Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Hannes Schwenger

Berlin, 29.3.1985

Lieber Herr Schwenger -:

Für die Einladung zu Ihrer gestrigen Mitgliederversammlung möchte ich Ihnen noch einmal danken. Daß mein Tagesordnungspunkt erst gegen 23 Uhr aufgerufen werden konnte, lag sicher nicht an Ihnen, hat aber leider dazu geführt, daß ich unter Zeitdruck sprechen mußte und daß die erhoffte intensive Diskussion nicht zustande kam. Ich möchte daher meine Position präzisieren, wobei ich mir erlaube, auch auf Argumente einzugehen, die Sie in Ihrem »VS-Berlin-Papier« (Sondernummer Februar 1985) veröffentlicht haben.

Als Gast Ihrer Versammlung kommt es mir nicht zu, die Anwesenden zu kritisieren, aber vielleicht darf ich meinen Eindruck zusammenfassen: Man schien mehrheitlich sehr wenig Interesse für das Thema »Literaturförderung« aufzubringen, während man zuvor die Verbandsinterna höchst extensiv bis in die unwichtigsten Details und fast bis zum Überdruß diskutiert hatte. Offenbar fühlte sich die Mehrheit der Versammelten in diesem Milieu fröhlicher Vereinsmeierei recht wohl. Davon deutlich abgehoben argumentierte eine kleinere Gruppe unter Führung von Günter Grass, die ihre parteipolitischen Sonderinteressen durchsetzen wollte und den VS nur als Instrument dazu benutzte, was die Mehrheit jedoch nicht zu stören schien. Am interessantesten für mich war das Kunststück, das Dr. Pforte vorführte, als er sich selbst plötzlich in zwei kontroverse Personen spaltete – hier den »VS-Kollegen« und da den Sendboten von Kultursenator Hassemer. Mir ist nicht klar, mit welchen Erfolgschancen der VS seine Forderungen an ein Mitglied aus den eigenen Reihen adressiert und wie Dr. Pforte die daraus resultierende Interessenkollision lösen kann – insofern weiß ich auch nicht, ob Ihr Briefwechsel mit Dr. Pforte in Ihrem Mitteilungsblatt nur eine Spiegelfechterei darstellt; trotzdem will ich Ihnen die Gutgläuhigkeit nicht absprechen und Ihre Argumente ernst nehmen.

Die Eröffnung, der VS habe sich neuerdings für (bzw. nicht gegen) die Bekanntgabe der Namen der Berliner Literaturstipendiaten ausgesprochen, wurde leider durch die Intervention von Aldona Gustas wieder zunichte gemacht, denn wenn es im Belieben der Geförderten steht, anonym zu bleiben, bleibt dem Mißbrauch nach wie vor Tür und Tor geöffnet. Natürlich ist die Interessenlage von Aldona Gustas klar, ihre Entscheidungen als Jurymitglied nicht öffentlich rechtfertigen zu wollen. Georg Holmsten machte mir unter vier Augen sogar den Vorwurf, ich hätte als Beamter mit entsprechender Sicherheit kein Verständnis für die Probleme betroffener Kollegen. Nun, ich kenne Holmsten und seine Frau seit 24 Jahren, beide haben im »Massengrab« gelesen und müßten es eigentlich besser wissen: daß ich kein Beamter bin und mich jahrelang unter persönlichem und finanziellem Einsatz um andere Autoren bemüht habe, bis zu dem äußersten Punkt, daß ich selber nicht mehr zum Sehreiben kam. Hier setzt nun mein erster Einwand gegen Herrn Pforte ein: er befürwortet es, bei der Auswahl der Literaturstipendiaten auch soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Ich halte diese Verquickung von sozialen und kulturpolitischen Aspekten für äußerst bedenklich. Entweder unterstützt der Staat notleidende Schriftsteller oder er fördert Nachwuchstalente. Beides ist legitim, aber beides ist nicht mit dem Stichwort »Arbeitsstipendien« unter einen Hut zu bringen. Selbst wenn Herr Pforte behauptet, soziale Gründe würden bei der Auswahl nur subsidiär, also bei Vorliegen mehrerer gleichwertiger Manuskripte, berücksichtigt, ist auch das keineswegs stichhaltig. Erstens hätte jeder als wertvoll akzeptierte Autor genau den gleichen (moralischen, leider nicht juristischen) Anspruch auf Förderung. Wird aber hier plötzlich doch der Zufall in Form einer (noch dazu unkontrollierten) Notlage eines einzelnen Autors durch die Hintertür ins Spiel gebracht, führt sich das Jury-Prinzip selbst ad absurdum – dann sollte man konsequenterweise gleich die Juries abschaffen und den Zufall per Losverfahren entscheiden lassen. Zweitens bieten die sozialen Aspekte einen weiteren Ansatzpunkt zur Korrumpierung der Juroren, denn soziale Gründe dürften sich bei einigem Geschick immer als Vorwand finden lassen, zumal wenn nach der Vorstellung von Aldona Gustas gerade die notleidenden Stipendiaten nach deren eigener Entscheidung anonym bleiben können. Dagegen wäre bei einem separaten staatlichen Sozialunterstützungsfonds für Schriftsteller die Anonymität der Unterstützungsempfänger natürlich unbestritten conditio sine qua non.

