Seefahrt ist not! Beschau eines ungesehenen Films
Vergessen, verschollen, verloren seien die meisten der im CineGraph-Lexikon verzeichneten Filme, schrieb Hans-Michael Bock im Februar 1984 ins Vorwort. Eben dieser Sachverhalt begegnet mir, wenn ich an den Film Seefahrt ist not! von Rudolf Biebrach denke, 1921 in die Kinos gekommen. Durchaus gern hätte ich ihn gesehen, weil ich mich vor Jahren ausgiebiger mit Gorch Focks Roman »Seefahrt ist not!«, befaßt habe, dem »Buch zum Film«. [1] Allerdings nicht im Hinblick auf die Verfilmung, sondern wegen der Anklänge an Theodor Storms »Schimmelreiter«. [2]
Das Buch von 1913 »Seefahrt ist not!« las ich als Junge, meine auch, daß ich mich damals widerstandslos vom Wellengang der Erzählung ergreifen ließ. Gorch Fock erzählt vom Finkenwerder Seefischer Klaus Mewes und von dessen Sohn Klaus, seiner Unbändigkeit halber auch Störtebeker genannt. Der Kleine will unbedingt zur See wie sein Vater. Seine Mutter Gesa, eine Bauerntochter, sucht ihn gründlich davon abzubringen, nachdem ihr Mann mit seinem Ewer im Skagerrak untergegangen ist. Das Vorhaben bleibt erfolglos: Am Schluß des Romans läuft der jüngere Klaus Mewes mit eignem Kutter zum riskanten Austernfang aus, die Mutter inzwischen »vor Gram gestorben«, [3] wie es im Buch heißt. Gorch Fock hat den Roman 1912 kurz nach der Titanic-Katastrophe in acht Wochen niedergeschrieben. [4] Er erschien dann im Jahre 1913 und erwies sich als richtiger Waterkant-Best- und -Longseller. Beim Sutton Verlag ist er auch heute noch für 9 Euro 90 als Paperback zu haben. Als ich, durch puren Zufall veranlaßt, mehr als vierzig Jahre nach der Erstlektüre abermals ins Buch hineinsah, fiel mir ein eigenartiges Neben- bis Durcheinander unterschiedlichster Stimmen und Stimmlagen auf. Mit Plattdeutsch durchsetzte Dorfgeschichten, pläsierliche wie eher düstere, wechseln ab mit schwer orchestrierten Schilderungen: Klaus Mewes fühlt sich von kalten, eisernen Fäusten gepackt, die ihn erdrosseln wollen. Gefahr! gurgelt das Wasser, Gefahr! braust der Sturm, Gefahr! schreit der Ewer. [5] Gelegentlich sind Reklame für Flottenrüstung und andere Nationalismen eingesprengt: Kein deutsches Kriegsschiff kann reiner sein als ein Finkenwärder Ewer zu Karkmeß. [6]
Wohl dem Kaiser zuliebe, der 1898 bei einem Stapellauf in Stettin dekretierte: »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser«. Dazwischen auch Fetzen germanischer Mythologie: Wotan will nach Süden reiten, aber ehe er sein weißes Roß, den Sleipner, wendet [7] Offensichtlich als Reverenz an Hebbel (und als Verbeugung vor den Bildungsbürgern) gemeinte Wendungen aus dessen »Nibelungen« sind wiederholt eingeflochten, so anläßlich der zum Auslaufen bereiten Austernfischer: Ein furchtbarer Ernst webt um die Masten der Fahrzeuge. Der Tod steht aufgerichtet an den Wanten und ist der heimliche Schiffer. [8] Hier spricht Hagen in Hebbels kristallgittrigen Blankversen mit: Es tut mir leid um dieses junge Blut
Neben manch andren zeigt auch die folgende Hebbel-Anspielung, wie Gorch Focks Text zuweilen von bedrohlicher Widersprüchlichkeit unterminiert ist, als hätte der Autor es nicht wahrgehabt: jeder Seefischer ist ein Hagen, der ins dunkle Heunenland hinunterzieht. [10] Nicht sehr verheißend in Anbetracht dessen, was Hagen in »Kriemhilds Rache« von den Donaunixen prophezeit bekommt: Wir haben dich betrogen, Noch bedenklicher, wenn der kleine Klaus Störtebeker, der spätere Seefischer, mit Siegfried überblendet wird: Das war sein Junge! Wer