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Wüster, rothester Socialdemokrat

Zum 50. Todestag von Arno Holz

Totenmaske Arno Holz

Von Klaus M. Rarisch

 
 

Als Arno Holz am 26. Oktober 1929 in Berlin sechsundsechzigjährig starb, war er Ehrendoktor der Universität Königsberg, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und Nobelpreiskandidat. Beigesetzt wurde er in einem Ehrengrab der Stadt Berlin. Im Krieg durch Bomben zerstört und später rekonstruiert, ist es heute leer, so daß die Inschrift auf der Grabplatte (aus seinem »Phantasus«) sich wörtlich erfüllt hat: »Mein Staub verstob, wie ein Stern strahlt mein Gedächtnis!«

Ehrengrab Arno Holz, Friedhof Heerstraße, Charlottenburg
Ehrengrab auf dem Charlottenburger Friedhof Heerstraße,
Portraitrelief: Kurt Harald Isenstein

Aber dieser Eindruck von der ruhmgekrönten Vollendung einer Dichterlaufbahn täuscht. In Wirklichkeit starb Holz, der die letzten 19 Jahre seines Lebens in der legendären Dachkammer gearbeitet hatte, so arm, wie er eh und je gewesen war. Seine Witwe Anita Holz mußte sich damals mit der vergeblichen Bitte um Unterstützung an den preußischen Kultusminister Becker wenden, mit dem der Dichter sich drei Jahre zuvor angelegt hatte: durch eine scharfsinnig begründete und scharf formulierte Denkschrift zur Umbildung der alten Institution, der er zu Recht das »Vorherrschen eines antiquierten Polizeipreußentums« nachwies, in eine autonome »Deutsche Akademie der Künste«, die es bis heute nicht gibt.

Traumulus (Carl Froelich, 1935/36): Jannings, Weißner, Barko. Bild: Archiv CineGraph Hamburg
Traumulus
Emil Jannings, Hilde Weißner, Hildegard Barko
1935/36, Regie Carl Froelich,
Buch Robert A. Stemmle und Erich Ebermayer

Holz konnte am Ende seines Lebens nur auf zwei literarische Erfolge zurückblicken. Sein neobarockes Gedichtbuch »Dafnis«, nach sorgfältigem Studium von mehr als 200 Originalbänden aus dem 17. Jahrhundert als Quintessenz der deutschen Barocklyrik aus moderner Sicht konzipiert, erschien 1904 im Münchener Verlag Piper in einer preiswerten Volksausgabe: 266 Seiten mit virtuosen und höchst amüsanten Freß-, Sauff- & Venus-Liedern benebst angehänckten Auffrichtigen und Reuemüthigen Bußthränen für 1 Mark! Innerhalb von zwei Jahren konnte Piper davon 30 000 Exemplare absetzen. Der zweite große Wurf des Dichters war die im Schülermilieu spielende Tragikomödie »Traumulus«. Das Stück ging in der Spielzeit 1904/05 über alle großen deutschen Bühnen und wurde nach dem Tode von Holz auch verfilmt. Auch dieser Erfolg war freilich kurzlebig, zudem mußte sich Holz hier die Einnahmen mit dem Bühnenvertrieb und dem Mitautor, dem Straßburger Rechtsanwalt Oskar Jerschke teilen.
 

Hoffnung auf den Nobelpreis

Mit Ausnahme der Jahre 1904/05 war Holz zeitlebens auf die Unterstützung von Freunden und Verwandten angewiesen. Glücklicherweise verfügte er über ein unbeugsames Selbstbewußtsein, das von der jahrelangen, vergeblichen Hoffnung auf den Nobelpreis genährt wurde. Seine Nominierung wurde durch die Intrigen seines erfolgreichen Rivalen Gerhart Hauptmann verhindert. Thomas Mann schrieb elf Tage vor dem Tod von Holz an Hauptmann, er würde die Zuerkennung des Preises an Holz »absurd und skandalös« finden und sei überzeugt, »daß ganz Europa sich in voller Verständnislosigkeit an den Kopf greifen würde«. Da der Nobelpreis nur an Lebende vergeben werden durfte und Arno Holz einen Tag zu früh starb, erhielt den Preis des Jahres 1929 anstelle von Holz ersatzweise – Thomas Mann!

