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Faust von Holz

Mit einer zwölfstündigen Mammutaufführung wurde in Italien ein naturalistisches Un-Stück wiederentdeckt: »Ignorabimus« von Arno Holz.

Als eine »Null« und »krabbelnde Made«, als »inferioren Klex« und »letzten Fetzen eines abgebrauchten Staubtuchlappens« empfand sich ein Mitstreiter Arno Holzens nach der Lektüre von »Ignorabimus«, dem 1913 veröffentlichten dramatischen Hauptwerk des Anführers der »konsequenten Naturalisten«. Der Meister, er lebte von 1863 bis 1929, dagegen neigte eher zur Selbsterhöhung und erklärte seine zehn Aufführungsstunden benötigende Tragödie einer Berliner Gelehrtenfamilie zum »Weltrekord«, der alle bisherige Literatur in den Schatten stelle.

Wie es der lateinische Stücktitel verrät (»Wir können nicht wissen«), wollte Arno Holz die Grenzen menschlicher Erkenntnis dramatisieren. Aber der gipfelstürmende Dichter hatte sich zuviel vorgenommen. Abgesehen davon, daß er sich zu einseitig dem damals schon überholten Okkultismus anvertraute, verdrängte er die philosophische Fragestellung zunehmend durch Melodramatik.

Um die »Sprache des Lebens« einzufangen, umgab er wuchtig sich türmende Sentenzen mit seitenlangen nichtssagenden Satzfetzen und bloßen Andeutungen. Durch die Verbindung von Schicksals- und Ideendrama, von Thriller und Rührstück geriet das Stück aus den Fugen, obwohl es sich strikt an die Einheit von Zeit und Ort hält.

»Ignorabimus« in Prato
Holz-Stück »Ignorabimus« in Prato
12 Stunden Familientragödie

Schauplatz ist eine Prachtvilla in Berlin-Tiergarten. Datum: der 12. Mai 1912. Zeitraum: von Mittag bis Mitternacht. In der Familie des hoch angesehenen Universitätsrektors Dufroy-Regnier herrscht das Unheil. Nachdem sich Dufroys Vater das Leben genommen hatte, vergiftete sich die Tochter Mariette und riß ihre beiden Kinder mit in den Tod. Schuldgefühle und gegenseitige Ressentiments prägen den häuslichen Umgang und sogar die spiritistischen Sitzungen des Schwiegersohns Dorninger, der mit Hilfe seiner Schwägerin Marianne als Medium das Geheimnis von Leben und Tod lüften will.

Besagter Mai-Termin soll den Abschluß der übersinnlichen Experimente bringen und sowohl die Unsterblichkeit der Seele beweisen als auch die Motive der Selbstmörderin klären. Während die erste Frage in der Schwebe bleibt, enthüllt sich das tragische Geschick der Toten so gründlich, daß es den Untergang der ganzen Familie nach sich zieht und auch das Leben eines zufällig Anwesenden kostet, der, wie sich herausstellt, Mariettes Unglück mitverschuldet hatte.

»Ignorabimus« ist ein so interessantes wie sperriges Unikum, das weder zur Buch- noch zur Theater-Rezeption unmittelbar taugt. Während die end- und zahllosen Regieanmerkungen die zusammenhängende Lektüre nahezu verhindern, macht der enorme Textumfang eine geschlossene Aufführung so gut wie unmöglich.

Nur einmal in über siebzig Jahren wurde »Ignorabimus« bisher inszeniert; und zwar um die Hälfte gekürzt. Obwohl der Regisseur Berthold Viertel zu den besten seiner Zeit gehörte, blieb die Aufführung 1927 in Düsseldorf eine kaum beachtete Randerscheinung in der Theatergeschichte.

Das Bühnenschicksal des in vieler Hinsicht überdimensionalen Stücks schien ein für allemal besiegelt, bis Luca Ronconi, Italiens führender Regisseur neben Strehler und einer der maßgeblichen europäischen Theatermacher, auf »Ignorabimus« aufmerksam wurde und dessen ungekürzte Einstudierung beschloß. Nach mehrmaliger, wochenlanger Verzögerung kam die Inszenierung jetzt in der Theaterwerkstatt von Prato bei Florenz heraus, wo Ronconi seit 1976 bevorzugt arbeitet. Die Premiere, nachmittags um drei Uhr beginnend und morgens um drei erst endend, erzielte trotz ihrer jedes Maß sprengenden Überlänge eine ungeteilt aufmerksame, enthusiastische Resonanz.