den so gehen und stehen sah, dem mochte wohl das Gedicht von Uhland einfallen: Jung Siegfried war ein stolzer Knab. [12] Siegfried und Hagen in einer Person das kann nicht gutgehen! Dazu scheint die gegen Schluß fallende Bemerkung eines Marineoffiziers zu passen: England ist Rom, und wir sind Karthago, goden Wind, Klaus Mewes! [13] Schwarze Prophetie im Jahre 1913. Der Film von 1921 Von Herbst 93 bis Herbst 94 sah ich mir Gorch Focks Roman auf die Motive hin an. Ich kann also sagen: Ich kenne das Buch. In CineGraph-Kreisen fragte ich herum, ob denn vielleicht etwas über eine Verfilmung bekannt sei. Per Moritz, damals an der Indexierung des Film-Kuriers arbeitend, erfreute mich mit einer Kopie der in diesem Fachblatt erschienenen Besprechung: Sogleich nach der Uraufführung von Rudolf Biebrachs Film Seefahrt ist not! ging der Rezensent p. m. in der Ausgabe Nr. 199 vom 26. August 1921 darauf ein. Er beginnt: Ist es nicht grausame Bewahrheitung künstlerischen Schicksals, wenn der Dichter eines hanseatischen Romans ertrinkt? Gorch Fock, der ein Lebensbild des Fischerlebens schrieb, ist in der Seeschlacht bei Skagaragg [!] untergegangen. Tragische Ironie?
Kleiner Exkurs zur »tragischen Ironie«. Gorch Fock, 1880 als Johann Wilhelm Kinau auf Finkenwerder geboren, der als Junge die Seekrankheit nie hatte überwinden können und deshalb ins Kaufmännische gesteckt wurde, erhielt Ende März 1915 die ersehnte Einberufung zum Militär, allerdings »nur« zu den Fußtruppen. Nach Einsätzen in Galizien, Polen, Serbien und Frankreich versetzte man ihn endlich! 1916 zur II. Marinedivision in Wilhelmshaven, wo er sich am 18. April beim Wachhabenden des Kleinen Kreuzers S. M. S. »Wiesbaden« meldet.
Als Gefechtsstation bekommt er das Krähennest zugewiesen. Am 31. Mai treffen die deutsche und die britische Flotte vor dem Skagerrak aufeinander. Die »Wiesbaden« wird manövrierunfähig geschossen. Durch den letzten Torpedo des seinerseits schwer beschädigten Zerstörers »Onslow« geht um 19.10 Uhr mit den sonstigen Aufbauten der »Wiesbaden« auch der Fockmast mit Gorch Fock im Krähennest über Bord. Nach fortgesetztem Beschuß geht das Schiff am folgenden Morgen um 4 Uhr unter. Von mehr als 500 Mann Besatzung überlebt allein der Oberheizer Hugo Zenne. [14]
Der Kritiker wendet sich dem Film zu: Ich kenne den Roman nicht; aber dem Film entströmt wirkliches Erleben. Es sind hier Menschen geschildert, die ständig kämpfen müssen mit einem Element, an das sie gebunden sind wie der Bauer an die Scholle; die ewig in Gefahr schweben, deren grausames Dasein sie nüchtern und abgehärtet macht. Ihr Schicksal ist alltäglich wie das der Bergwerksleute, aber deshalb immer gleich furchtbar. Eines, ein ganz alltägliches, hat Gorch Fock herausgegriffen, selber ein Fischersohn. Es ist keine heimatliche Schnitzerei, das Tragisch-Menschliche der Schilderung hebt es darüber hinaus. Ich meinerseits hätte gern auch den Film gekannt, kann nur versuchen, mir an Hand der papierenen Spuren eine Vorstellung davon zu machen. Nur sehr knapp resümiert p. m. »Paul Medina«, souffliert mir Michael Töteberg den Plot: Ein Lebensbild ist auch der Film, den Thomas Hall nach dem Roman geschrieben hat. Es geht nichts vor, nichts, was man sonst von einem Film erwartet. Eine Seemannsfrau bangt um ihren Mann, wenn er draußen ist, zittert immer aufs neue, wenn er im Frühjahr ausfährt, um sich dann abzufinden, als er ganz draußen bleibt. Sie kämpft so lange gegen ihren Jungen, den es auf die See zieht wie den Vater; sie wehrt ihm so lange, was ihm im Blut liegt, bis sie ihn ziehen lassen muß, denn Seefahrt ist not