Wer ist nun dieser Dichter Arno Holz? 1863 in Rastenburg/Ostpreußen als Apothekerssohn geboren, jedoch seit 1875 ununterbrochen in Berlin lebend, veröffentlichte Holz 1883 seine epigonalen Jugendgedichte unter dem Titel »Klinginsherz«; symptomatischerweise erhielt er dafür einen der beiden einzigen Literaturpreise seines Lebens.

Aber schon 1885 ist er in der programmatischen, den deutschen Naturalismus begründenden Anthologie »Moderne Dichter-Charaktere« als einziger origineller Großstadtlyriker mit sozialkritischer Tendenz vertreten. Vollends seit 1885 ist Holz auf der literarischen Szene präsent mit seinem Gedichtband »Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen«, nachdem mehrere deutsche Verlage die Publikation aus politischen Bedenken nicht riskiert hatten. Ein urteilsfähiger Kollege, Detlev von Liliencron, schrieb darüber: »Arno Holz ist ja wüster, rothester Socialdemokrat«, während der Berliner »Kladderadatsch« dem Verfasser riet, Essigfabrikant zu werden.
 

»... und mich pissen kaum die Hunde an!«

Holz selbst bemerkte später über das »Buch der Zeit«, das ihn bei den Auguren, bei Gesinnungsgenossen und Feinden berühmt-berüchtigt machte: »Und alles blieb still, nichts regte sich! Kaum, daß es einige wohlwollende Kritiken tröpfelte.« Für die 429 Seiten Lyrik erhielt er ein Honorar von 25 Mark; eine zweite Auflage konnte erst 1892 erscheinen. Rückblickend schrieb Holz über seinen Mißerfolg: »Den guten Gerhart Hauptmann ... glaube ich in mehr als einer Beziehung bequem in die linke Westentasche stecken zu können. Nichtsdestoweniger ist er heute der große Mann, der ›Reformator‹, und mich pissen kaum die Hunde an!« – Und das Mißgeschick blieb Holz treu bis zuletzt. Für die von ihm selbst veranstaltete, bibliophile Monumentalausgabe seiner Werke in 12 Bänden von 1926 fand er ganze 105 Subskribenten.

1894 war auch seine Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf bereits Vergangenheit. Unter dem Pseudonym Biarne P. Holmsen hatten beide 1889 die Prosaskizzen »Papa Hamlet« veröffentlicht und damit den konsequenten Naturalismus begründet; ein Jahr später folgte das Drama »Die Familie Selicke«, das 1890 in der Berliner »Freien Bühne« zur Uraufführung kam. Theodor Fontane urteilte in seiner Theaterkritik: »Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiet haben, daneben verschwindet.« Vergebens – Gerhart Hautpmann, der von »Papa Hamlet« die »entscheidende Anregung« empfangen hatte, war Holz und Schlaf mit der skandalumwitterten Premiere seines Erstlingsdramas »Vor Sonnenaufgang« fünf Monate zuvorgekommen und verstand es fortan, dank seines ererbten Vermögens (Holz schätzte es auf ein »Minimum von 150 000 Mark bar«) die führenden Theaterleute der Zeit, Otto Brahm und Paul Schlenther, für sich zu gewinnen und mit ihrer Hilfe Arno Holz systematisch von der Bühne zu verdrängen.
 

