die des ersten Quartetts zu wiederholen. Entgegen der sonst eingehaltenen Zeilenstruktur mit Auftakt und regelmäßigem Wechsel von Hebung und Senkung beginnen zweites Quartett und erstes Terzett mit einer Hebung, so daß dort ein Takt mit zwei Senkungen entsteht. Der synkopische Effekt scheint auf die im Fortgang des Zyklus gehäuften Abweichungen von der Idealform des Sonetts vorauszuweisen. In Rudi Faßbenders Kontrafaktur vertritt der schreibende Fußballer Lothar Matthäus aus Herzogenaurach den singenden Orpheus. Zum 1997 erschienenen Werk »Mein Tagebuch«, in der Bild-Zeitung vorabgedruckt, merkte Matthäus in einem Interview an: »Schreiben ist nicht mein Milieu«, und irgendwo im Internet findet sich diese Leseempfehlung: »Als Fußballfan sollte man dieses Buch unbedingt gelesen haben. Es gewährt Einblicke auf einen Menschen Matthäus. Man sieht einfach, dass es im Gehirn eines Fußballprofis genauso arbeitet wie bei normalen Menschen. Lothar ist in meinem Ideal gestiegen!« Entsprechend läuft Faßbenders Version des ersten Orpheus-Sonetts auf Buchkritik mit einem Tenor à la Hiob 13,5 oder Sprüche 17,28 hinaus *):
Die Parodie bewahrt die Reime des Originals, teils gar die Reimwörter. Bei strenger Betrachtung wäre hier vielleicht der unschöne »rührende« Reim »langen / Verlangen« als Kunstfehlerlein anzukreiden. Die Zeilen sind originalgetreu gefüllt, einmal ist auch an der richtigen Stelle der irreguläre Anfangstakt mit den zwei Senkungen nachgebildet: »Tore mit Pike«. Der französische [bule'war] mit deutscher Mehrzahlendung weist wohl auf den sprachlichen Wagemut voraus, der im Fortgang des Zyklus immer wieder zu Tage tritt. Begriffe wie literarisches Kabarett, Satire, Parodie umkreisen die »Textsorte« der tOrpheus-Sonette. Diese Genres sind auf einigermaßen breit geschätzte oder hochgehaltene Sujets verpflichtet, um zu treffen. Ihr Ziel sind einerseits Personen und kulturelle oder zivilisatorische Güter oder Erscheinungen, andrerseits die Hinterherlaufenden. So unterminieren die tOrpheus-Sonette parodistisch die Rilke-Verklärung und färben satirisch das Begeisterungsfeld Fußball und seine Akteure mit Lächerlichkeit ein. Die jeweiligen Fans sind mitgemeint. Wer aber lacht im literarischen Kabarett? Er oder sie muß unabdingbar gewisse Kenntnis von Literaturformen und -haltungen mitbringen, wie auch immer von persönlicher Einstellung gefärbt.