Auf nur wenige Handlungselemente kommt p. m. zu sprechen. Gebet der in der Kirche versammelten Gemeinde ist knapper Hinweis auf eine bestimmte Szene. Lediglich ein weiterer gilt dem Untergang: »erschütternd angedeutet« und immerhin Anlaß für sonst vermißte, sich auch hier nur in Grenzen haltende »Erregung«. Dabei ist dies Geschehen eine, wenn nicht die dramatische Klimax des Romans: Von allen Seiten sauste die wilde Dünung über Deck. Und siehe, siehe: eine Grundsee, die der Sturm in der Tiefe aufgerüttelt hatte und die mit Sand geschwängert und mit Muscheln und Steinen beladen war, schoß herauf, richtete sich urgewaltig auf und lief dem Ewer nach, der nicht von der Stelle konnte. Bleischwer stürzte sie sich auf das Achterdeck und drückte es nieder, daß der Steven steil aus dem Wasser sprang und die Ketten rissen, dann packte sie den Ewer mit ihren Tigerkrallen an den Seiten und warf ihn dermaßen aufs Wasser, daß er nicht wieder aufstehen konnte. [15] Die Filmerzählung, »schwer und düster«, scheint den Kritiker bedrückt zu haben: Monotonie, hier Ausdrucksmittel, legt sich auf den Zuschauer wie ein Alp. Das Publikum löste sich gestern nur zögernd zum Beifall.
Wie erlöst wendet er sich der Regie, der darstellerischen Leistung und der Kameraarbeit zu: Die Regie ist mit Bedachtheit geführt, mit einheitlicher Auffassung, nur so kann ein Ganzes entstehen, nur so ein Film künstlerischen Wert beanspruchen. Es ist die Arbeit Rudolf Biebrachs. Lucie Höflich spielt die Rolle der Mutter; ich glaube, ihre Stärke liegt hier im Kontrast zwischen Figur und Ausdruck: es überrascht, wenn die untersetzte, kräftige Frau, die oft etwas herb erscheint, plötzlich ihre Resolutheit in eine weiche Geste wandelt, sobald sie den Sohn küßt, oder als erwachte sie aus der bäuerlichen Schwere wenn sie wie ein Mädchen aufspringt, um den Mann zu umarmen.
Hans Marr ist ein ebenbürtiger Partner, vierschrötig, nüchtern und dabei mild. Die beiden wirken wundervoll nebeneinander. Sehr hübsch und klug gibt der kleine Werner Pfullmann den Jungen; Hermann Picha, Hugo Döblin stehen als gute Typen neben Rudolf Biebrach, der den biederen, immer heiteren Matrosen darstellt. Die Photographie ist nicht beständig klar, im Durchschnitt aber akzeptabel. So weit die Spur im Film-Kurier.
»Seefahrt ist not! Lebensbild in 5 Akten. Nach dem Roman von Gorch Fock«, kündigt das Programmheft an, Signets von Maxim Film (Produktion) und Ufa (Verleih) auf der ersten Seite. Fürs Auffinden im Archiv der Deutschen Kinemathek Museum für Film und Fernsehen, Berlin, danke ich Johannes Roschlau. Das Heft enthält auch ein paar Szenenphotos.
Im Heft sind auch ein paar Szenen mehr benannt als in der Besprechung von p. m.: Störtebeker läßt seinen Kahn dümpeln, um seefest zu werden; er schaut beim Schuster nach seinen bestellten Seestiefeln (ein Bild zeigt dann auch, wie Gesa dem Schuster die Fensterscheibe und die Schusterkugel bezahlt, die Störtebeker in seiner Erbosung über säumige Fertigstellung mit einem Stein zerschmissen hat).
Auslaufen des Ewers mit Störtebeker an Bord; Thees to Baben warnt Klaus Mewes vorm Ausfahren; Störtebeker mit seinem Kahn auf der Elbe, nach dem überfälligen Ewer des Vaters ausschauend; Gesa läßt Störtebeker »von ihrem alten Onkel« verprügeln (kein Onkel im Personenverzeichnis). Auf einer ganzen halben Seite sehen wir im Bild, wie Klaus Mewes in seiner Todesstunde im Finkenwärder Haus erscheint.
