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Ein Wiedertäufer der Poesie
Neues von und über
Richard Huelsenbeck

Richard Huelsenbeck: Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ulrich Karthaus und Horst Krüger. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1984 (Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Dannstadt, 56), 404 Seiten, DM 58,—.

Karin Füllner: Richard Huelsenbeck. Texte und Aktionen eines Dadaisten. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1983 (Reihe Siegen, Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 48, Germanistische Abteilung, herausgegeben von Karl Riha), 315 Seiten, DM 58,—.

Christof Spengemann: Die Wahrheit über Anna Blume. Kritik der Kunst – Kritik der Kritik – Kritik der Zeit. Mit einem Nachwort von Karl Riha. Postskriptum Verlag, Hannover 1985 (Nachdruck der Ausgabe von 1920), 44 Seiten, DM 12,80.

Von Klaus M. Rarisch


Dada ist ein undefinierbares, aber unverwechselbares Phänomen. In den letzten Jahren sind Gesamtausgaben dadaistischer Autoren vorgelegt (Schwitters), begonnen (Mehring) oder wieder abgebrochen worden (Arp). Hinzu kommt eine Reihe von Reprints, zuletzt von Richard Huelsenbeck (1892–1974) ein Bändchen mit zwei fundamentalen Titeln von 1920 (En avant Dada / Deutschland muß untergehen). Sogar frühe vordadaistische Gedichte von Tristan Tzara sind erschienen, womit man vermutlich dem Übersetzer aus dem Rumänischen Gelegenheit geben wollte, sich zu profilieren, während die expressionistische Lyrik Huelsenbecks (z. B. der Georg Heym nahe »Idiot« mit dem starken Schlußsatz »Auf ihn scheißt ein Knecht«) nur sehr vereinzelt in längst wieder vergriffenen Anthologien der Nachkriegszeit zugänglich ist.

Huelsenbeck, 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire als »Trommler des Dadaismus« bekanntgeworden, kommt das Verdienst zu, Dada 1917 nach Berlin gebracht und radikalisiert zu haben. 1916 erschienen in der ersten Fassung seine »Phantastischen Gebete«, die lyrische Bibel, der Psalter der Dadaisten. Auch die dritte, erweiterte Ausgabe von 1960 (im Arche Verlag Zürich) ist längst aus dem Sortiment verschwunden. Es steht schlecht um die Rezeption dieses exorbitanten Dichters, der bei Hitler als Kulturbolschewist galt und heute vielfach nur als Antikommunist zur Kenntnis genommen wird.

Seine Grundposition, die ihn zwischen alle real existierenden Systeme fallen ließ, war eher eine individual-anarchistische. Er hat es einmal – als »Charles R. Hulbeck, M. D.«, Inhaber einer einträglichen psychiatrischen Praxis am Central Park West in New York – so umschrieben: »Dada war aber keine abstrakte Kunst im Sinne Schwitters’, und es war auch keine Bohèmehaltung. Es war vielmehr die Haltung von Jack the Ripper mit gelegentlichen Literaturinteressen« (Brief vom 12. 7. 1958 an den Rezensenten).

Dies und die daraus resultierende Unmöglichkeit, in den USA, wohin er als Nichtjude 1936 emigriert war, eine Dada-Renaissance in Gang zu setzen, brachte ihn zu dem schweren Entschluß, 1969, nach 33 Jahren, New York zu verlassen und in die Schweiz zurückzukehren. Er gab damit die sichere Existenz als Facharzt auf, der sich auf die Wohlstandsneurosen eines in Geld erstickenden Großbürgertums spezialisiert hatte, derselben Klientel, die er als Dadaist attackierte, lächerlich machte, haßte und zugleich bedauerte.

