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Schneidiges Compliment.
Fliegende Blätter, 1900
„Fräulein Röschen, Sie sind heute geradezu mit Holdseligkeit gespickt!“
(Fliegende Blätter, 112. Bd., Nr. 2848, 1900)

Lyrik und Fahrrad im ausgehenden 19. Jahrhundert

Im Grunewaldsee, durch die stillen Fichten, spiegelt sich das Abendrot.

Oben,
die Fahrräder gegen die Böschung gelehnt,
steht ein junges Paar
und redet von blassen Dingen.

Es wird immer dunkler. [1]

In diesem Waldseegedicht von Rolf Wolfgang Martens kommen Fahrräder vor wie auch in Arno Holzens in Waldseenähe lokalisiertem Grunewaldgedicht – dort jokos »Chausseeflöhe« benannt. Beide Gedichte 1899 erschienen … doch das Fahrrad – von Alfred Lichtwark in seinen Briefen gelegentlich auch schon mal aus dem Englischen als Beizügel »übersetzt« – taugte damals »eigentlich« gar nicht so recht für »gehobene« Poesie. Allerdings paßte es ja unbedingt in Holzens thematisch auf Welterfassung angelegtes Konzept von Lyrik.

Ich versuche, einen Eindruck von damaliger Wahrnehmung zu bekommen. Ohne dabei der Frage nachzugehn, wann und bei wem denn nun Fahrräder erstmals in der Lyrik auftauchten, abgesehn von humoristischen Reimereien in unterhaltenden Presseorganen oder in damaliger Werbung. In den »Fliegenden Blättern« geht es 1900 in der dreiteiligen illustrierten Gedichtfolge »Im Restaurant« eines W. Herbert vor einer verelendeten Blumenverkäuferin und einem übers moderne Drama verrückt werdenden Schauspieler an erster Stelle um eine Radfahrerin:

Pedalistin

    In geschmeidiger Radfahrhose
    Lehnt mit übergeschlag’nem Bein
    Dort im Stuhl in fescher Pose
    Eine junge Maid allein.

    Ißt da ein paar Caviarbrödchen,
    Trinkt auch ein Glas Pilsner Bier,
    Raucht dazu – das Schwerenöthchen –
    Cigaretten drei bis vier.

    Wirft ein Markstück hin der Zahlmaid,
    Winkt ihr ab, mit schneid’ger Hand.
    Schnarrt im Leutnantstone: »Mahlzeit!«
    Schreitet nach dem Radlstand. [2]

Gereimte – und ebenfalls bebilderte – Reklamepoesie eines Fahrradproduzenten, 1898:

    Schneid’ger Fahrer – Radparthie,
    Tempo rasend – wie noch nie!
    Plötzlich Anprall – Sturz zur Erd,
    Doch „Victoria“ unversehrt. [3]

Sturz

Solche Reimereien hielten sich ja lange. Ich hab noch die launigen Verslein für Camelia (Camelia schenkt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen), Bullrich-Salz (Ja, schon der Jäger aus Kurpfalz nahm oft und gerne Bullrich-Salz), Ninoflex-Regenmäntel (Tell frißt Gras, es gibt bald Regen. Gucki sagt: »Na, meinetwegen«), Paech-Brot (Kuno sprach zu Kunigunde: »Paech-Brot ist in aller Munde«) im Kopf. Von meinem Vater gehört diese ältere Veralberung von Reklame: In der Untertertia klebt der Sohn – am besten klebt Syndetikon. Stabreimend warb das Fahrrad für Hulstkamp-Korn: »Hilft dem Vater auf das Fahrad«, von den PR-Leuten extra falsch geschrieben, weil sie darauf abzielten, daß ein Stutzen oder gar Aufregung über den Schreibfehler mehr Aufmerksamkeit generiere.

Die siebente Auflage von Pierers Konversations-Lexikon hat im Band 5 (Emailmalerei – Fronton) von 1890 nichts übers Fahrrad, das allerdings vom Eintrag »Draisine« im Band 4 (Dampfpumpe – Emaillierte Thonwaren) von 1889 bereits versprochen worden war: »Außerdem bildet die D. den Vorläufer des Velocipeds (s. d.)« – also im Band 5 nicht etwa als nicht so bedeutsam übergangen wurde. Der abschließende Band 12 (Symmachie – Zz) von 1893 löst dann in knapp einer Spalte das Velociped-Versprechen ein, Fahrrad in Klammern dazugesetzt, spricht von einer »großen Ausbreitung des Radfahrsports« [4] … was auf eine Lifestyle-Erscheinung bei genügend Zahlungskräftigen hindeutet und damit etwas über den Habitus des jungen Paars in Martens’ Gedicht zu verstehen gibt. Knapp anderthalb Jahrzehnte später wars schon etwas anders. 1906 vermerkt Meyers Großes Konversations-Lexikon – fast sechs Fahrrad-Seiten zuzüglich zweier Bildtafeln – für die Entstehungszeit des Gedichts, daß wegen der gesundheitsfördernden und entspannenden Wirkungen »auch die Gehirnarbeiter dem F. enthusiastische Neigung bekundet« hätten. [5] Doch der Enthusiasmus hatte sich gegeben, wie mit einem lexikographisch eher ungewöhnlichen Anflug von Süffisanz vermerkt:

    Als Sportmaschine hat das F. in den letzten Jahren ganz bedeutend an Verbreitung eingebüßt. Nicht nur, daß die launische Mode es wieder fallen gelassen hat, auch die Sportbegeisterung seiner Jünger in den 1880er und 1890er Jahren ist erheblich abgeflaut. Die Pioniere von damals sind älter und bequemer geworden […] Dagegen ist es in ausgedehntestem Maße, durch die billige Massenfabrikation, die riesige Konkurrenz und das enorme Angebot gebrauchter Maschinen, Gemeingut der minder bemittelten Bevölkerung geworden […]. [6]

In den Jahren 1898 und ’99, den Erscheinungsjahren von sieben Drucken des Regiments Sassenbach, wimmelte es in den Zeitschriften »Jugend« und »Kladderadatsch«, eher von tendenziell Bemittelteren gelesen, von Anzeigen für Fahrräder: Brennabor, Cleveland, Klondyke, Allright, Swift, Neckarsulmer Pfeil, Komet, Wanderer, Monarch, Patria, Victoria, Corona, Styria, Adler, Naumann, Libelle, Columbia (beide »kettenlos«), Dürkopp, Hettich (beide »selbstölend«). Verschiedene Firmen warben intensiv für jeweils allerbeste Fahrradreifen und -ketten, selbst modisch gebotene Kleidung wurde annonciert.*) In vielen Anzeigen sind elegant sportlich gekleidete Damen und Herren zu sehen. Das Herrenrad der Marke Klondyke wurde für 150 Mark, das Damenrad für 160 Mark angeboten. Der junge Buchhandelsgehilfe Reinhard Piper hätte 1899 zwei Monatslöhne für ein Klondyke aufwenden müssen.

Auch Anmutung von etwas Störendem oder gar Gefährlichem gehörte zum sowieso schon unpoetischen Fahrrad. Die am 4. Juli 1899 erschienene Nr. 383 der sozialistisch orientierten Satirezeitschrift »Der wahre Jakob« (damals anzeigenfrei, abgesehn von Hinweisen auf Veröffentlichungen des herausgebenden Dietz-Verlags) enthält in der »Unterhaltungsbeilage« die Bilderfolge »Moderner Todtentanz«, im fünften der insgesamt neun Bilder ist der Radfahrer der Betroffene:

Ein modernder Todtentanz, H. G. Jentsch

Zur damaligen Wahrnehmung des Radfahrens bot die »Jugend« im Januar 1899 ein von B. G. verfaßtes, »Das neue wilde Heer« betiteltes Gedicht mit dem Timbre der Schauerballadik à la Gottfried August Bürgers »Lenore« und Annette von Droste-Hülshoffs »Der Knabe im Moor«, eingepaßt in Max Feldbauers Verbildlichung einer todesmutig daherjagenden Radlermeute in Sportdress:

    Das neue wilde Heer

    Ich bin des Wegs gegangen
    In lauer Vollmondnacht,
    Und mild hat mich umfangen
    Die stille Frühlingspracht.
    Ich sah die Wiesen funkeln,
    Demantgeschmückt von Thau –
    Da! – Plötzlich aus dem Dunkeln
    Zog’s brausend durch die Au!

    Ein Sausen kam, ein Schwirren
    Jäh über Thal und Höh’n,
    Ein Klingeln und ein Klirren,
    Ein Keuchen und Gestöhn!
    Und ärger ward und ärger
    Das Tosen und Geschrei –
    „Das ist der Hackelsberger –
    Maria steh’ uns bei!“

    Doch nein – wohl kommt’s geschossen
    Auf unsichtbarem Pfad,
    Doch nicht auf Geisterrossen –
    Sie sitzen auf dem Rad!
    Sie strampeln und sie rasen,
    Entfloh’n aus Grab und Gruft,
    Am Reifen tief die Nasen.
    Das Kreuzbein in der Luft!

