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Arno Holz als Plagiator?
Von Klaus M. Rarisch

Ich hatte zwei Gedichte aus dem Ur-Phantasus von Arno Holz mit je einem Gedicht der Vorgänger Hermann Allmers und Friedrich Rückert konfrontiert, um das formal Neue durch den Vergleich mit dem motivisch Ähnlichen konventioneller Lyrik herauszustellen. Man fragt mich nun mit freundschaftlicher Provokation, ob die »hübsche« Parallele das Resultat bewußter oder unbewußter Verarbeitung (»Kryptomnesie«) durch Holz sei. Da muß ich zunächst meine eigene Praxis als Lyriker zurückstellen. Mein schwaches Gedächtnis, sowohl für eigene als auch für fremde Verse, würde mir eine Übernahme aus dem Bestand der Vorgänger unmöglich machen. Ich müßte ein Gedicht der Vergangenheit wortwörtlich nachlesen, um zu einem der vielen (bewußten) Zitate in meiner Lyrik zu kommen. Anders dürfte Arno Holz gearbeitet haben, dessen profunde Belesenheit und dessen messerscharfes Gedächtnis bezeugt sind. Ob er also hier die Motive der Vorgänger bewußt oder unbewußt übernommen hat, ist nicht zu entscheiden und bleibt gleichgültig, weil es ihm darauf nicht angekommen sein kann, denn es handelt sich hier gerade nicht, wie mein Freund Robert Wohlleben meint, um »zwangsläufig die ähnliche Ausformung bei Behandlung ähnlicher bis gleicher Motive«. Zwar sind die Motive in den Gedichten von Holz und der Vorgänger ähnlich bis gleich, aber die Ausformung durch Holz ist derjenigen in der konventionellen Lyrik eben keineswegs ähnlich, sondern diametral entgegengesetzt. Ich wage die Hypothese: Holz könnte sich den kryptischen Spaß erlaubt haben, die mehr oder weniger banalen Motive seiner (von ihm ungenannten) Vorgänger teilweise wortwörtlich zu übernehmen, um zu demonstrieren, was daraus in seiner neuen Form zu machen sei. Dieser literarische Scherz könnte Holz desto mehr amüsiert haben, als er ja vermuten durfte, daß erst ein Interpret der nächsten Generation ihm auf die Schliche kommen würde. – – – Nun zieht mein Freund mir aber die Daumenschrauben fester an, indem er meint, ich MÜSSE jetzt fragen: »Arno Holz als Plagiator?« *). Wäre mein Freund nicht mein Freund, könnte ich das als Zumutung zurückweisen. So aber will ich die Antwort nicht schuldig bleiben.

Der Plagiatsverdacht taucht immer dann auf, wenn sich der Plagiator bemüht, das Plagiat durch auffällige Veränderungen des übernommenen Textes zu vertuschen. Daß davon hier keine Rede sein kann, ist so offensichtlich, daß sich weitere Erörterungen dazu erübrigen. Zweitens spreche ich (z. B. im Verhältnis von Günter Grass zu Richard Huelsenbeck) von einem Plagiat, wenn der Plagiator das Plagiierte nicht vertieft, sondern im Gegenteil aufgebauscht, breitgewalzt und verflacht hat. Selbstverständlich ist Shakespeare, wenn er Renaissance-Novellen als Vorlage für seine Dramen verwertet, kein Plagiator; vielmehr hat er den mehr oder weniger rohen Stoff erst zur Weltliteratur erhoben. Prüfen wir unter diesem Aspekt Arno Holz. Lyrik ist Wortkunst – vergleichen wir also den Wortbestand bei Holz und den Vorgängern. Allmers: 52 Worte, Holz: 63 Worte (= 121 %) – also keine Rede von Breitwalzung. Jedoch von Vertiefung! Allmers spricht die »Himmelsbläue« und das »tiefe Blau« an, Holz, als der weitaus präzisere Beobachter von Natureindrücken und Naturempfindungen, benennt die gegenteilige Farbe: »ein sanftes Roth«. Jeder, der einmal im Freien in den Himmel geschaut und dann die Augen geschlossen hat, kann die Wahrheit dieser Empfindung bestätigen.

Was übrigens nichts mit den mißverständlichen Begriffen »Naturalismus« oder »Sekundenstil« zu tun hat, die Holz selbst bekanntlich scharf ablehnte, u. a. in der Auswahlausgabe seiner Briefe, München 1948, nachzulesen (vgl. den Brief an Julius Bab vom 13.XII.1915, S. 206, und den Brief an Carl Meißner vom 1.V.1916, S. 220, über Spittelers »Konrad der Leutnant«). Im Ur-Phantasus präsentiert er gerade KEINEN Sekundenstil. In dem auf Rückert zurückzuführenden Gedicht bringt er zunächst (bis Zeile 10 einschließlich) Vergangenheitsformen, geht im folgenden zur Gegenwart über und läßt schließlich noch mit dem »schönen Schein« sogar eine Zukunftsperspektive anklingen. Es ist ganz ausgeschlossen, dies in irgendwelche Sekundenschritte aufzuteilen. Eher wäre das noch bei der Rückertschen Vorlage denkbar. Die Zäsur zwischen den beiden Strophen könnte als deutlicher, innerhalb einer Sekunde vollziehbarer Übergang von der Vergangenheit (»Wie lieblich WAR …«) zur Gegenwart (»Wie lieblich IST …«) betrachtet werden.