Man kann das jetzt in Huelsenbecks »Autobiographischen Fragmenten« nachlesen, die zehn Jahre nach seinem Tod aus dem Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv Marbach erschienen sind und den bezeichnenden Titel »Reise bis ans Ende der Freiheit« tragen. Dem apokalyptischen Bewußtsein Huelsenbecks in den letzten Lebensjahren entsprach seine Überzeugung, daß die Freiheit des Individuums nach der politischen Irrfahrt seit dem Ersten Weltkrieg nunmehr ein definitives Ende gefunden hätte. Da der Autor seine Aufzeichnungen für die Veröffentlichung nicht mehr redigieren oder stilisieren konnte, lesen sie sich erfrischend spontan, sprunghaft und pointillistisch, so daß man die inhaltlichen Wiederholungen und sprachlichen Anglizismen gern in Kauf nimmt. Die Edition wirkt solide, der Anmerkungsapparat von Ulrich Karthaus zuverlässig, auch wenn auf Seite 366 die Fußnote 23 zu Tzara fehlt.

Eine glückliche Ergänzung bildet die kurz zuvor erschienene Studie von Karin Füllner über Huelsenbeck, die sich ebenfalls weitgehend auf den Marbacher Nachlaß stützt, der offenbar erst zum geringen Teil erschlossen ist. Karthaus scheint die Studie nicht gebührend rezipiert zu haben, denn zu dem Danziger Journalisten Rudolf Wolff, dem ersten Mann von Huelsenbecks Frau Beate, schreibt er »Nicht ermittelt« (S. 372, Anm. 5). Von Füllner (S. 26, Anm. 61) hätte er jedoch biographische Details übernehmen können, z. B. daß Wolff am 7. 10. 1923 Selbstmord verübte.

In seinen Memoiren läßt Huelsenbeck keinen Zweifel darüber, was er mit seinen Dadaschriften ausdrücken wollte: die »Schicksalskraft und die Wut des Zerfalles« (S. 95). Er sagt auch, warum er die USA verließ: »Es ist mir niemals gelungen, irgendeinem wirklich klar zu machen, was Dada tun wollte und was Dada ist, nämlich ein revolutionärer rücksichtsloser Kampf gegen die Kulturideologie, soweit sie als Schutzschild gegen soziale und politische Ungerechtigkeiten benutzt wird. Dada focht für die Freiheit der schöpferischen Persönlichkeit, gegen künstlerischen Snobismus und künstlerische Lügen« (S.321). Über die Wirkungschancen seines Dadaismus machte er sich keine Illusionen, seine Zielgruppe war immer das Bildungsbürgertum, nie die in Unwissenheit und Passivität gehaltene Unterschicht: »… ich glaube, der gemeine Mann hat gar keine Würde. Er ist eins der vielen kleinen überschätzten Stückchen Dreck, die die Massengesellschaft großgezogen hat. Wir leben jetzt in der Zeit, in der der destruktive Einfluß der Massengesellschaft zum erstenmal voll erfaßt wird. Der verengerte Raum zwischen Mensch und Mensch macht das Sich-Ausleben unmöglich, das Aufeinander-gehäuft-Sein erzeugt Feindseligkeit und falsche Werte, es zerstört den Spieltrieb und die Kreativität« (S. 89). Er schrieb dies 1965, aber sein Kulturpessimismus hatte sich seit der Dada-Zeit nicht geändert. Das Bonner Grundgesetz, das auf Würde und Unantastbarkeit vertraut, hätte Huelsenbeck kaum unterzeichnet. Wer das als Leser nicht tolerieren will, sei vor der Lektüre gewarnt. Wer ihn trotzdem liest, erfährt nicht zuletzt, was ein Psychiater wirklich denkt, nicht was die Berufsroutine den Patienten gegenüber verlautbart.