»Sozialaristokraten«

So mußte Holz seine politisch-satirische Komödie »Sozialaristokraten« 1897 auf eigene Kosten und unter eigener Regie aufführen lassen. In dem späten »Phantasus«-Gedicht »In Memoriam« schildert er wahrheitsgetreu den Publikumserfolg der Premiere und den folgenden Verriß von Paul Schlenther, der das Stück als »Bierulk« abtat. In Wirklichkeit handelt es sich um eine der wenigen bühnenwirksamen Komödien der deutschen Literatur, in der das zentrale Thema des Naturalismus behandelt wird: das unglückliche Verhältnis zwischen bürgerlichen Literaten und SPD. Der Führer der Friedrichshagener Bohemiens, Bruno Wille, der nach dem Erfurter Parteitag aus der SPD ausgeschlossen wurde, ist als Schlüsselfigur das Vorbild für den negativen Helden des Dramas, Dr. Benno Gehrke, der mit unverdauten Nietzsche-Phrasen und geschickter Aktivierung des latenten Antisemitismus der Kaiserzeit zielstrebig seine Karriere als chauvinistischer Reichstagsabgeordneter aufbaut.

Neben der großen literatur- und ideologiekritischen Satire »Die Blechschmiede« (1902) ist das Hauptwerk von Arno Holz der Gedichtzyklus »Phantasus«. An diesem weltumspannenden Poem arbeitete Holz sein halbes Leben lang. Er hat darin seine neue Gedichtform ohne Reim und Metrum aus dem notwendigen anstelle des »freien« Rhythmus entwickelt, die er äußerlich durch die typographische Mittelachsenzeile kennzeichnete.
 

Holz’ »Revolution der Lyrik«

Was ist nun neu an der Phantasus-Form? Holz begründete es theoretisch so: »Ich schreibe als Prosaiker einen ausgezeichneten Satz nieder, wenn ich schreibe: ›Der Mond steigt hinter blühenden Apfelbaumzweigen auf.‹« Als Gedichtstrophe im »Phantasus« aber, um den Klang eins werden zu lassen mit dem Inhalt, formulierte er den Satz so:

Hinter blühenden Apfelbaumzweigen
steigt
der Mond auf.

Und als Theoretiker fährt er fort: »Das ist meine ganze ›Revolution der Lyrik‹« – im Sinne einer kopernikanischen Wende der Naturanschauung. Die Erklärung ist einfach wie alles Neue. Holz stellt als Lyriker den dynamischen Ablauf der Natureindrücke so dar, wie er ihn sieht: Zunächst, im Vordergrund seines Blickfelds, nimmt er blühende Apfelbaumzweige wahr (Vers 1), sodann sieht er dahinter etwas aufsteigen (Vers 2), und schließlich erkennt er das aufsteigende Etwas als den Mond (Vers 3). Der als Gegenbeispiel zitierte Prosasatz kehrt den natürlichen Ablauf der optischen Impressionen um, hat den Charakter einer statischen Feststellung und ist somit für die lyrische Dynamik im Holzschen Sinne unbrauchbar.
 

Eine Existenz als Versuch

Arno Holz hat seine Existenz als Versuch gestaltet, Leben und dichterischen Anspruch zu versöhnen. Daß dieser Versuch mangels materieller Voraussetzungen und wegen der Ungunst der Zeit scheiterte, sollte für die heutigen Kritiker kein Anlaß zur Schadenfreude sein, sondern eher zur Scham darüber, daß ein Kulturvolk seine unangepaßten Dichter verkommen läßt.

Für Avantgardisten der Gegenwart wie Arno Schmidt oder Helmut Heißenbüttel war Holz der große Vorläufer; man hat ihn deshalb als Klassiker der Moderne bezeichnet. Zu Unrecht, denn als Klassiker wird in Deutschland nur anerkannt, wer den poetischen Anspruch durch den materiellen Erfolg rechtfertigen kann – sei es auch durch eine unpoetische Funktion als Staatsminister wie Goethe oder Johannes R. Becher.

Holz ist in der Literaturwissenschaft nach wie vor umstritten wie kein anderer seiner Zeitgenossen. Man darf daraus schließen, daß die Germanistik, fünfzig Jahre nach dem Tode des Dichters, noch immer nicht über adäquate Maßstäbe zur Beurteilung eines so außergewöhnlichen Werkes verfügt.

die horen , Nr. 116 (1979)
auch
Sinn und Form Nr. 6 (1980)