Ferner: Rückert: 43 Worte, Holz: 61 Worte (= 142 %). Der geringfügig höhere Bestand rechtfertigt sich durch die dynamisierte optische Wahrnehmung und den »schönen Schein«, mit dem Holz über Rückert hinausgeht. (Wodurch ja das großartige Rückertsche Wortspiel »linden Duft / Lindenduft« keineswegs herabgemindert wird.) – – – Ein anderer, sehr genau analysierender Freund brachte nun eine Wertung ins Spiel, die ich gerade vermieden hatte. Ernst-Jürgen Dreyer meinte nämlich, das Holz-Gedicht sei durch die Zeile 10

Und ich stellte das Glas wieder auf meinen Schreibtisch

entwertet. Richtig: Diese Zeile ist ein störendes Prosa-Einsprengsel und hat in einem Gedicht nichts zu suchen! ABER: Holz hat das selbst bemerkt und den Makel später getilgt. Holz selbst fand zahlreiche Gedichte aus dem Ur-Phantasus unvollkommen. Er zählt sie auf (Briefe, S. 231), darunter ausdrücklich auch »Ich trat in mein Zimmer«. In diesem Brief vom 3.I.1917 an Franz Servaes bezieht er sich auf seine Korrekturen für die Riesen-Großfolio-Insel-Ausgabe von 1916. Servaes hatte ihm einen »verschnörkelten Altersstil« unterstellt. Holz hält dagegen, daß er es jetzt »spielend« könne und daß die genannten Gedichte nunmehr zum »Funkeln« gebracht worden seien. Ich habe mir nun den Spaß gemacht, in dem Folianten nachzuschlagen (was immer auch mit körperlicher Anstrengung verbunden ist) – und siehe da: Holz hatte sich geirrt! Denn dort, auf S. 55, lautet die inkriminierte Zeile noch unverändert:

Und ich stellte das Glas wieder auf meinen Schreibtisch.

Eben das war einer der Gründe dafür, warum Holz später auch die Insel-Fassung verworfen und in der nächsten Version (Werk-Ausgabe von 1925, Bd 7, S. 231) vervollkommnet hat. Wie fanatisch wortkunstbesessen muß dieser Arno Holz gearbeitet haben, um ein halbes Leben lang an solchen scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten mit nie erlahmender Selbstkritik zu feilen! Und dem Leser sollte es Vergnügen bereiten, diesen langen Perfektionierungsprozeß zu verfolgen, und sei es auch nur an dem Beispiel einer einzigen Zeile.

In der Phantasus-Nachlaßfassung (Luchterhand Bd I, S. 280) hat er die Zeile wie folgt umgeformt:

Und
ich stellte das
Glas,
behutsam, sorglich, vorsichtig,
andächtig, versunken,
wieder … auf … meinen
alten,
buchenen, konzeptpapierbedeckten, tintenfleckenüberkleckten, simpelen
Schreibtisch.

Jetzt »stimmt« die Stelle plötzlich. Und dieses Beispiel für die Entwicklung der Form, dem man mühelos tausend andere hinzufügen könnte, ist ein schlagendes Argument gegen das Verdikt der Makulaturprofessoren **), wonach der Ur-Phantasus akzeptabel ist, dagegen die späteren Fassungen unerträglich seien. ***) Zugleich ist das Zitat ein instruktives Beispiel für das auf Zahlenreihen zurückzuführende rhythmische Empfinden von Holz. Er bringt nämlich hier – wie auch sonst meistens – je FÜNF Adverbien (»behutsam« etc.) und Adjektive (»alten« etc.), allerdings mit je unterschiedlicher Zeilenaufteilung (hier: 3/2 und 1/4). Das Grundprinzip dieser Zahlenproportionen ist meines Erachtens das der Asymmetrie, das auch die Strophengliederung im Sonett beherrscht.

Meine Antwort auf die Ausgangsfrage lautet klipp und klar: N E I N !

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*) Die Formulierung spielt natürlich auf Rarischens Streitschrift »Günter Grass als Plagiator?« an:

Meiendorfer Druck Nr. 30

Klaus M. Rarisch
Günter Grass als Plagiator?
Robert Wohlleben Verlag, Hamburg 1994 (Meiendorfer Druck 30)
16 unpaginierte Seiten, unaufgeschnitten
und ohne Umschlag
(250 Exemplare)

Klaus M. Rarisch sieht mit scharfem Blick die »Blechtrommel« an und erkennt in deren Matrix den Flickenteppich zusammen-»geliehener« Motive. Leihgeber sind etwa Richard Huelsenbeck und der Comte de Lautréamont. Dem Autor Grass werden Originalität und sprachliche Kompetenz abgestritten, daß die Funken fliegen. So ist eine Streitschrift nach solidem alten Muster entstanden.

**) Aus Arno Holzens Blechschmiede:

    Makulaturprofessor:

    Wohin auch meine Zehen treten –
    disjekte Membra des Poeten.
    Dies Kunstwerk tut mir wirklich weh,
    das macht, ihm fehlt die Grundidee!

***) Auf solcherlei Mißverständ-, Verwirr- und Blindnisse bei der Wahrnehmung des Groß-Phantasus bin ich in meinem Aufsatz » Der wahre Phantasus. Studie zur Konzeption des Hauptwerks von Arno Holz« (die horen 116, 4. Quartal 1979, S. 84-102) zu sprechen gekommen. Auch in »Zielscheibe Arno Holz« (die horen 103, 3. Quartal 1976, S. 63 f.), wo es um die Arno-Holz-Monographie von Gerhard Schulz geht. Robert Wohlleben


Klaus M. Rarisch Februar 1997

Rechte am mitgeteilten Text bei Klaus M. Rarisch

     
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