Man darf von Huelsenbecks Erinnerungen, die er zwischen 1940 und 1974 schrieb, keine lückenlose Chronologie seines Lebens erwarten; es bleiben mit Reflexionen durchsetzte Fragmente, die scharfe Schlaglichter auf die Zeitgeschichte werfen. Minutiös schildert er die Uraufführung seiner Schmuggler-Komödie »Warum lacht Frau Balsam?«, mit der sich die Beteiligten unter Lebensgefahr im März 1933, kurz nach der »Machtergreifung«, in Berlin zum letztenmal an die nazideutsche Öffentlichkeit wagen konnten. Die Brutalität der Machthaber wird ebenso beleuchtet wie die schier unglaubliche Naivität der Linken, nachdem Hitler schon in »Mein Kampf« die Dadaisten begeifert hatte. Daß Huelsenbeck überhaupt noch nach Amerika entkommen konnte, lag daran, daß man den in Berlin praktizierenden Arzt H. nicht mit dem Schriftsteller H. identifizierte. Unser heraufdämmernder Computer-Überwachungsstaat wird bürokratische Pannen dieser An in Zukunft auszuschalten wissen.

Zu widersprechen ist der Rezension von Karl Krolow (Der Tagesspiegel vom 22. 7. 1984), wenn Huelsenbecks Haltung auf einen flachen Optimismus heruntergespielt werden soll und wenn es über seine Zeit in Amerika heißt: »Aber die rechte Befriedigung suchte er im Dichten hymnischer, immer noch ein wenig ekstatischer Verse.« Falls es eine Lyrik gibt, die nicht primär der Selbstbefriedigung diente, sind es die Verse von Huelsenbeck, die man ekstatisch nennen kann, aber nicht, verniedlichend und sprachlich schief, »ein wenig ekstatisch«, womit Krolow wohl senil meint.

Das gilt auch für Huelsenbecks Nachkriegsgedichtbände, insbesondere »Die New Yorker Kantaten« (1952) und »Die Antwort der Tiefe« (1954), trotz der Geringschätzung, mit der leider auch die akademische Kritik das Spätwerk behandelt. Wenn Füllner (S. 102) meint: »Die Texte haben beinah etwas peinlich Epigonenhaftes«, so bleibt das bloße Behauptung ohne Beweis, ebenso wie Krolow über die Autobiographie äußert: »Horst Krüger hat ein kluges Vorwort geliefert.« Was Krüger da geliefert, oder besser: sich geleistet hat, strotzt vor Arroganz und journalistischer Oberflächlichkeit, etwa wenn er die Existenzberechtigung des ganzen Buches mit dem Satz in Frage stellt: »Zu den großen Autoren seiner Epoche gehört er (H.) mit Sicherheit nicht« (S. 15). Es bezeugt eine erstaunliche Portion Abgebrühtheit, einen kläglichen Mangel an Sensibilität, sich seines Fehlurteils so sicher zu sein und Huelsenbeck zu diffamieren. Wenn Krüger recht hätte, wäre das Buch besser ungedruckt geblieben. Hat er aber unrecht, hätte die Darmstädter Akademie ihm nicht das Vorwort anvertrauen dürfen.

Aber es wäre ein selbstentlarvender Coup gegen die Interessen der hierzulande herrschenden Clique und gegen ihre These, 1945 hätte die literarische Stunde Null geschlagen, wollte sie sich ihrer bedeutenderen Vorgänger erinnern und den vielgeschmähten Emigranten wenigstens posthum Gerechtigkeit widerfahren lassen. Soviel Altruismus ist sogar einem Hans Werner Richter nicht zuzumuten, der kürzlich im Rundfunk treuherzig eingestand, die Gruppe 47 habe viel zu sehr am eigenen Image basteln müssen, als daß sie sich um die Exilierten hätte kümmern können.

Subjektiv mag ein feuilletonistischer Mitläufer wie Horst Krüger, als er 1945 aus der Großdeutschen Wehrmacht desertierte, eine befreiende Stunde Null erlebt haben, aber das berechtigt ihn keineswegs zur pauschalen Verunglimpfung eines der mutigsten und radikalsten Exponenten der antifaschistischen Literatur. Wer Dada nicht mehr ignorieren kann, versucht wenigstens, Huelsenbeck auf sein eigenes Niveau herabzuziehen: menschlich verständlich, wenn auch nicht eben »würdevoll«.

