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Hamsun: rororo-Mysterien

Knut Hamsun:
Mysterien.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1950 (rororo 7), 214 Seiten.


Der zweite Roman des großen Norwegers erschien 1892. In der mir vorliegenden Taschenbuchausgabe von 1950 wird merkwürdiger- und unverzeihlicherweise der dt. Übersetzer nicht genannt.

Der Titel ist auf den ersten Blick irreführend: Es handelt sich nicht etwa um Mysterien der norwegischen Seele, sondern um ein psychologisch überzeugendes, meisterhaft entwickeltes Charakterbild des – mit dem Autor weitgehend identischen – Helden Johan Nilsen Nagel, den die zeitgenössischen wie auch noch die heutigen Spießer als »vernagelt« empfinden können. Nagel kehrt als 29jähriger, phantasievoller, weitgereister, im Ausland zu Geld gekommener Mann in eine norwegische Hafenstadt (seine Heimatstadt?) zurück und schockiert als Außenseiter die bornierte Gesellschaft durch eine Mischung von Zurückhaltung und ätzenden Späßen.

Insofern ist auch der Titel gerechtfertigt: Für die Kleinbürger mag das Benehmen Nagels mysteriös sein. Trotz der organischen Einbeziehung visionärer und phantastischer Traumerzählungen in die Handlung ist der Roman durchaus realistisch angelegt; dafür spricht vor allem das Grundmotiv, die Rolle des Geldes. Nagel, als typischer Aufsteiger, will ständig Arme beschenken und versucht dabei mit allen möglichen Tricks, anonym zu bleiben, um die Beschenkten nicht zu beschämen und um selbst in den Augen der Kleinbürger nicht als »Wohltäter« zu erscheinen.

Sehr fein setzt Hamsun als kontrapunktisches Gegen- und Nebenmotiv die Musik ein: Nagel hat im Gepäck einen Geigenkasten, der ihm den Nimbus des Künstlers verleiht; erst später entdecken die Spießer, daß der Kasten nur schmutzige Wäsche enthält. Nur widerwillig läßt sich Nagel ein einziges Mal dazu hinreißen, tatsächlich Geige zu spielen. Er will sich ebensowenig als Musiker wie als Wohltäter beliebt machen. Effekt machen will er nur auf seine hoffnungslose Liebe, die Pfarrerstochter Dagny, und eben da gelingt es ihm nicht.

Es wirkt zunächst als Schwäche des Romans, daß Dagny und die anderen Nebenfiguren (Minute und Martha) nur klischeehaft skizziert sind und kaum Charakterkonturen gewinnen. Tatsächlich ist das aber kompositorisch gewollt, denn die Nebenpersonen werden ausschließlich aus der Sicht des Helden, nicht etwa eines allwissenden Erzählers geschildert und bleiben daher notgedrungen blaß. Folgerichtig wird nach dem Tod des Helden im kurzen Schlußkapitel nur angedeutet, aber nicht aufgelöst, in welchen rätselhaften Beziehungen die drei Nebenfiguren untereinander gestanden haben. –

Die Konstellation des scheinbar reichen, in Wahrheit scheiternden Außenseiters im norwegischen Kleinbürgermilieu erinnert an Ibsens »Peer Gynt«. Hamsun muß dieses Vorbild als belastend empfunden haben; anders ist der auffällige Affekt Nagels gegen Ibsen nicht zu erklären. –

Ein dankbares (aber vielleicht schon längst bearbeitetes?) Thema für norwegische Doktoranden wäre ein Vergleich des Buches mit dem zu Unrecht vergessenen Roman »Kristiania-Bohème« von Hans Jäger (1885). Jäger wurde am 30.9.1961 von Dieter Volkmann im »Massengrab« vorgestellt.

Klaus M. Rarisch


 

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