Regiment Sassenbach: Topologie der Motive


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Simplizissimus. 1. Jg., Nr. 7, 16. 5. 1896
Ein Freund
»Ich denke, Excellenz, wir stoßen an auf die Armen und Elenden, die heute keinen so guten Wein trinken, —«
»»Ach was, diese Leute sollen zurücklegen —!««
(Zweiseitige Graphik aus Simplizissimus, 1. Jg., Nr. 7, 16. 5. 1896)

Gerede

Arno Holz, im zweiten Phantasusheft, mit offnen Augen und Ohren auf einer Soirée der »besseren Gesellschaft«:

Im Hause, wo die bunten Ampeln brennen,
glänzen auf demselben Bücherspind,
über George Ohnet, Stinde und Dante,
Schiller und Goethe:
beide beteiligt an ein und demselben Gypskranz!

Im Hause, wo die bunten Ampeln brennen,
hängt an derselben Wedgwoodtapete, über demselben Rokokoschirm,
zwischen Klinger und Hokusai,
Anton von Werner.

Im Hause, wo die bunten Ampeln brennen,
spielen dieselben schlanken Hände, auf demselben Ebenholzflügel,
mit demselben Charm und Chic
Frédéric François Chopin und Ludolf Waldmann.

Im Hause, wo die bunten Ampeln brennen,
auf vergoldeten Stühlchen sitzend,
trinkt man Chablis, Pilsner und Sect,
kommt dann peu-à-peu auf Nietzsche,
zuletzt wird getanzt.

Ich küsse entzückt der Hausfrau die Hand,
enttäusche einen älteren, glattrasirten Herrn
mit baumwollnen Handschuhen und Wadenstrümpfen
durch eine Mark Trinkgeld
und verschwinde. [1]

Holz schüttelt den Kopf über die quietschenden Stilbrüche. Das pompöse Ambiente, die bunte Beleuchtung und der Diener lassen an Pipers Erinnerung an ein Abendessen beim bestens situierten Rolf Wolfgang Martens denken:

    Ich konnte erst verspätet kommen, da der Laden ja bis acht Uhr offen war, und erschrak nicht wenig, als mir von einem Diener in Livree geöffnet wurde. Dieser empfing mich mit den Worten: »Sie werden schon mit Sehnsucht erwartet.« Ich schritt dann über dicke Teppiche. Aus dem ersten Zimmer mit rotem Licht kam ich in ein zweites mit blauem. An den Wänden hingen Waffen, pompös gerahmte Spiegel, Ölgemälde. Unter Palmen funkelten Rüstungen, auf dem Boden lagen Eisbärfelle, überall standen Sessel, Diwans und Taburetts. Endlich kam ich in den Speisesaal. [2]

Das Menü: Donaukarpfen, Hammelbraten, Eis mit Schokoladen-Crème, Käse und Butter, Obst. »Zu jedem Gang eine andre Sorte Wein.«

Ob sich jedoch bei Martens zu Hause die weniger anspruchsvollen George Ohnet, Julius Stinde, Anton von Werner und Ludolf Waldmann so leichthin und bedenkenlos unter die entsprechenden literarischen, malerischen und musikalischen Schwergewichte mischten? Wohl nicht, denn ich möchte nicht annehmen, daß Holz seinen in besten Verhältnissen lebenden Mitdichter Martens so denunziatorisch aufs Korn genommen hat. Wo Holz die Mitglieder der Dichterversammlung in seiner Dachkammer, »eine Etage höher als der Himmel«, kurz charakterisiert, ist nicht von Geschmacksverirrungen die Rede, sondern summarisch von »Menschen, die Goya und Utamaro lieben« und »Palestrina über Pietro Mascagni stellen«. [3] Martens eingeschlossen, der hier allen Zweifel an Geschmack und Gesinnung ausschließt:

Meine getreuen Nachbarn und desgleichen
schütteln über mich den Kopf.

Ich besuche keinen im Frack,
ich zahle nicht gerne Kirchensteuer,
in meiner Bibliothek, neben dem Sträfling Dostojewski,
hängt der Jude Spinoza.

Ja, ich bin sogar auf den Simplizissimus abonnirt!

Sie schneiden mich.

Sie lassen mich links liegen,
ich sie rechts. [4]

Martens und Robert Reß bieten ebenfalls Karikaturen entfremdeter Kommunikation. Rolf Wolfgang Martens findet sich auf einer Soiree ähnlich der von Arno Holz erlebten:

Der Hofschauspieler declamiert.

»Das Mutterherz!«

Purpurne Tonwellen mit goldenen Pizzikatis.

Herr Geheimrat
klatscht.

Die Damen, süß gerührt, drehn ihre Batisttücher.