Krüger meint, Huelsenbecks Name sei »heute einer jungen Generation kaum noch geläufig«, aber »auf eine schwer erklärbare Weise nie ganz abhanden gekommen« (S. 14). Gewiß: schwer erklärbar, nachdem seine Gesinnungsgenossen diesen Namen nach Kräften auszulöschen versuchten. Krüger meint, es führe aus dem Dadaismus »eine untergründige Linie in die Subkultur unserer heutigen Protestszene. Es hat sie nur noch niemand entdeckt« (S. 16). Gewiß, und Feuilletonisten seines Schlages wären die letzten, das zu entdecken.

Die Studie von Karin Füllner beschränkt sich im wesentlichen auf die bisher wenig erforschte urdadaistische Phase Huelsenbecks, auf seine Texte und Aktionen in der Zeit von 1916 bis 1921, woraus sich ihre Geringschätzung des Spätwerks erklärt. Sorgfältig rekonstruiert sie die Entstehung und Veröffentlichung seiner Texte wie auch die erhebliche Wirkung seiner Aktionen, und zwar unter weitgehender Berücksichtigung der ehemaligen Zeitungskritiken, die als primäre Quellen zur Rezeptionsgeschichte Dadas gelten können. Der Rezensent hat daraus viel Neues gelernt und scheut sich nicht, daraufhin dankbar eine frühe Datierung zu berichtigen: Die denkwürdige Sonntagsmatinee in der Berliner »Tribüne« fand am 30. 11. 1919 statt und nicht, wie Walter Mehring irrtümlich angab, bereits am 7. 12. 1918 (vgl. »die horen«, Band 134/1984, S. 154). Tatsächlich hat Huelsenbeck seit seiner Rückkehr aus Zürich im Januar 1917 sogar in der Endphase des Ersten Weltkriegs in Berlin Aktivitäten von erstaunlicher Wirksamkeit entfaltet, die Füllner ausführlich dokumentiert und die – im Vergleich zum späteren Totalitarismus – als Indiz für die relative Harmlosigkeit des Kaiserreichs bei der Disziplinierung der künstlerischen Opposition zu werten sind.

Faszinierend auch, wie Füllner die Strategie der Journalisten zur Bewältigung des Phänomens Dada analysiert. Dies betrifft uns unmittelbar, denn an der Infamie der Presse hat sich ja bis heute, bis zu Gestalten wie Horst Krüger, nichts geändert. Die Zeitungen waren leider nicht, wie Huelsenbeck selbst (S. 74) es sieht, nur »hilflos«. Vielmehr hatte Alfred Kerr (Berliner Tageblatt vom l. 12. 1919) zu Dada das Schlagwort »Ulk mit Weltanschauung« geprägt, das als »Topos der Dada-Rezeption« (Füllner, S. 187) von unzähligen Journalisten tradiert wurde, noch in den Nachrufen auf Huelsenbeck 1974 wieder auftauchte und schon am 3. 12. 1919 zum »Bierulk« versimpelt wurde (Füllner, S. 189).

Ergänzend ist anzumerken, daß auch der scheinbar omnipotente, originalitätssüchtige Kritikerpapst Kerr hier nur von einem Vorgänger abgeschrieben hat, von Paul Schlenther aus dessen Besprechung der Uraufführung der Komödie »Sozialaristokraten« von Arno Holz (Vossische Zeitung vom 16. 6. 1897) mit der diffamierenden Formel »Bierulk«. Holz selbst zitierte den Verriß in seinen Werken mehrmals, so daß Kerr, der Holz ebenfalls ablehnte, den Topos »Ulk« noch 22 Jahre danach in Erinnerung hatte und als Waffe gegen Dada einsetzte.

Übrigens war auch Huelsenbeck von Holz beeinflußt, wie aus seinen Texten zu schließen ist. Sein Gedicht »Das indianische Meer und die ganz rote Sonne« (aus den »Phantastischen Gebeten«) schließt mit der Parodie auf Paul Gerhardt: »o Tzara o o Embryo o Haupt voll Blut und Wunden« (Füllner, S. 130). Er greift damit auf den Anfang der »Blechschmiede« von Holz zurück, der schon in der ersten Fassung von 1902 (S. 4) lautet: »O Haupt voll Blut und Wunden, / o deutsche Poesie, / wie hat man dir geschunden / dein Tüpferl auf dem i!« Die parodistische Methode (Übertragung der Dornenkrone aus der religiösen auf die poetische Sphäre) ist bei den Autoren identisch.