Erwähnt und durch ein Bild gestützt ist auch, daß Gesa ihren Sohn nach dem Verschallen seines Vaters zu ihren Eltern schafft, um ihn von seinem Seefahrtswunsch abzubringen. Im Roman ist zu lesen, daß er es auf der Geest, »wo es kein Wasser und kein Boot gab«, nicht lange aushält und sich auf eigne Faust wieder nach Finkenwärder durchschlägt. [16]
An der Bebilderung des Programmhefts ist zu merken, wie es dabei auch um Blickfang ging. Die Bilder sind ohne Legende, so läßt sich nicht jedes beigegebene Szenenphoto auf den Text beziehen, wie weitläufig auch immer: Da ist die ohnmächtig hinsinkende Gesa, von Klaus Mewes und Kap Horn gestützt, im Bild auch der kleine Störtebeker. So deutet sich Dramatik an.
Erst aus der Romanlektüre läßt sich wissen: Überzeugt von der Wahrheit des Gerüchts, ihr Sohn Störtebeker sei bei Sturm »über Bord gekommen und in der See ertrunken«, [17] reist Gesa unangemeldet nach Geestemünde, wo ihr Mann nach dem Sturm im Hafen liegt. An Bord des Ewers findet sie Störtebeker lebend vor, da »war es mit Gesas Kraft zu Ende«. [18]
Für das Bild von Gesa im Gespräch mit einer offensichtlich alten Frau vor einer Katentür bietet der Text ebenfalls keine Erklärung. Der Sinn ist wohl, das Bemühen um Lokalkolorit zu signalisieren. Der Roman legt die Vermutung nahe, daß es sich bei Gesas Gesprächspartnerin um »die alte Sill« handelt, eine »wackelige«, als Hexe verschrieene und Gesa überhaupt nicht geheure alte Frau, von Störtebeker dagegen geschätzt, denn sie schenkt ihm Äpfel, die ihm trotz angeblicher Verhexung schmecken, und er darf für sie junge Katzen umbringen. [19] So dürfte es sich hier um Ilka Grüning handeln, laut Wikipedia »eine gefragte Stummfilmdarstellerin, meist als Salondame oder in Mutterrollen ( ) bevorzugtes Metier ( ) anspruchsvolle Literaturverfilmungen und Historienfilme«. Weiterer Sinn des Bildes mag also sein, der renommierten Schauspielerin im Programmheft einen Platz zu bieten.
Blickfang sind wohl auch die beiden Bilder von einem im Programmheft nicht erwähnten Tanzvergnügen. Die Zweizahl läßt vermuten, daß auch der Film breiter bei diesem Motiv verweilt. Dem Drehbuchautor Thomas Hall ging es anscheinend darum, den Augen des Publikums mehr zu bieten, als der Roman über dieses Segment des gesellschaftlichen Lebens auf Finkenwerder verrät. Das im Programmheft so betont präsentierte Tanzvergnügen mit seiner behäbig-gemütlichen Anmutung leitet sich nämlich aus nicht mehr als diesen fünf Romanzeilen her: Einen Augenblick guckten sie auch bei Trina Külpers am Auedeich ein, wo Musik war. Klaus und Gesa tanzten durch den Saal wie Bräutigam und Braut. Da bekam auch der alte Janmaat einen Tanz von der schönen, jungen Frau seines Schiffers. [20]
Das von Gorch Fock so knapp abgehandelte Tanzvergnügen gehört im Roman zu den Veranstaltungen anläßlich der Finkenwärder Karkmeß, zur Zeit der Sommersonnenwende stattfindend. Kurz zuvor wird über fast zwei Seiten, also ungleich ausführlicher und durchaus bilderreich erzählt, was sich alles auf dem gleichzeitig abgehaltenen Jahrmarkt tut. [21] Der Verdacht liegt nahe, daß auf filmische Umsetzung verzichtet wurde, weil die dafür nötigen Freiluftbauten und eine vielköpfige Komparserie teurer gekommen wären als eine überschaubare Tanzgesellschaft in einem Interieur.
