Schneidiges Compliment. Lyrik und Fahrrad im ausgehenden 19. Jahrhundert Im Grunewaldsee, durch die stillen Fichten, spiegelt sich das Abendrot. In diesem Waldseegedicht von Rolf Wolfgang Martens kommen Fahrräder vor wie auch in Arno Holzens in Waldseenähe lokalisiertem Grunewaldgedicht dort jokos »Chausseeflöhe« benannt. Beide Gedichte 1899 erschienen doch das Fahrrad von Alfred Lichtwark in seinen Briefen gelegentlich auch schon mal aus dem Englischen als Beizügel »übersetzt« taugte damals »eigentlich« gar nicht so recht für »gehobene« Poesie. Allerdings paßte es ja unbedingt in Holzens thematisch auf Welterfassung angelegtes Konzept von Lyrik. Ich versuche, einen Eindruck von damaliger Wahrnehmung zu bekommen. Ohne dabei der Frage nachzugehn, wann und bei wem denn nun Fahrräder erstmals in der Lyrik auftauchten, abgesehn von humoristischen Reimereien in unterhaltenden Presseorganen oder in damaliger Werbung. In den »Fliegenden Blättern« geht es 1900 in der dreiteiligen illustrierten Gedichtfolge »Im Restaurant« eines W. Herbert vor einer verelendeten Blumenverkäuferin und einem übers moderne Drama verrückt werdenden Schauspieler an erster Stelle um eine Radfahrerin: In geschmeidiger Radfahrhose Gereimte und ebenfalls bebilderte Reklamepoesie eines Fahrradproduzenten, 1898: Schneidger Fahrer Radparthie, Solche Reimereien hielten sich ja lange. Ich hab noch die launigen Verslein für Camelia (Camelia schenkt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen), Bullrich-Salz (Ja, schon der Jäger aus Kurpfalz nahm oft und gerne Bullrich-Salz), Ninoflex-Regenmäntel (Tell frißt Gras, es gibt bald Regen. Gucki sagt: »Na, meinetwegen«), Paech-Brot (Kuno sprach zu Kunigunde: »Paech-Brot ist in aller Munde«) im Kopf. Von meinem Vater gehört diese ältere Veralberung von Reklame: In der Untertertia klebt der Sohn am besten klebt Syndetikon. Stabreimend warb das Fahrrad für Hulstkamp-Korn: »Hilft dem Vater auf das Fahrad«, von den PR-Leuten extra falsch geschrieben, weil sie darauf abzielten, daß ein Stutzen oder gar Aufregung über den Schreibfehler mehr Aufmerksamkeit generiere. Die siebente Auflage von Pierers Konversations-Lexikon hat im Band 5 (Emailmalerei Fronton) von 1890 nichts übers Fahrrad, das allerdings vom Eintrag »Draisine« im Band 4 (Dampfpumpe Emaillierte Thonwaren) von 1889 bereits versprochen worden war: »Außerdem bildet die D. den Vorläufer des Velocipeds (s. d.)« also im Band 5 nicht etwa als nicht so bedeutsam übergangen wurde. Der abschließende Band 12 (Symmachie Zz) von 1893 löst dann in knapp einer Spalte das Velociped-Versprechen ein, Fahrrad in Klammern dazugesetzt, spricht von einer »großen Ausbreitung des Radfahrsports« [4] was auf eine Lifestyle-Erscheinung bei genügend Zahlungskräftigen hindeutet und damit etwas über den Habitus des jungen Paars in Martens Gedicht zu verstehen gibt. Knapp anderthalb Jahrzehnte später wars schon etwas anders. 1906 vermerkt Meyers Großes Konversations-Lexikon fast sechs Fahrrad-Seiten zuzüglich zweier Bildtafeln für die Entstehungszeit des Gedichts, daß wegen der gesundheitsfördernden und entspannenden Wirkungen »auch die Gehirnarbeiter dem F. enthusiastische Neigung bekundet« hätten. [5] Doch der Enthusiasmus hatte sich gegeben, wie mit einem lexikographisch eher ungewöhnlichen Anflug von Süffisanz vermerkt: Als Sportmaschine hat das F. in den letzten Jahren ganz bedeutend an Verbreitung eingebüßt. Nicht nur, daß die launische Mode es wieder fallen gelassen hat, auch die Sportbegeisterung seiner Jünger in den 1880er und 1890er Jahren ist erheblich abgeflaut. Die Pioniere von damals sind älter und bequemer geworden [ ] Dagegen ist es in ausgedehntestem Maße, durch die billige Massenfabrikation, die riesige Konkurrenz und das enorme Angebot gebrauchter Maschinen, Gemeingut der minder bemittelten Bevölkerung geworden [ ]. [6] In den Jahren 1898 und 99, den Erscheinungsjahren von sieben Drucken des Regiments Sassenbach, wimmelte es in den Zeitschriften »Jugend« und »Kladderadatsch«, eher von tendenziell Bemittelteren gelesen, von Anzeigen für Fahrräder: Brennabor, Cleveland, Klondyke, Allright, Swift, Neckarsulmer Pfeil, Komet, Wanderer, Monarch, Patria, Victoria, Corona, Styria, Adler, Naumann, Libelle, Columbia (beide »kettenlos«), Dürkopp, Hettich (beide »selbstölend«). Verschiedene Firmen warben intensiv für jeweils allerbeste Fahrradreifen und -ketten, selbst modisch gebotene Kleidung wurde annonciert.*) In vielen Anzeigen sind elegant sportlich gekleidete Damen und Herren zu sehen. Das Herrenrad der Marke Klondyke wurde für 150 Mark, das Damenrad für 160 Mark angeboten. Der junge Buchhandelsgehilfe Reinhard Piper hätte 1899 zwei Monatslöhne für ein Klondyke aufwenden müssen. Auch Anmutung von etwas Störendem oder gar Gefährlichem gehörte zum sowieso schon unpoetischen Fahrrad. Die am 4. Juli 1899 erschienene Nr. 383 der sozialistisch orientierten Satirezeitschrift »Der wahre Jakob« (damals anzeigenfrei, abgesehn von Hinweisen auf Veröffentlichungen des herausgebenden Dietz-Verlags) enthält in der »Unterhaltungsbeilage« die Bilderfolge »Moderner Todtentanz«, im fünften der insgesamt neun Bilder ist der Radfahrer der Betroffene: Zur damaligen Wahrnehmung des Radfahrens bot die »Jugend« im Januar 1899 ein von B. G. verfaßtes, »Das neue wilde Heer« betiteltes Gedicht mit dem Timbre der Schauerballadik à la Gottfried August Bürgers »Lenore« und Annette von Droste-Hülshoffs »Der Knabe im Moor«, eingepaßt in Max Feldbauers Verbildlichung einer todesmutig daherjagenden Radlermeute in Sportdress: Das neue wilde Heer Und »Rambos«, wie sie der zeitweilige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer unter den Radfahrern sah, [8] gabs auch schon vor mehr als hundert Jahren. So erwähnt der Große Meyer im Fahrradzusammenhang »Einschränkungen und Verbote, die um einzelner wilder Fahrer wegen erlassen werden«. Heutzutage ist ein Fahrrad im Gedicht nichts Merkwürdiges mehr, so das Mountainbike des Sohns am Schluß von Dirk von Petersdorffs sauber nach Shakespearescher Art gebautem Sonett »Man trifft sich im Flur«. (Für mich Anregung, einen inzwischen älteren Sohn auf ein Motorrad zu setzen.) Robert Wohlleben
(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.) |
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