Dieser sensationelle Erfolg ist um so erstaunlicher, als trotz der enormen Strapaze wenig Rücksicht auf das Publikum genommen wurde. Abgesehen von geräumigen Sitzen mit Pulten, auf die man Getränke abstellen und den Kopf aufstützen konnte, wurden nur eine Stunde Essenspause (schlecht organisierter Stehimbiß) und drei Umbaupausen von jeweils zwanzig Minuten geboten.

In fremder Sprache und auf fremdem Boden hat ein fast vergessenes Hauptwerk des deutschen Naturalismus nun doch seine triumphale, eigentliche Uraufführung erfahren. Ob es damit endgültig fürs Theater gewonnen ist, steht auf einem anderen Blatt.

Luca Ronconi
Holz-Wiederentdecker Ronconi
Ohne magisches Chichi

Ronconi, der für seine Eigenwilligkeiten bekannt und gefürchtet ist, ließ in eine ehemalige Fabrikhalle das Hauptgeschoß einer gründerzeitlichen Prachtvilla einmauern (Bühnenbau: Margherita Palli). Die Vorhalle, deren Decke mit einem künstlichen Oberlicht versehen ist, dient als Auditorium für maximal dreihundert Besucher. Der um ein Drittel größere Hauptraum ist allein dem Bühnenspiel der fünf Darstellerinnen vorbehalten und ähnelt in seiner Wandgestaltung dem heutigen Berliner Gropiusbau, dessen altes Mauerwerk durchsetzt ist mit grobverputzten Ausbesserungen, was den Eindruck vergangenen Glanzes betont.

Daß die vier männlichen Rollen des Fünf-Personen-Stücks von Frauen gespielt werden, greift am entscheidendsten in die Textvorlage ein, ohne sie – und das ist das Erstaunliche daran – in ihrem Wesen zu verändern.

Gerade diese vordergründige Extravaganz, die weniger auf einem ausgeklügelten Regiekonzept als auf persönlichen Motiven Ronconis beruht, beweist die Subtilität der Inszenierung, die Holzens Text und seine künstlerischen Absichten ernst nimmt, ohne sich ihnen gedankenlos zu unterwerfen. Die Darstellerinnen geben ihren männlichen Rollen eine eigentümliche Leichtigkeit und Transparenz und nehmen so dem Stück eine gehörige Portion seiner historisch bedingten Melodramatik und ideologischen Befrachtung.

Arno Holz
»Ignorabimus«-Autor Holz
Weltrekord der Literatur

Holz, dem das hohe Ziel einer modernen »Faust«-Dichtung vorschwebte, war nicht beschlagen oder aufgeschlossen genug, das neue umwälzende Wissen seiner Zeit zu berücksichtigen. Statt dessen verstrickte er seine Figuren in die leidenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Okkultismus, dessen Erkenntniswert heute, trotz ständig neuer irrationaler Daseinsdeutungen, nicht mehr zur Debatte steht. Schon den Zeitgenossen schien die spiritistische Lösung irdischer Probleme durch überirdische Eingriffe bedenklich, was zum Mißerfolg des Dramas wesentlich beitrug.

Man kann es bedauern, daß Ronconi zum Spiritismus nicht Stellung bezieht und die übersinnlichen Vorgänge in ihrer bloßen Erscheinung, ohne magisches Chichi oder kritische Brechung, spielen läßt. Vielleicht besteht aber darin gerade die Möglichkeit, den Okkultismus, der vor der Jahrhundertwende vereinzelt sogar Wissenschaftsrang besaß, als historisches Phänomen zu begreifen.

»Ignorabimus« ist ein Zeugnis der Jahrhundertwende, das fasziniert und befremdet. Wenn der hochfahrende Dichter auch keinen neuen »Faust« zustande brachte, so ist sein letztes abgeschlossenes Drama doch ein neuzeitlicher Versuch, den antiken Schicksalsbegriff mit psychisch und sozial bedingten Handlungsmotiven zusammenzuführen.

Mit einem bewunderungswürdigen Höchstmaß an Mut, Geschick und Ausdauer hat ein ehrgeiziges italienisches Experimentiertheater einen von der Sache her notwendigen ungeheuren Kraftakt vollbracht, um Holzens Hauptwerk in Szene zu setzen. In Deutschland wäre die Berliner Schaubühne der Ort, der sich mit den ästhetischen, dramaturgischen und ideologischen Problemen dieser Berliner Intellektuellen-Tragödie auseinandersetzen müßte, und das »allerelementarst«, wie es der in Superlativen schwelgende naturalistische Dichter sich gewünscht hätte.

DER SPIEGEL
Nr. 24 vom 9.6.1986
DER SPIEGEL

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Okkultismus + Wissenschaft auf Kollisionskurs
Klaus M. Rarisch gibt zu Bedenken