Doch im Raum des literarischen Kabaretts darf vielleicht Praxis sein, was bei allfällig mißglückender Jonglage in Varieté oder Zirkus schöne Selbstverständlichkeit ist: Souverän die verpaßten Bälle, Reifen oder Keulen wieder aufnehmen, dann mit Erfolg weitermachen, und der Schlußapplaus ist gesichert. Und Anlässe für Applaus als Quittung fürs Gelungene und zugleich als Ermutigung, die Patzer nicht auf sich beruhen zu lassen, bieten die Sonette an tOrpheus allemal. Überzeugend beispielsweise die Ersetzung des von Rilke mit dem Geruchssonett, dem sechzehnten im ersten Teil, angesprochenen Hundes »Du, mein Freund, bist einsam« durch den Affen, der offensichtlich in Form von Äffe zugegen ist. Ferner ist eine Reihe gelungener Auflösungen zusammengesetzter Wörter anzuführen: mittlere Fingerzeige, bananenes Flanken, asphaltische Straßen, sträflicher Raum, ohrene Feige, kohliger Pott. Die damit nach dem Muster von Rilkes »wendendem Punkt« im Wandlungs-Sonett erhöhte Vielsilbigkeit kommt sensibel dem Rilkeschen Rhythmus und Duktus entgegen. Rilkes Sonette an Orpheus streifen mancherlei Motive bis hin zur Gefährdung der menschlichen Souveränität durch die Maschinenwelt. Der Gedanke der Wandlung, der sich durch »eine Entgrenzung des Subjekts« ergibt, hält sie zusammen, wie Meinhard Prill in Kindlers neuem Literatur-Lexikon feststellt. Ein Gipfelpunkt ist folglich der Beginn des zwölften Sonetts im zweiten Teil: »Wolle die Wandlung.« Das entsprechende Sonett an tOrpheus appelliert: »Wolle Verwandlung«, zeigt also, wie in diesem Zyklus der vom Elfmeterpunkt aus erzielte Tortreffer die Gedankenwelt bestimmt. Blindwütiger Enthusiasmus findet aber keinen Raum, denn stets ist das Geschehen durch Verletzung, Formverlust und falsche Schiedsrichterentscheidung oder, auf anderer Ebene, durch finanzielle Schiebereien und die Machenschaften der Massenmedien bedroht. Kindlich fußballerisches Streben verfiel der Vergangenheit, die zu nichts mehr verhilft. Wo nötig, fallen auch Namen und bewahren vor der Verflüchtigung ins Allgemeine: »Hört ihr den Abgesang, / Vorfelder-Meyer ?« oder »Stuhlfauth und Popp füllten Arenen ehdem« wer immer das ist. So spannen sich die Sonette an tOrpheus von glänzenden Siegen bis zu bittersten Niederlagen. Mit den im Inhaltsverzeichnis angegebenen Gedichtüberschriften geht Faßbender über die Rilkesche Titellosigkeit hinaus. Deutliche Hinweise auf den Inhalt können es sein: »Ein Spielervermittler preist einen Fußballsklaven an« (Teil 1, 25. Sonett) oder »An den Brecher (für Yeboah, Asamoah und Salou)« (Verwandlungssonett). »Matthäus 1,114« fürs Eingangssonett dagegen führt in die Irre, denn in der angeführten neutestamentlichen Passage bricht die Genealogie Jesu kurz vor dessen Geburt ab. »Canard à lorange (der SC 07 Bad Neuenahr zum Pausentee)« als Überschrift fürs fünfzehnte Sonett im ersten Teil gewährt einen Durchblick auf die zugrunde liegende Motivik: »Tanzt die Orange«, ergeht im Rilkeschen Orangensonett die Aufforderung an die Mädchen; »Tanzt wie der Lippens« und »Tanzt wie die Ente, Lippens, der Raum schafft«, ruft das Faßbendersche Pendant den Fußballerinnen beziehungsweise Maiden zu. Ein Namensregister im Anhang hilft bei der Orientierung. Das Fehlen eines Glossars zu technischen Termini ist wohl zu verschmerzen, denn entweder man weiß, was beispielsweise »Abseits« besagt, oder man muß es nicht wissen. Ganz gewiß richten sich die Sonette an tOrpheus an eine andere Leserschaft als die 1911 vom urteils- und vorurteilsfreudigen Albert Soergel in »Dichtung und Dichter der Zeit«, seiner »Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte«, beschriebene Rilkesche: »die tatenlosen Träumer, die sehnsüchtigen Betrachter, die Stimmungsmenschen, die Dämmermenschen«. Wer denn aber statt dessen angesprochen ist, bliebe noch zu bestimmen.
Rainer M. Ricken: Die Sonette an tOrpheus und ähnliche Zugaben. Prasdorf in Holstein 2003. Kartoniert, 48 Seiten, Vorkasse 5 Euro + 1 Euro für Versand bei Einzelbestellung. Bezug durch Rudi Faßbender, Zum Wendeplatz 1 a, 24253 Prasdorf; E-Mail PrasDorfpoet@t-online.de. Im übrigen hat Rudi Faßbender ab 2018 Rilkes wohlbekannte Preziose »Der Panther (im Jardin des Plantes)« ausführlich variiert. Anmerkungen von Klaus M. Rarisch
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