Mein zweiter Einwand gegen Herrn Pforte betrifft die Frage der Auflagen. Ich habe das Reizwort »Wewelsfleth« bewußt erwähnt, weil Grass anwesend war. Daß er sich dazu nicht äußerte, erstaunt mich nicht. Laut Tagesspiegel vom 24.1.1985 ist das Projekt Wewelsfleth zunächst für zehn Jahre bewilligt worden, für mindestens 595.000 DM (115.000 DM Umbau- plus 480.000 DM Bewirtschaftungskosten); mit diesem Betrag hätte man auf andere Weise eine weitaus effektivere Literaturförderung betreiben können, bei allem Verständnis dafür, daß der VS hier offenbar glaubte, seinem Renommiermitglied Grass nicht in die Parade fahren zu dürfen. Nach dem Tagesspiegel-Bericht sollen jeweils drei Berliner Autoren für sechs Monate nach Wewelsfleth geschickt werden, das sind für die bewilligten zehn Jahre immerhin nicht weniger als 60 Stipendiaten. Die Hochrechnung der 1984 von Herrn Hassemer geförderten 17 Autoren ergibt für diesen Zeitraum 170, von denen 60 (also 35,3 %, also mehr als ein Drittel) nach Wewelsfleth reisen sollen. Da kann die dürre Erklärung von Herrn Pforte, es seien keine »Zwangsverschickungen« beabsichtigt, absolut nicht befriedigen. Herr Hassemer treibt damit sein elitäres Förderungssystem auf die Spitze, indem er zwei Klassen von Stipendiaten schafft: eine »Elite«, die nach Wewelsfleth fahren »darf«, und eine Unterschicht, die in Berlin bleiben »muß«. Bei dem Ansehen, das Herr Grass genießt, und bei seinem enormen Einfluß in allen Medien dürfte kaurn einer der für Wewelsfleth Auserkorenen es sich leisten können, das Angebot abzulehnen, selbst wenn er vielleieht in Berlin sinnvoller leben und arbeiten könnte, und selbst wenn ihm Herr Grass vielleicht weniger sympathisch wäre – solche Leute soll es ja auch geben. Hassemer schrieb mir in dem von Ihnen veröffentlichten Brief vom 27.4.84, er wolle es vermeiden,

    daß ein Autor sich aufgrund einer öffentlich bekannten Förderung in irgendeiner Weise abhängig von der öffentlichen Hand fühlt ...

Nach dem neuen System jedoch müßten die Wewelsflether sich zwangsläufig von Herrn Grass abhängig fühlen und würden vom Regen in die Traufe kommen. Darin liegt ein eklatanter Widerspruch zu Hassemers Geheimhaltungsintentionen, den Herr Pforte einmal aufklären sollte.