In seinen Memoiren kommt Huelsenbeck mehrfach auf die theoretischen Grundlagen des Dadaismus zu sprechen. »Wir werden aus allen Theorien das Beste herauspicken«, sagte er programmatisch zu Hugo Ball (S. 120); später gibt er als Ursprung Dadas »die oft diskutierte Idee der Relativität der Kunst« an (S. 167). Diese fundamentale Idee stammt ebenfalls von Holz, der sie in seiner Schrift »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« (1890) entwickelt, theoretisch begründet und damit eine breite Literaturdiskussion eingeleitet hatte. Hier verläuft die – in der Tat »untergründige« – Entwicklungslinie vom Naturalismus zu Dada, und man kann Huelsenbeck bescheinigen, daß er aus dieser Theorie wirklich das Wesentliche und Beste herauszupicken verstanden hat. Er hat immer betont, was er dem Rezensenten am 11. 6. 1957 schrieb: »… in diesem Sinn ist die revolutionaere Kraft Dadas notwendig und wird ueberleben (besonders im Gebiet der Kunst, das ja nur ein Gebiet des Seins ist).«

Füllner analysiert auch die von 1918 bis 1921 erschienenen, noch immer kaum bekannten Novellen und Romane Huelsenbecks. Man vermißt dabei aber eine Auseinandersetzung mit der lesenswerten Arbeit von Lothar Baumann, »Die erzählende Prosa der deutschsprachigen Dadaisten, dargestellt am Beispiel von Hugo Ball, Richard Huelsenbeck und Kurt Schwitters«, phil. Diss. Mainz 1977. Zur Sprache kommt bei Füllner (S. 256, Anm. 75) zwar ein unveröffentlichtes Romanfragment von Huelsenbeck im Marbacher Nachlaß »Dr. Jacques«, aber sein 1960 entstandener abgeschlossener Roman aus dem New Yorker Verbrechermilieu »Der große Adolfo« bleibt unerwähnt, obwohl gerade dieses umfangreiche Manuskript wegen seiner gesellschaftskritischen Akzentuierung eine Würdigung verdient hätte. Der Roman ist merkwürdigerweise bis heute unveröffentlicht; nur ein kurzer Ausschnitt daraus erschien unter dem Titel »Börsenkrach« in dem Flugblatt »Das Massengrab – Blätter für das Menschenmaterial« (Berlin, Nr. l, März 1961).

Überhaupt kommen bei Füllner, bedingt durch die konzeptionelle Beschränkung ihrer Arbeit, Huelsenbecks Texte und Aktivitäten nach 1945 zu kurz. Sie reflektiert die um 1960 »massiv geführte Kritik Huelsenbecks am Lautgedicht« (S. 94), übersieht aber, daß er in dem 1959 entstandenen Zyklus »Die Kuckjohnaden« selbst sogar ein neues Lautgedicht veröffentlichte (»Phantastische Gebete«, 1960, S. 78): Er war eben kein Systematiker, der sich durch den damaligen, 1968 beigelegten Streit mit Raoul Hausmann um das Lautgedicht in der eigenen poetischen Produktion hätte einschränken lassen. Huelsenbecks ultimistische Phase, sein lyrischer Beitrag »Aus dem apokalyptischen Lesebuch« zum »Ultimistischen Almanach« (Köln 1965, S. 43) wie auch sein dezidiertes Bekenntnis zum Ultimismus (vgl. »die horen«, Band 125/1982, S. 184) wird von Füllner gänzlich ignoriert.

