Herrn Lieber Herr Paul : Nachdem nun Ihr Artikel im Spiegel doch noch erschienen ist, wäre es unredlich von mir, vielleicht auch unhöflich Ihnen gegenüber, wollte ich mich dazu nicht äußern. Hätte ich nicht das Vergnügen gehabt, Sie persönlich kennenzulernen, würde es für mich nahegelegen haben, einen Leserbrief an den Spiegel zu richten, aber so kann ich mich glücklicherweise direkt an Sie wenden. Ich will damit selbstverständlich nicht etwa Ihre Kritik kritisieren, sondern lediglich die Diskussion ein wenig bereichern. Sie schreiben zur Rezeption des »Ignorabimus«, daß »die zusammenhängende Lektüre nahezu« unmöglich sei. Ich konzediere Ihnen das »nahezu«: die Lektüre ist schwierig, aber durchaus möglich und lohnend. Wenn man sich in den Stakkato-Stil der Dialoge eingelesen hat, wird man nicht mehr von »seitenlangen nichtssagenden Satzfetzen« sprechen können. Die abgehackten Satzfetzen ergeben im Kontext sehr wohl eimen nachvollziehbaren Sinn und haben meines Erachtens die formale Funktion, das allmähliche Entstehen der Gedanken beim Sprechen zu demonstrieren also eine Methode, die Sie selbst als »Sprache des Lebens« zitieren. Die sprachliche Form ist somit hier dem besonders komplexen Gehalt das Dramas adäquat. Ich kann Ihrer Ansicht nicht folgen, daß Holz sich zu einseitig dem damals schon überholten Okkultismus anvertraute einem Okkultismus, dessen Erkenntniswert heute ... nicht mehr zur Debatte steht. Meines Wissens werden okkulte Phänomene heute heftiger denn je erörtert, sonst wäre wohl kaum ein Lehrstuhl für Parapsychologie an der Universität Freiburg eingerichtet worden. Man mag natürlich den konkreten Lehrstuhlinhaber für unseriös halten, aber es geht nicht an, dies indirekt Arno Holz zum Vorwurf zu machen. Und was Holzens Zeitgenossen betrifft, so darf ich vielleicht aus der eingehendsten Studie über »Ignorabimus« zitieren, aus der Dissertation von Walter Beimdick (S. 245; mit zahlreichen detaillierten Nachweisen): Demnach übersehen Sie die Tatsache,
daß während der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts die Diskussion um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit spiritistischer Manifestationen Wissenschaft und breitere Öffentlichkeit beherrschte. Bekanntlich wählte Holz als Vorbild für die Figur des Dufroy-Regnier den einflußreichen Berliner Physiologen Emil du Bois-Reymond, der das positivistische Schlagwort »Ignorabimus« prägte. Dessen »Reden« erschienen, in 2 Bänden und in der 2. vervollständigten Auflage, just 1912, also genau im Jahr der Handlung und Entstehung der Holzschen Tragödie. Dies ist kein Zufall und beweist schlagend, daß die von Holz dargestellte Wissenschaftsdebatte von unüberbietbarer Aktualität war. Die für Holz zentralen soziologischen und naturwissenschaftlichen Probleme, etwa die Bedeutung des Sozialdarwinismus oder das Verhältnis der Faktoren Vererbung und Milieueinfluß bei der Persönlichkeitsentwicklung, dürften wohl bis heute noch keine definitiv befriedigende Lösung gefunden haben. Daher will mir Ihre Kritik nicht plausibel scheinen, Holz war nicht beschlagen oder aufgeschlossen genug, das neue umwälzende Wissen seiner Zeit zu berücksichtigen. Holz hat zwar kein Hochschulstudium absolviert, war aber als Autodidakt von gründlichster Belesenheit. Man sollte ihm nicht absprechen, das Wissen seiner Zeit berücksichtigt zu haben. Daß er die Probleme am Beispiel des Okkultismus darstellte, mag zunächst befremden. Aber Holz hat ja den Okkultismus durchaus kritisch reflektiert: Georg als Hauptfigur und Träger der eigentlichen Problematik negiert ja schließlich gerade den Erkenntniswert des Okkultismus:
Wenn Sie also schreiben, daß der Erkenntniswert des Okkultismus heute nicht mehr zur Debatte steht, so hat Holz mit seinem Drama entscheidend zur Verteidigung des Rationalismus beigetragen, trotz seiner Kritik am wilhelminischen Positivismus. (Wogegen »Faust«, der immer wieder als Pendant herangezogen wird, am Schluß gerade in eine Apotheose katholizistischer Erlösungsmystik einmündet, so daß »Ignorabimus« zu Recht als Gegenfaust gelten kann.) Mir scheint, wenn Sie mir ein offenes Wort gestatten, daß Sie in Ihrer Rezension Holz eine naiv-unkritische Position unterstellen, die weder er als Autor noch seine Hauptfigur Georg vertritt, sondern Onkel Ludwig, mit seinem immer nur als absonderlich charakterisierten »Mundus explicatus Das gelöste Welträtsel, oder der durchhaune gordische Knoten«. Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Figur des Onkel Ludwig in Ihrer Rezension mit keinem Wort erwähnt wird. Außerordentlich dankbar bin ich für Ihren Schlußabsatz mit der Forderung, »Ignorabimus« endlich in Deutschland zu inszenieren. Ob die Berliner Schaubühne dafür der gegebene Ort wäre, ist schwer zu sagen. Erinnert sei daran, daß Peter Stein damals Ibsens Peer Gynt auf verschiedene Schauspieler aufgeteilt hat, womit dem Zuschauer die Möglichkeit genommen wurde, das eigentlich Interessante an dem Stück, nämlich die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur, nachzuvollziehen. Ronconi dagegen hat zwar auch eine dezidiert eigenwillige Interpretation geliefert, sich dabei aber unangemessener Manierismen enthalten. Für den Fall, daß sich wiederum keine deutsche Bühne für »Ignorabimus« findet, habe ich beim Kultussenator beantragt, man möge Ronconis Truppe zu einem Gastspiel nach Berlin einladen. Herr Hassemer hat mich an die Berliner Festspiele GmbH verwiesen; eine Antwort von dort steht noch aus. Mit den besten Grüßen, Berlin, den 15. Juni 1986
|