Zu den Vorwehen von Karkmeß gehört auch eine gründliche Reinigung der Schiffe. [22] Der kleine Störtebeker faßt auch mit an: Bis an den Bauch im Wasser stehend, hatte er geschrubbt, einen ganzen Tag im Maststuhl zwischen Himmel und Erde hängend, hatte er die Besan gelabsalbt, mit krummem Rücken war er in den Bünn gekrochen und hatte die toten Schollen aus den Ecken geholt, er hatte beim Lohen geholfen wie ein Großer, er hatte das Nachthaus grün angestrichen, er hatte das alte Bettstroh mit allen Flöhen und Wanzen auf dem Schlick verbrannt. [23] So stelle ich das Bild vom Deckschrubben in diesen Zusammenhang. Der Schiffer sieht nicht nach Arbeit aus. Die Szene scheint zu spielen, bevor er losgeht, um »die großen Rechnungen« zu begleichen, »die er beim Zimmerbaas, beim Schmied, beim Segelmacher und beim Reepschläger stehen hat, denn Karkmeß ist allgemeiner Zahltag«. [24]
Mich verwundert, daß Gesa laut Programmhefttext beim Auslaufen des Ewers »in Tränen aufgelöst auf der Düne« steht, denn bei Finkenwerder handelt es sich um eine eingedeichte Marschinsel zwischen Norder- und Süderelbe, von nennenswertem Sand keine Rede. Zugunsten der Inszenierung möchte ich gern annehmen, daß Gesa im Film auf dem Deich steht. Im Buch tut sie es, als ihr Mann von glücklicher Fangfahrt zurückkehrt [25] und als ein anderes Mal Störtebeker beim Auslaufen mit an Bord ist. [26] Die Düne im Programmheft könnte binnenländisch ungenauen Vorstellungen von Wasserkante geschuldet sein. (Ein landeskundlicher Satz aus einem in München entstandenen Deutsch-Lehrbuch ist mir in dieser Hinsicht Indiz und unvergeßlich: »Hamburg ist eine Hafenstadt an der Nordsee.«)
Gern wüßte ich, wie bei der Adaptierung des Romans mit dessen nationalistischer Unterfütterung umgegangen wurde, ausgerichtet auf »Seegeltung« vor allem in Gegnerschaft zu Großbritannien sowie auf Mehrung des deutschen Kolonialbesitzes. So führt Klaus Mewes, wie im Roman mehrfach betont, auf H. F. 125 statt der eigentlich in Frage kommenden Hamburger Flagge stets die schwarzweißrote des Deutschen Reichs. Er trägt an Bord auch »seinen alten Kameruner«, [27] hat also wohl bei der Kolonialtruppe in Kamerun gedient, wie dann später sein Sohn in Deutschostafrika. [28] Pars pro toto einer der Sprüche, die an den Kojen auf dem Kutter des jungen Mewes eingeschnitten sind: Finkwarder bliwt Finkwarder
Kolonialisten-Eifersucht auf Großbritannien spricht aus dem kleinen Dialog, in dem Hein Mück im Roman auf Helgoland zu sprechen kommt (Hein Mück op Finkwarder, Kap Horn op Hamborger Platt): Hein Mück fragt: »Worüm hürt Hilchland eegentlich den Ingelschmann to?« »Worum?« lachte Kap Horn. »Worum heurt em Malta un Hongkong un Cypern un Gibraltar un Kapstadt un Jamaika? He hett tolangt, de olle, ehrliche Jan Bull, as anner Lüd bleud weurn.« [30] Als Klaus Mewes auf seiner letzten Fahrt im schweren Sturm schon den Schiffsjungen Hein Mück verloren hat und sein Ewer schwer beschädigt ist, bekommt er einen englischen Trawler in Sicht, will aber nicht die Notflagge setzen: Sich von einem Ingelschmann ins Schlepptau nehmen lassen! Gott schall mi bewohren, dachte er und ließ John Bull stiemen, der dann auch wieder aus den Augen kam. [31]
Möglicherweise vermittelte der Film auch etwas von dieser Unterströmung später gewißlich ausschlaggebend für die staatlich veranlaßte Schulausgabe des Romans noch 1944 und bereits den Untergang vor Augen. In der konservativen Berliner Börsen-Zeitung jedenfalls erblickte der Rezensent Fritz Olimsky nach der Uraufführung des Films Seefahrt ist not! ein gelungenes Beispiel für den patriotischen Film, der mit dem Erstarken des vaterländischen Gefühls endlich wieder das Kinoprogramm bestimme. Der Film sei »ein Tendenzfilm im besten Sinne des Wortes«, und »diese neue Richtung begrüßen wir auf das freudigste«. [32]