Ich kritisiere an Wewelsfleth ferner den zukünftigen Machtzuwachs der Juries, die nun nicht nur die Stipendiaten bestimmen werden, sondern zusätzlich noch die Wewelsflether »Elite«. wenn der VS es beharrlich ablehnt, die Juries abzuschaffen, sollte er wenigstens deren Kompetenzen einschränken und öffentlich kontrollierbar machen. Aber das Gegenteil geschieht.

Sie haben gestern in der Debatte für die Juries mehr »Rotation« und »Richtungspluralität« gefordert, und dasselbe Argument findet sich in Ihrem Mitteilungsblatt wieder.

In den 27 Jahren meiner literarischen Tätigkeit habe ich in Berlin in puncto Literaturförderung auch nicht die Spur einer »Richtungspluralität« feststellen können. Gefördert wurden diejenigen Richtungen, die der Gruppe 47 und ihren Nachfolge-Cliquen genehm waren; konträre Richtungen (z.B. die, der ich selbst angehöre) wurden boykottiert. Nach dem Weggang von H. W. Richter und dem Rückzug von Höllerer wird die förderungswürdige Richtung in Zukunft via Wewelsfleth mehr denn je von Grass bestimmt werden. Willfährige Juries werden sich immer finden lassen. Somit ist Ihre berechtigte Forderung nach »Richtungspluralität« leider naiv und utopisch.

Zur »Rotation« meine ich: es ehrt Sie, daß Sie selbst nach einem Jahr rotieren mußten und nicht wieder in die Jury berufen wurden, zeigt es doch, daß Sie persönlich immerhin als unbequem empfunden wurden. (Es wäre übrigens interessant zu erfahren, aufgrund welcher Voten man Sie ausgebootet hat.) Es hätte ja Ihren Mitjuroren freigestanden, daraufhin unter Protest zurückzutreten und somit eine Rotation zu erzwingen, zumal Sie schreiben, die anderen Juroren selbst hätten »Zwänge« (welche???) beanstandet. Es scheint also mit der vielbeschworenen »Solidarität« der »Kollegen« nicht weit her zu sein, wenn es um Geldvergabe und damit um Macht geht. Ich vertrete exakt die Gegenposition und halte von der Rotation der Juroren gar nichts. Je häufiger und schneller nämlich rotiert wird, desto näher liegt die Gefahr von Mißbrauch und Korruption, weil die Juroren des einen Jahres sich dann umso schneller in Antragsteller des nächsten Jahres verwandeln können, so daß man sich die Stipendien umso leichter gegenseitig zuschanzen kann. Solange sich Aldona Gustas durchsetzt, solange also Stipendiaten immer den Ausweg haben, anonym zu bleiben, solange wird das Giftspritzenprinzip seine Wirksamkeit entfalten. Es versteht sich von selbst, daß ich damit nicht etwa Aldona Gustas persönlich angreifen will, sondern das System, das schwache und fehlbare Menschen in der Jurorenrolle immer wieder in Versuchung führen wird, die staatlichen Stipendien als Selbstbedienungsladen zu mißbrauchen. Und daß Herr Hassemer selbst den Stipendiaten die Charakterschwäche unterstellt, sich vom Staat abhängig zu fühlen, habe ich ja zur Genüge ausgeführt. Nur ist der Mensch leider so beschaffen, daß er sich nicht von dem Abstraktum »Staat« abhängig macht, sondern von dessen konkreten Repräsentanten in Gestalt von Juroren.

Lassen Sie mich noch auf zwei weitere Punkte Ihrer Stellungnahme zum Literaturbericht des Senats eingehen. Sie kritisieren zu Recht

    die Aushöhlung des Copyrights im Urheberrecht ...