Das beginnt schon beim Motto ihres Buches, einer unvollständig zitierten Besprechung von Günter Bruno Fuchs, die sich, wie aus den von ihr gestrichenen Sätzen hervorgeht, auf Huelsenbecks Auftritt am 8. 8. 1958 bei der Berliner literarischen »Gruppe der Vier + 4«, also bei den Ultimisten bezieht. Über diesen Abend erschienen in den Berliner Zeitungen sieben Artikel, die in Füllners Bibliographie der Pressereaktionen (S. 296) sämtlich fehlen, so daß die Vermutung naheliegt, sie habe diesen letzten Entwicklungsschritt nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wie auch ihr ganzes Buch mit Huelsenbecks vorletzter Standortbestimmung schließt, mit seiner Annäherung an den Existentialismus.

Dankenswerterweise behandelt Füllner (S. 16 f.) die skandalöse »Monat«-Affäre als das »extremste Beispiel« für Huelsenbecks »Verdrängung in den Hintergrund«. Edouard Roditi veröffentlichte im November 1959 ein Interview mit Hannah Höch über alle Berliner Dadaisten im »Monat« und unterschlug dabei Huelsenbecks Namen, was mehrere protestierende Leserbriefe nach sich zog. Anzumerken bleibt: Walter Höllerer hatte Huelsenbeck kurz zuvor in New York besucht, so daß Huelsenbeck ihn bat, ebenfalls beim »Monat« zu intervenieren, jedoch ohne jeden Erfolg: Höllerer geruhte nicht zu antworten, wie Huelsenbeck dem Rezensenten empört mitteilte (Briefe vom 26. l. und 23. 3. 1960). Wer die Macht der Literaturmanager kennt, den braucht es nicht zu erstaunen, daß Huelsenbeck auch weiterhin in den Hintergrund gedrängt wurde.

Seit seinem ersten Auftritt im Zürcher Cabaret Voltaire war die große Trommel das Markenzeichen Huelsenbecks. Ausführlich behandelt Füllner das Trommelmotiv in der Literatur, erwähnt auch den Blechtrommler Oskar (S. 88) und zitiert in der Bibliographie sogar zwei einschlägige Presseartikel (S. 297), die sie auf die Spur der Wahrheit hätten führen müssen: daß nämlich Figuren und Motive der »Blechtrommel« von Grass bis in die Details sprachlicher Formulierungen direkt auf Huelsenbecks 1918 erschienene Novelle »Verwandlungen« zurückzuführen sind. Aber Füllner – warum wohl? – erwähnt weder den Plagiatsvorwurf gegen Grass noch die entsprechende Beweisführung, die publiziert und für jedermann nachprüfbar ist (Klaus M. Rarisch, »Günter Grass als Plagiator«, in: »notabene«, Heft 3 vom September 1970, S. 60-64). Eine derart einäugige Literaturgeschichtsschreibung wird ihrem Gegenstand nicht gerecht und dürfte der Dada-Rezeption kaum nützlich sein.

Ein Glanzstück der Germanistik ist dagegen Füllners Interpretation der »Phantastischen Gebete«. Sie rekonstruiert aus Tagebuchnotizen von Hugo Ball die Entstehung der Gedichte als eine Art Sympoesie, wie sie schon den Romantikern vorschwebte. Danach schrieben beide 1916 zeitweilig in Balls Zimmer und nahmen dabei Assoziationen aus der Umwelt auf, etwa die Arbeit eines Sargtischlers unten im Hof (S. 125). Huelsenbeck bestätigt es in den Memoiren: »Ball hatte einen Sargmacher, ich einen Faßmacher. Wir beide lebten in einer Lärmhölle« (S. 149). Füllner arbeitet überzeugend heraus, daß auf diese Weise das aus dem Kontext nicht erklärbare Wort »Schreinerwerkstatt« Eingang in Huelsenbecks Gedicht »Kesselpauke« gefunden hat (S. 128). Ebenso scharfsinnig ist ihre Deutung der »Hymne« mit dem Vergleich zu Jakob van Hoddis (S. 121-124), die nach Kenntnis von Huelsenbecks Autobiographie noch vertieft werden kann.