Das Heft gibt nichts darüber her, ob und ggf. wie der Untergang des Ewers verbildlicht wurde. War das von p. m. vermerkte erschütternde Andeuten womöglich knappem Budget geschuldet? Ich stelle mir nämlich vor, daß Seeaufnahmen, zumal von Sturmfahrten, weder im Atelier noch gar auf See billig zu haben waren und sind. Man vergleiche dazu, was der Katalog zum CineFest »Leinen los!« von 2006 zu diesem Thema bietet: »Die Schreckensfahrt der Literaria« (1913), »See-Aufnahmen« von Manfred Noa (1922), »Die Technik der maritimen Aufnahmen« von Max Hauschild (1925), »Filmaufnahmen vom schwankenden Schiff« von Ernst P. Bauer (1924). [33] Von Michael Töteberg soufflierte Zahlen: Die Ufa-Revisions-Abteilung stellt im Prüfbericht vom 17. November 1921 Gesamtkosten in Höhe von 428.536,47 Mark fest, Zahlungsleistungen erfolgten wohl früher im Jahr (Drehzeit mir nicht bekannt, Uraufführung war jedenfalls am 25. August). Stoffrechte, Drehbuch, Regie sowie die Darstellergagen von Lucie Höflich, Hans Marr und Rudolf Biebrach erforderten zusammen 157.500 Mark, die Reise-, Fahr- und Transportspesen 77.409,40 Mark. Die Bezifferungen relativieren sich durch die bereits angelaufene Inflation: Dollarkurs Mitte 1921 gut 70 Mark, was die Gesamtkosten in den Bereich von damaligen 6.000 bis 7.000 $ hinunterbrächte (im November wären es bei 263 Mark pro Dollar nur noch gegen 1700 gewesen).
The Perfect Storm: Das »Remake« von 2000 Eine Vorstellung der Verfilmung von »Seefahrt ist not!« mag Wolfgang Petersens The Perfect Storm vermitteln, im Jahr 2000 mit einem Budget von stolzen 140 Millionen Dollar gedreht das seinerzeitige Dollar-Äquivalent der Ufa-Aufwendungen Mitte 1921 entspräche einem Dollar-Betrag zwischen 50.000 und 60.000 im Jahr 2000. Doch genau genommen, wäre zunächst zu ermitteln, welchen DM-Betrag die rund 428.000 Mark von 1921 im Jahre 2000 bedeutet hätten. Das gelingt mir nicht. Für die Mark von 1904 ließe sich noch mit 6 bis 10 mulitiplizieren. 1921 aber hatte längst die dem Ersten Weltkrieg entsprungene Inflation Fahrt in Richtung Hyperinflation aufgenommen, so daß ein Berechnungsfaktor ganz anders anzusetzen wäre. Im Jahr 2000 entsprachen Petersens 140 Millionen bei einem Dollarkurs von etwa 2,20 DM rund 308 Millionen D-Mark. Um die Produktionskosten von 1921 in diesen Bereich zu bringen, wären sie mit mehr als 700 zu multiplizieren das mag ich fast nicht glauben. [34] Nun, das Filmgeschäft und seine Umsätze sind halt exponentiell gewachsen. Allein schon wegen des größeren Publikums: damals erst knapp 2 Milliarden gegenüber heutigen mehr als 6 Milliarden Menschen auf dem Planeten. Technologischer Fortschritt, dessen Proliferation und, damit vermacht, entsprechend höhere Produktivität und folglich global angestiegene Kaufkraft tun ein übriges.
Auf jeden Fall hatte Petersen genug Geld für mehr als einen Untergang: Außer um das Fischerboot ist es um eine Segelyacht und einen Küstenwachen-Hubschrauber geschehen. Auch Petersens Film mit literarischer Vorlage: Sebastian Jungers Roman »The Perfect Storm: A True Story of Men Against the Sea« von 1997 liegt zugrunde, das reale Schicksal des im »Halloween Gale« von 1991 verschollenen Schwertfischfängers »Andrea Gail« ist ausphantasiert. Als ich den Film sah, ohne daß ich zuvor viel darüber wußte, dachte ich: »Die haben Seefahrt ist not! gelesen!« Das ziehe ich zurück. Gorch Focks Finkenwärder von 1887 und Jungers Gloucester, Mass., von 1991 sind ja sicher verwandt, Parallelen und bezügliche Klischees wohl unausweichlich.