    Und Alle haben Wunden
    Vom Schienbein bis zum Schopf!
    Zerschunden und verbunden
    Sind Arme, Knie und Kopf!
    Voll Schrammen und voll Beulen
    Ist jeder Körpertheil –
    So rasen sie und heulen
    Ihr schreckliches „All Heil!–

    Mir stirbt auf bleicher Lippe
    Ein Angstschrei, seh’ ich so
    Die abgezehrte Sippe
    Im scheckigten Tricot!
    Wie grauslich und wie gräßlich
    Ist dieses wilde Heer,
    Im Leben schon so häßlich,
    Im Tode noch viel mehr! –

    O weh! Da lenkt der Eine
    Seitab nun seinen Lauf,
    Und hockt sich hin am Raine
    Und pumpt den Reifen auf.
    »Gelobt sei Jesus Christus!«
    Ruf ich den Schatten an,
    Er aber stöhnt: »Da siehst Du’s,
    Wie Unmaß schaden kann!

    Wir fahren wie die Hexen
    Per Zweirad durch die Nacht,
    Weil wir als Rennbahnfexen
    Das Leben hingebracht,
    Weil wir die Opfer waren
    Des hirnverbrannten Sports
    Mit Siebentagefahren
    Und Meisterschafts-Records!

    Weil wir auf unserm Racer,
    Von Eitelkeit geplagt,
    Als Kilometerfresser
    Die Schwindsucht uns erjagt!
    Weil wir die schönen Knochen,
    Die Gott den Menschen schenkt,
    Muthwillig uns gebrochen,
    Zerschlagen und verrenkt!

    Uns kann die Ruh’ nicht werden,
    Die man im Grab genießt,
    Bis sich zum Rad auf Erden
    Der letzte Mann entschließt,
    Bis auf den Sport sich Jedes
    Von Kindheit an versteht
    Und keiner mehr per pedes
    Apostolorum
    geht.

    Dann findet unser Haufe
    Die Ruh’ im letzten Bett –
    O Wand’rer! Geh’ und kaufe
    Dir auch ein Bicyclette!«
    Er sprach’s und flog nach oben
    Und sauste hinterdrein,
    Das Kreuzbein hoch erhoben
    Und tief das Nasenbein.

    In feuerigen Ringeln
    Entfloh mir Spuk und Graus
    Und leis verklang sein Klingeln –
    Ich aber floh nach Haus
    Und schrieb, weil eine Wandlung
    Zu Mitleid ich empfand,
    An eine Fahrradhandlung
    Um ihren Preiscourant. [7]

Und »Rambos«, wie sie der zeitweilige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer unter den Radfahrern sah, [8] gabs auch schon vor mehr als hundert Jahren. So erwähnt der Große Meyer im Fahrradzusammenhang »Einschränkungen und Verbote, die um einzelner wilder Fahrer wegen erlassen werden«. —

Heutzutage ist ein Fahrrad im Gedicht nichts Merkwürdiges mehr, so das Mountainbike des Sohns am Schluß von Dirk von Petersdorffs sauber nach Shakespearescher Art gebautem Sonett »Man trifft sich im Flur«. (Für mich Anregung, einen inzwischen älteren Sohn auf ein Motorrad zu setzen.)

Robert Wohlleben

*) Gertrud Lenning: Kleine Kostümkunde. 3. erw. u. verb. Aufl. Berlin: Fachverag Schiele & Schön (1954), S. 167:
 

1896. Der Anzug der Sportdame um die Jahrhundertwende befremdet uns heute. Das hochgeschlossene Kleid mit der starken Schnürung und die weiten Pumphosen scheinen doch recht unbequem gewesen zu sein. Frauensport war eben noch nicht sehr aktuell. Selbst das Tennisspielen wurde im langen Kleid ausgeübt. Die »sportliche Note« ergab dazu der runde herrenmäßige Strohhut, der mit langen Hutnadeln befestigt wurde. Für das beginnende Autofahren hüllte man sich in lange Staubmäntel und dichte Schleier, denn die Landstraßen waren noch nicht asphaltiert und die Autos noch nicht so komfortabel wie heute. Zum Schwimmen hatte man meist wadenlange Anzüge aus Wollstoff oder Kattun, deren Weite mit einem Gürtel zusammengefaßt wurde. In Luxus-Seebädern, in denen man ausnahmsweise gemeinsam badete, trug man sogar Strümpfe im Wasser.

Fahrradkostüm


1] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 20.
2] Fliegende Blätter, Bd. 112 (1900) Nr. 2845.
3] Jugend, 3. Jg. (1898), Nr. 16.
4] Pierers Konversations-Lexikon. 7. Aufl. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1888–1893, Bd. 12, Spalte 688.
5] Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl., neuer Abdruck. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1905–1909, Bd. 6, S. 275.
6] Ebd. S. 276.
7] Jugend, 4. Jg. (1899), Nr. 5.
8] Das Blech des Stärkeren. In: Der Spiegel, Nr. 37, 12. 9. 2011.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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