Ich
trink nen Cognac!

Durch die dunkle Winternacht
gehe ich nach Hause.

Mit triefenden Kleidern, aus dem Kanal gezogen, bringt man ein Kind.

Die Mutter ertrank.

Es zittert,
bebt,
schlingt die abgezehrten Ärmchen mir um den Hals.

»Muttichen!«

Ich fühle Thränen. [5]

Seinen Abstand zu den Riten feiner Gesellschaft signalisierend, kontert er sie melodramatisch mit einer Elendsszenerie. Ob er sie selber erlebt hat? Oder hat er an Kanäle und Wasserleichen als Bildmotive bei Max Klinger und Hans Baluschek gedacht? – Er protokolliert eine Gesprächsrunde:

Wir trinken auf die Ideale unseres Volkes.

Der Großindustrielle
erzählt schon eine ausgeschlagene Stunde von seinem Wahlsieg über die Rotte.

Ein getaufter Kommerzienrat
zeigt einen Brief von seinem Schwiegersohn bei der Schutztruppe.

Seinem Nachbar, dem Malprofessor,
hat Se. Majestät neulich eigenhändig die Hand geschüttelt.

Der blasse Mensch mir vis-à-vis thut endlich auch den Mund auf.

»Es ist doch Nichts schwerer im Leben als sich eine Position erringen,
von der man anständig leben kann.« [6]

Auch Robert Reß hörte einer Konversation zu, wohl auf einer Abendgesellschaft:

An einem Fetzen Roastbeef schlingend
versichert der Herr Privatdozent:

Meine grösste Sehnsucht,
Gnädigste,
ist, mitten im Ocean auf einem kleinen Eiland zu leben
von Brotfrüchten und Kokosmilch.

Der Brotbaum, Artocarpus,
gedeiht im südöstlichen Asien,
auf den Inseln der Südsee, sowie in Westindien.

Drei Bäume
genügen schon, um einen Menschen zu ernähren! [7]

Holz, Martens und Reß führen Hohlheit der »besseren Gesellschaft« vor. Holz und Martens mokieren sich über Stillosigkeiten, Martens spießt auch selbstverliebte Eitelkeiten auf, Reß eine rettungslose Realitätsferne. In nur einem Wort – »Gnädigste« – legt er die ganze Verbogenheit dieses Privatdozenten offen, das Gefangensein in Konventionen. Diese Barrieren wird der lebensreformerische Aussteigertraum nie überwinden, auch wenn sich der Privatdozent noch so sehr und beschwörend in sein Fachwissen versteigt. Martens braucht mehr Personal, um sein Thema einzukreisen. Der Sprachwitz beißt besonders den Malprofessor. Spürbar wird Medisance in der Darstellung. Martens scheut vorm Stereotyp des getauften Juden, von dessen Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung, nicht zurück und trumpft am Ende mit dem Moralisten auf, um alles noch recht »einzureiben«. Sicherte er sich gegen eigne Verunsicherung ab? Ist seins etwa ein »zweites« Gedicht, gegen das von Reß oder das von Holz geschrieben, weil er sich oder seinen Kreis gemeint fühlte? Martens war schließlich ein wirklich reicher Mann. Ähnlich dem Privatdozenten bei Reß träumte auch er von befreiendem, allerdings nicht ganz so radikalem Aussteigen, wie sein Gedicht übers gemütliche Beisammensitzen nach einem Abendessen in großbürgerlichem Ambiente sagt:

Karl stellt die alten, brennenden Rokokoleuchter auf die Tafel
und bringt die Cigarren.

In unsere tiefen Armstühle gelehnt,
verdauungsseelig,
trinken wir Stoughton mit Curaçao, paffen Ringe
und philosophiren.

Ab und zu
knallt eine Flasche Sect.

Plötzlich
packt mich Sehnsucht.

Laue, wehende Frühlingsluft, Lämmerwölkchen,
mein See unter Fichten!

In der Dorfschenke,
zwischen Kutschern und Bahnarbeitern Weißbier saufen,
mich selbst wieder zurück rudern,
vor meinem blühenden Pfirsichbäumchen
glücklich sein! [8]

In Gesprächsprotokollen mit dem Charakter von Kampfberichten sucht Stolzenberg dem auf die Spur zu kommen, was sich unterhalb der konventionellen Maskerade abspielt:

Ueber die blitzende, blumengeschmückte Festtafel,
weltmännisch verbindlich,
lassen auch wir unsre Kelche klingen.

Dein gekräuselter Christuskopf: Tenorallüren!

Sorgsam schleife ich von jedem Wort die Spitze.