In der »Hymne« taucht dreimal (u. a. sehr exponiert in der ersten und letzten Zeile) die Floskel »O du Metallvogel« auf; die Bedeutung dieser Schlüssel-Assoziation ist umstritten. Huelsenbeck schreibt 1965 über seine Studienzeit in Münster (vermutlich 1913): »Ich saß ruhig in meinem Zimmer in der Westfalenstadt, in der vor Generationen Thomas Münzer, aufgehängt in einem Käfig an dem Kirchtunn starb …" (S. 89). Münzer wurde 1525 in Mühlhausen hingerichtet; 1535 wurden nach grausamen Foltern die Leichen der Wiedertäufer in Metallkäfigen am Turm der Lambertikirche zu Münster aufgehängt. Daß dem psychoanalytisch geschulten Huelsenbeck, der sonst bei seinen Angaben recht präzise ist, diese Verwechslung unterläuft, als er sich nach 52 Jahren an Münster erinnert, kann kein Zufall sein!

Vielmehr dürfte ihm bei der Niederschrift der »Hymne« 1916 die Assoziation Metallkäfig–Metallvogel vorgeschwebt haben, worauf zwei andere Textstellen deuten: »die Irren sind los und der Papst geht hoch«, nämlich der Wiedertäuferkönig (»der Papst«) Jan van Leiden unter dem Gejohle der entfesselten Zuschauermenge (»die Irren«). Sodann ist von »Universitätsprofessoren« die Rede, wonach der Ort der Handlung als Universitätsstadt (Münster) lokalisiert werden kann. Das Gedicht endet mit der Zeile »O du Metallvogel meiner Seele – o du verfluchter Lämmergeier«.

Huelsenbeck identifiziert sich gleichsam psychisch mit dem, was er im Text zuvor »o Aufstieg meiner Seele« nennt, mit der wiedertäuferischen, den Dadaismus quasi auf der religiösen Ebene antizipierenden Rebellion, die im Käfig ihr tödliches Ende findet, in dem »Metallvogel«, den er schließlich konsequent als »Lämmergeier« verflucht, als Leichenfresser. Ein Menschenalter später ist ihm nur noch dieses tiefverwurzelte, vielschichtige Bild als Autopsychogramm gewärtig. Die historischen Realien dagegen, die toten Wiedertäufer in den Käfigen, hat er verdrängt. So kommt es zu der Verwechslung mit Thomas Münzer.

Über Schwitters hat sich Huelsenbeck immer abfällig geäußert. Schon in seiner Einleitung zum Dada-Almanach von 1920 (S. 9) heißt es: »Dada lehnt Arbeiten wie die berühmte ›Anna Blume‹ des Herrn Kurt Schwitters grundsätzlich und energisch ab.« In den Memoiren schreibt er 1955: »›Anna Blume‹ wurde das erfolgreichste dadaistische Lyrikbuch, hat aber durch hausbackene, teils plumpe Ironie dem Publikum eine falsche Vorstellung von Dada gegeben« (S. 168 f.).

In der Tat war »Anna Blume« so erfolgreich, daß ihr Christof Spengemann, ein Freund von Schwitters, 1920 ein ganzes Buch widmete, auf dessen Reprint, ansprechend aufgemacht und informativ kommentiert, abschließend hingewiesen sei. Spengemann betont das kreatürlich Undefinierbare an Dada und formuliert einfache Wahrheiten eindringlich, etwa (S. 5): »Wesentlich ist, daß Anna Blume werden konnte. / Und da sie werden konnte, mußte sie werden. / Wesentlich ist, daß man sie nicht versteht.«

Unter den vielen kuriosen Blumen im Garten Dadas eine der kuriosesten, diese Liebeserklärung an Anna. Huelsenbeck (S. 126) beschreibt den Vortrag des allerersten seiner »Phantastischen Gebete« am 9. März 1916 im Cabaret Voltaire – nicht zufällig trägt es, wie Dada oder Anna, einen lapidaren Titel aus vier Buchstaben: »Baum«.

Erschienen in
die horen, Bd. 140, IV/1985



 


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