An beiden Orten und zu beiden Zeiten gehen die Fischer aus ökonomischer Notwendigkeit auch in der stürmischen Jahreszeit auf Fang. Der erwachsene Mewes jun. hat zumindest im Buch als Finkenwärder Fischer mit einem habgierigen Austernhändler zu tun, Skipper Billy Tyne aus Gloucester mit einem habgierigen Schiffseigner. Natürlich ängstigen sich hier wie da die Frauen. Natürlich gibt es in solchen Küstenorten die »eigenartigen« Charaktere: auf Finkenwerder den spökenkiekerischen Segelmacher Thees to Baaben (Hugo Döblin; leider kein Bild im Programmheft von 1921), in Gloucester den realistisch-pessimistischen Alten im »Crows Nest«, mit geradezu finkwarderscher Fischermütze.
Bei seiner Sturmfahrt durch die Brandung der Tegeler Plate noch ohne Untergang geht Klaus Mewes das Nachthaus mit dem Kompaß über Bord, [35] Billy Tyne verliert im Sturm die Funkantenne. Als wärs direkte Anspielung, bemerkt er dazu sarkastisch: »Keine Antenne, kein Funkgerät willkommen im 19. Jahrhundert!« Der Roman »Seefahrt ist not!« und vielleicht der Film ebenfalls? beginnt mit einem Gottesdienst, im Buch auch mit den Geistern auf See Gebliebener bevölkert. Der Sturm zeigt gegen Ende den Trauergottesdienst für die auf See Gebliebenen. In »Seefahrt ist not!«, Buch wie Film, sieht Gesa ihren ertrunkenen Mann als Geist erscheinen. Auf so etwas verzichtet Der Sturm, doch ist zum Schluß wenigstens die Stimme des ertrunkenen Billy Tyne mit einer Beschreibung seiner Eindrücke beim Auslaufen noch einmal im Off zu hören.
Die im Film Seefahrt ist not! anscheinend weitgehend (oder ganz?) ausgesparte Katastrophe endet im Buch so: Klaus Mewes war allein: sein Knecht und sein Junge, sein Hund und sein Ewer waren ertrunken, er trieb in der wilden Dünung von Skagen: nirgends war ein Schiff, nirgends ein Halt. [36] Und:
Klaus Mewes fühlte, daß seine Arme ermatteten, und daß er es nicht mehr lange machen konnte. Noch einmal ließ er sich von einer Wogenriesin emporheben und blickte von ihrem Gipfel wie vom Steven seines Ewers über die See, die er so sehr geliebt hatte, dann gab er es auf. [37] Der Sturm liefert das Bild nach: Bobby Shatford, wie er von einer Woge gehoben wird, nachdem er sich als einziger aus der kieloben treibenden »Andrea Gail« befreit hat. Nicht die »gewaltige Dünung des Skagerraks«, [38] sondern die computergenerierte der Grand Banks »ging über ihn hinweg«. Text abgedruckt in: Rüdiger Schütt: Mythos, Marke, Mensch Gorch Fock. Nordhausen: Traugott Bautz 2010, S. 155-168. oooOooo Noch eine Fußnote
zur filmischen Verwertung von Romanmotiven. Gleich zwei Bilder widmet das Programmheft zu Rudolf Biebrachs »Seefahrt ist not!« dem im Roman nur knapp erwähnten Tanzvergnügen, es scheint im Film für Augenfutter gesorgt zu haben. Kein Bild dagegen von der Finkwarder Karkmeß, an deren bilderreicher Schilderung Gorch Fock offensichtlich Spaß hatte. Daher mein Verdacht, daß sie für den Film ganz oder weitestgehend unterschlagen wurde. Inszenierung wäre vielleicht zu aufwendig gewesen? Schade eigentlich in Anbetracht des Romantextes: Mittlerweile sind sie auf der Aue, von der Müggenburg bis zum Tun, auch nicht müßig gewesen, sie haben gebaut und gezimmert, geklopft und gehämmert auf Deubel kumm rut, bis Zelt an Zelt steht. Dann steigt die Sonne blank und schön aus dem Hamburger Daak, und der große Freudentag ist da mit seinen Luftbällen und Reitbuden, seinen Aalzelten und Schießständen, seinen Eiskarren und Lungenprüfern, mit Lukas und Kasper, mit Herkules und Feuerfressern, mit Seiltänzern und Negern, mit Hün und Perdün, mit Jubel und Trubel! Die Gören