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Walter Leistikow: Abendstimmung am Schlachtensee (1895)
Walter Leistikow: Abendstimmung am Schlachtensee (1895)

Sonnenuntergänge am Waldsee

Im zweiten Phantasusheft sieht Arno Holz versonnen Wald und See beim Dunkelwerden zu:

Ueber Tannen und blassen Birken ballt der Abend rote Wolken.

Jetzt ist mein Herz dieser See.

Noch ein Mal, blitzend, streift ihn ein Flügel.

Leise,
dunkel schläft er ein. [1]

In seinem ähnlich kurz gefaßten Waldsee-Gedicht nimmt Rolf Wolfgang Martens dagegen nicht sich selbst, sondern die Beschauer in den Blick, und zwar höchst modisch ausgerüstete Städter:

Im Grunewaldsee, durch die stillen Fichten, spiegelt sich das Abendrot.

Oben,
die Fahrräder gegen die Böschung gelehnt,
steht ein junges Paar
und redet von blassen Dingen.

Es wird immer dunkler. [2]

Martens legt mit der ersten Zeile eine »heile« Idylle an, die Naturstimmung »stört« er mit den Fahrrädern, vor reichlich über hundert Jahren um einiges mehr als technoid-prosaisch empfunden als heutzutage. In heutiger Lyrik ist das Fahrrad ja längst angekommen, wie das Mountainbike in Dirk von Petersdorffs Gedichtsammlung »Nimm den langen Weg nach Haus« von 2010.

Ein Gedicht von Reinhard Piper schließt motivisch an – wohl Wald, aber kein See. Hier ist der einfühlende Blick auf die Beschauer vergleichsweise ausführlich:

Menschen stehen auf der steilen Höhe,
starren in den blutroten Sonnenball,
zittern, wie er langsam sinkt,
langsam hinter den dunklen Forst,
langsam.

Ihnen ist, als sähen sie sich sterben.

Ein glühender Tropfen noch.
Nun auch der.

Tief athmen sie auf.
Durch die Kiefernkronen zischt der Wind. [3]

Martens bringt mit seinen 30 Wörtern mehr »Bild« als Piper mit seinen 46. Bei Martens gibt es noch den See und die Fahrräder. Bei der zeitgenössische Leserschaft dürfte sich auch Bildvorstellung eingestellt haben, was den Habitus des beobachteten Paars angeht. Bei Piper ist die Topographie weniger bestimmt, seine Menschen bleiben unbestimmter Plural. Explizit wird er mit dem Satz »Ihnen ist, als sähen sie sich sterben«, damit eine mentale, besser: sentimentale Tendenz dieser Menschen markierend. Als allwissender Erzähler weiß der Gedichtautor von ihrem depressiven Sichtotdenken. Martens dagegen bleibt in seinem Gedicht kühler Beobachter. Der bald schon expressionistische Sinnbruch mit den »blassen Dingen« im Gespräch läßt sein Gedicht brüchig erscheinen. Die Wendung sticht vom sonst sparsam genau aufs Faktische hin formulierten Zusammenhang ab … wieso dann nicht nur »und redet«? Mit den »Dingen«, um die das Gespräch geht, sind sicher keine unbelebten Konkreta benannt, wie sollte etwa ein Fahrrad, ein Spazierstock, ein Schuh als Ding »blaß« sein? Das scheint mir auch für Gesprächsgegenstände wie Sturz mit dem Fahrrad, Kopfschmerzen, Rechtsstreit, Überraschung, Ärger zu gelten. Mit idiomatischen Abweichungen: Eine schauspielerische Leistung könnte blaß sein. Auch Ahnung, meist dann, wenn jemand sie nicht hat. Gut, bei Holz sind auch Birken blaß … doch das ist poetische Amalgamierung des Baums und seiner Erscheinung fürs Auge. Martens läßt das abgehörte Gespräch des Radlerpaars von »blassen Dingen« handeln, als lohnte oder erlaubte der Inhalt keine Wiedergabe. Gerade in diesem Verschweigen, im scheinbar Unbestimmten, regt sich der Puls des Gedichts.

Sonnenuntergänge rühren halt an. Vor Jahren im Zürcher Oberland, vom Seeufer vorm Schloß Greifensee aus, sah ich mal der Sonne beim Verschwinden hinter den bewaldeten Höhen der Pfannenstielkette zu. Nicht allein, denn an dem milden Abend war das Ufer mit seinen Bootsliegeplätzen und Anlegestegen gut besucht, viel junges Volk dabei. Ich glaube eigentlich nicht, daß die Menschen sich sterben sahen. Andacht ja, denn allmählich erstarben die Gespräche, je näher die Sonne dem Höhenzug kam, ihn berührte. Schweigen überall, bis sie ganz dahinter verschwand. Es dauerte mindestens eine gute Minute fort. Löste sich erst mit Beifallklatschen hier und da, jemand rief »da capo«. Die Witze sollten wohl Ergriffenheit überspielen.