- worin ich Ihnen zustimme, auch wenn dafür in erster Linie die VG WORT zuständig ist. Wenn aber die SFB-Sendung »Journal« vom 5.2.1982 zutrifft, haben Sie leider selbst eine völlig verfehlte Attacke gegen das geltende Urheberrecht geritten, und zwar dahingehend, die Schutzfrist von 70 Jahren sollte auf 50 Jahre verkürzt und die Erben des Urhebers für die restlichen 20 Jahre entschädigungslos enteignet werden. Autoren, die sich erst posthum durchsetzen, haben Sie damit einen bedauerlichen Bärendienst geleistet. Ich hatte Ihnen seinerzeit eine Kopie meiner Stellungnahme an den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages geschickt, ohne darauf eine Reaktion von Ihnea zu erhalten.

Ferner polemisieren Sie gegen die Förderung der Kleinverlage, weil diese überwiegend Selbst- und, Selbstkostenverlegern zugute käme. Ich halte das für überzogen, denn man könnte sehr wohl das folgende System praktizieren: der Senat gibt jeweils 50 % der nachgewiesenen Herstellungskosten eines Titels als verlorenen Druckkostenzuschuß an den betreffenden Kleinverlag (der selbstverständlich realistisch, also nicht überhöht zu kalkulieren hätte und eine Auflagenhöhe von maximal 300 Exemplaren ansetzen müßte). Bei strenger Antragsprüfung wäre jeder Mißbrauch ausgeschlossen. Das kommerzielle Risiko bliebe zur Hälfte beim Verlag, der also nicht in Versuchung geführt würde, »für den Keller zu produzieren«. Die erforderlichen Mittel für ein solches Programm dürften außerordentlich gering sein. Es ist keineswegs ehrenrührig für einen Autor, in einem Selbstkostenverlag zu publizieren. Dies etwa behaupten zu wollen, würde einen naiven Glauben an die »Selbstheilungskräfte des Marktes« offenbaren. Wir wissen doch alle, daß das kapitalistische Marktwirtschaftssystem gerade auf dem Verlagssektor munter im Begriff ist, die seriöse Literatur zu ruinieren.

Was ich an Ihrer Stellungnahme prinzipiell zu kritisieren habe: Sie wenden sich einerseits gegen »Elite-Ideologien« und »vermeintliche Spitzenförderung«, lehnen aber auf der anderen Seite das »Gießkannenprinzip« ab. Hier müssen Sie sich entscheiden! Und die Entscheidung sollte Ihnen nicht schwerfallen, wenn es der VS mit seinem Selbstverständnis als Gewerkschaft ernst meint. Gegen die Elite-ldeologie des Senats kann nur die strikte Anwendung der Gießkanne wirkliche Abhilfe bieten, d.h. ein konsequenter egalitärer Standpunkt. Alles andere sind Spitzfindigkeiten und Eiertänze, die in die Irre führen. Bei einer rigoros egalitären Literaturförderung würde der VS nicht etwa, wie Sie zu befürchten scheinen, seine Funktion im Literaturbetrieb einbüßen, sondern im Gegenteil: er würde seine eigentliche Funktion dadurch erst finden, denn er hätte dann plausible und gerichtsfeste Kriterien zur Definition des entscheidenden Autorenbegriffs zu entwickeln und die absolute Gerechtigkeit der Mittelvergabe durch den Senat zu kontrollieren und zu garantieren. Das heißt, der VS müßte an der erforderlichen Gesetzgebung mitwirken und seine entsprechende Tätigkeit im Gesetzesvollzug der Überprüfung durch unabhängige Gerichte unterwerfen.

Leider muß ich jedoch vermuten, daß ich nicht imstande sein werde, Sie und die Mehrheit Ihrer Mitglieder argumentativ zu überzeugen. Damit beantwortet sich auch Ihre persönliche Frage: Nicht aus privaten Ressentiments, sondern wegen Ihrer Verbandspolitik sehe ich mich nicht in der Lage, dem VS beizutreten.

Meine Ausführungen sind als Offener Brief konzipiert. Ich stelle Ihnen anheim, den Brief zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Klaus M. Rarisch


(Klaus M. Rarisch vermerkte auf der Briefkopie:
Der VS hat sofort den Abdruck verweigert!)



 


Rechte bei Klaus M. Rarisch