sind wie durchgedreht, und die Jungkerls und Deerns wissen vor Übermut und Lebensfreude nicht, was sie alles aufstellen wollen. Da wird gejagt und geschossen und getanzt und getrunken und gesungen und gelacht: die ganze Aue wirbelt durcheinander. Die Jungen tragen blaue Brillen und Rinaldinischnurrbärte, sie essen Knackwürste und Eis, bis sie nicht mehr können; die Mädchen kaufen sich Puppen und Kokosnüsse und lutschen an Zuckerstangen; es ist einfach unbeschreiblich, was auf Karkmeß alles los ist. Die sich erzürnt haben, vertragen sich und trinken wieder einen zusammen, und die gut Freund gewesen waren, erzürnen sich und kriegen das Tageln: dat is so bi Karkmeß mit vermokt. Hein Mück haut den Lukas, daß es knallt, und läßt sich für die hervorragenden Leistungen eine goldene Medaille an die Heldenbrust heften. Jan Tiemann läßt sich elektrisieren, Hinnik Külper kauft seiner Braut ein großes Zuckerherz, Peter Gröhn fordert den Neger sogar zu einem Boxkampf heraus. Und ein Getute und Geblarre, ein Flöten und Knarren, ein Juchzen und Schreien! [39] oooOooo
Wie ich auf den Film »Seefahrt ist not!« verfiel »Fredy Bockbein trifft Mister Dynamit« erschien als Festschrift für Hans-Michael Bock mit seinen filmhistorischen Verdiensten (2016 nun auch durch den Ehrenpreis des Kinematheksverbundes gewürdigt). Christoph Fuchs und Michael Töteberg hatten CineGraph-Mitglieder und CineGraph Nahestehende dazu aufgerufen, ein Aufsätzchen über »ihren« Film beizusteuern. Für mich wäre schon mal »Traumulus« nach dem Bühnenstück von Arno Holz und seinem Freund Oskar Jerschke in Frage gekommen, 1935 von Carl Froelich mit Emil Jannings in der Titelrolle verfilmt. Ich hatte mich nämlich vor Zeiten des ausgesprochen längeren und sehr persönlich interessiert mit Arno Holz beschäftigt, wenn nicht gar herumgeschlagen, auf daß eine Dissertation draus werde was dann nichts wurde.
Viel später dann, aber auch schon mehr als zehn Jahre her, ging ich dem geheimen Zusammenhang zwischen Gorch Focks Roman »Seefahrt ist not!« und Theodor Storms »Schimmelreiter« nach. Bei wirklich ganz und lachhaft zufällig veranlaßtem Wiederlesen des Finkenwerder-Buchs angestoßen zunächst durch die hier wie da vorkommenden Vögel: auf Finkenwerder die Krähe Kluß, in der Nordsee-Marsch die Möwe Klaas. Muß ja nicht unbedingt was besagen. Aber es ging weiter. Als Beispiel nur die fünf nicht geheuren Totenschädel vorn im Steven von H. F. 125 und im »Schimmelreiter« das abergläubische Gerede von den fünf unheilverheißenden Totenköpfen, »wie Erbsen groß«, im Waschbecken eines Pastors. Ich fand und find es spannend. Und weil biographisch aktueller als Arno Holz, ging meine Zweitüberlegung zu Curt Oertels und Hans Deppes Storm-Verfilmung von 1933 (ein paar Jahre später dann geschehn), mit Mathias Wieman als Schimmelreiter. Entschluß dann endlich, mich um das am wenigsten Kanonische zu kümmern und mich dem wasserkantigen Heimatfilm zuzuwenden. Das bedeutete dann: kein erster, geschweige denn zweiter Blick auf den Film »Seefahrt ist not!«, sondern ein fast blindes Herantasten an das, was Anfang der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mal auf den Leinwänden flimmerte. Im Rahmen des Buchs natürlich nur viel zu abgekürzt möglich. Hier ist nun manches vom Unterschlagenen nachgeliefert. oooOooo
oooOooo Im November 2007 hätte ich den vorstehenden Text im Altonaer Museum beamergegleitet »zu Gehör« bringen sollen gesundheitlicher Strich durch die Rechnung. Es blieb ein ungehaltener Vortrag über den ungesehenen Film.
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