Auch ich kam nicht um das Motiv herum:

    Abends
    der Große Himmel
    von Curaçao bis Persiko.
    Aber besoffen
    bin ich von Dir.

Brief an eine vorübergehend Verreiste war geschrieben und grade zugeklebt, dann aus der stadtrandlichen Dachgeschoßwohnung, mitten im Wetter, der Blick zum Himmel. Sofort auf der Briefrückseite notiert. Ich erfuhr wenig später, daß Freund Jens Cords ebendenselben Sonnenuntergang aquarelliert hatte.

Nun, das Motiv solcher ans Gemüt rührenden Idylle lag, wenn auch nicht gerade auf der Straße, dann doch woanders schon herum: mit Christian Morgensterns »Abendstimmung« 1896 im »Pan«. Die Zeitschrift war für Arno Holz und seine Kompagnons nichts unintessant Beliebiges, sondern unter Beobachtung. Rolf Wolfgang Martens, der es sich leisten konnte, hatte die hochvornehme Publikation abonniert. Holz war dran gelegen, dort zu erscheinen. Im selben Heft wie Morgenstern ist Johannes Schlaf mit drei Prosaskizzen unter der Gesamtüberschrift »Lyrisches« vertreten, Arno Holz mit drei noch linksbündig gesetzten Phantasusgedichten unter der Sammelüberschrift »Auf dem Rücken«. In bewährter Skandierung – »Nächtlich am Busento lispeln«, »An der Saale hellem Strande« – skizziert Morgenstern gleich zu Anfang die Szenerie:

    Auf die düstern Kiefernhügel
    Legt sich kupfern letzte Sonne;
    Sanft wie über weichen Sammet
    Schmeicheln Winde drüber hin.

Enden tut’s mit dem Sterbegedanken:

    So möcht ich sterben –
    Sonnengold im Haar!
    Der Kahn knirscht auf . . .
    Und draussen leuchtet’s noch. [4]

Bei Ernst Schur, seit seinem ersten Gedichtbuch von 1897 verschiedentlich unzutreffenderweise der Holz-Schule zugerechnet, findet sich das Motiv in seinen »Dichtungen und Gesängen« von 1902:

dunkle Tannen stehen – umgeben den Teich
im Abend leuchtet
ihr dunkelstes Schwarz
über ihnen
ein heller Streif –
die kahlen Zweige hängen ins Wasser hinein
auf dem Wasser liegt ein letzter Abendschein
das Wasser wird
eine gleissende Decke
glühend – flüssiges Feuer –
die dunklen Tannen umgeben den Teich [5]

Den besinnlichen Abendgedichten setzt Arno Holz im zweiten Phantasus-Heft ein eher burleskes entgegen:
 

In den Grunewald,
seit fünf Uhr früh,
spie Berlin seine Extrazüge.

Ueber die Brücke von Halensee,
über Spandau, Schmargendorf, über den Pichelsberg,
von allen Seiten,
zwischen trommelnden Turnerzügen, zwischen Kremsern mit Musik,
entlang die schimmernde Havel,
kilometerten sich die Chausseeflöhe.

»Pankow, Pankow, Pankow, Kille, Kille« »Rixdorfer« »Schunkelwalzer« »Holzauktion«

Jetzt ist es Nacht.

Noch immer
aus der Hundequäle
quietscht und empört sich der Leierkasten.

Hinter den Bahndamm, zwischen die dunklen Kuscheln,
verschwindet
eine brennende Cigarre, ein Pfingstkleid.

Luna: lächelt.

Zwischen weggeworfnem Stullenpapier und Eierschalen
suchen sie die blaue Blume! [6]
 

Hundekehle- und Grunewaldsee – das Paar – der Abend – das Nadelgehölz – mit den »Chausseeflöhen« auch die Fahrräder: Die Elemente des Gedichts von Martens sind da. Das Gedicht von Arno Holz sieht aus, als wärs in Abwehr der – teils unterschwelligen, teils expliziten – Beunruhigungen in den Martensschen und Piperschen Texten entstanden, vielleicht als Gegenzauber. Die große Dichte von lautem und launigem Lokalkolorit und die dicken Ironien am Schluß – »Luna« und »die blaue Blume« – hätten die Funktion einer Geisterbannung.

Robert Wohlleben


1] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 96.
2] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 20.
3] Ludwig Reinhard [d. i. Reinhard Piper]: Meine Jugend I. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 48.
4] Pan, 2. Jg. (1896/97), H. 1, S. 20.
5] Ernst Schur: Dichtungen und Gesänge. Leipzig: Hermann Seemann Nchf. 1902, S. 44 f.
6] Holz, Phantasus (Reclam), S. 88.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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