Mit schräg geneigtem Gesicht
bittest du mich, angelegentlichst, dir zuzustimmen.

Ich senke die Augenlider.
Schnell
sehe ich wieder auf.

Durch dein goldnes Monocle,
böse,
sticht mich dein Blick. [9]

Und:

Blick bohrt sich in Blick.

Hinter unsern Stirnen, deutlich, ducken noch die Gedanken.

Ein Wort,
und würgend wälzten wir uns am Boden!

Zwei Sterne mit blühenden Paradiesen
stürzten donnernd ins Nichts!

Jähe Angst
lähmt unsre Lippen.

Ich stottre.

Du lächelst.

Wir wechseln verbindliche Phrasen. [10]

Bei Martens gehts um den Ennui über plumpe Störungen kostbarer Gedankenflüge:

Durch dunklen Erddunst,
lichtwärts,
schießt auf Falkenflügeln
meine Seele.

In Sternenweiten,
zahllos,
kreisen Welten.

Flimmernde Melodieen!

In meine Seligkeit
platzt er hinein, atemlos,
und versetzt mir – den neusten Mikosch. [11]

»Mensch!
Ich habe den Kopf voll.
Laß mich in Ruh!«

Er geht
und sagt, ich bin unhöflich und arrogant. [12]

Paul Ernst – zur Zeit des Regiments Sassenbach mit Arno Holz zusammenarbeitend, doch wohl nur »Einzelschüler« – kam ebenfalls mit leerlaufendem Smalltalk ganz und gar nicht zurecht:

    Du sitzt zwischen Freunden,
    Um den runden Tisch mit der Lampe,
    Und man spricht von allerhand Sachen.

    Plötzlich merkst du, wie nur die andern sprechen,
    Und sich ihre Gesichter verzerren,
    Und das ist alles ekelhaft und gemein.

    Es quillt dir im Herzen fast bis zum Mund.

    Du stehst auf, äusserlich gleichgültig,
    Voll Angst, dass dich jemand fragt,
    Und dass dann dein ganzer Hass herausströmt,
    Ohne dass du ihn halten kannst. [13]

Aus ähnlichem bis gleichem Grund ergreift Georg Stolzenberg die Flucht, »platzt« aber nicht, sondern tröstet sich:

Nein, ich kann nicht unter ihnen leben!

Sie reden so laut,
und ich möchte träumen.

Mein fröhliches Herz verwunden sie,
bis die liebe, schöne Welt
vor meinen feuchten Augen zerrinnt.

Zu euch,
ihr meine liebsten Kameraden:

Blumen, Kinder, Vögel! [14]

Für Rolf Wolfgang Martens ist die Unleidlichkeit im Umgang mit andren einer durch Sozialisation bedingten Deformation geschuldet:

Einst
war meine Seele ein Lämmchen.

Sie packten es,
schoren ihm gierig seinen weißen Flaum,
und auf sein rosiges Schnuffelschnäuzchen schlugen sie mit Knütteln.

Sein jämmerliches Weinen
rührte sie nicht.

Aus meinen Schwielen
wurden Schuppen.

Ich wuchs zum grünen Drachen mit langer Krokodilschnauze,
unter jedem Zahn eine Giftdrüse.

Ich beiße alle in den Bauch!

Sie weichen mir aus.

Ich bin böse, unchristlich und überhaupt ein Gemütsmensch. [15]

Krokodilige Anmerkungen

Robert Wohlleben


1] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 86.
2] Reinhard Piper: Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. München: R. Piper & Co. 1947, S. 225 f.
3] Holz, Phantasus (Reclam), S. 104.
4] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 16.
5] Ebd., S. 8.
6] Ebd. S. 32.
7] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 31.
8] Martens, S. 18.
9] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Drittes Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1903, S. 42.
10] Ebd., S. 45.
11] Gemeint ist ein Witz aus der damals wohl ausufern- oder grassierenden Serie der Mikosch-Witze. Sammlungen u. a.:
— Baron Mikosch der ungarische Witzbold. Drei Theile in einem Band. 1892?
— Neueste Mikosch-Witze und Abenteuer oder der lustige Ungar. Ein Büchlein, pikant aber harmlos. (Reiselektüre für die Flitterwochen), ca. 1900.
— Mikosch-Witze. Eine Sammlung der besten und gediegensten ungarischen Lachpillen, Anekdoten und Scherze (1910).
12] Martens, S. 15.
13] Paul Ernst: Polymeter. Berlin: Johann Sassenbach 1898; Neuausgabe: Paul Ernst: Polymeter. Gedichte. Hg. v. Ralf Gnosa. Leipzig: Reinecke & Voß 2016, S. 13.
14] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Zweites Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 29.
15] Martens, S. 17.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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