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Der wahre Phantasus
Studie zur Konzeption des Hauptwerks von Arno Holz

für Hans Wolffheim (1904–1973)

Travail d’un seul homme
(Palais Idéal, Nordwand)

 



Trikliner Feldspat, Kieselgur,
rezente Laven,
grünlichschwarze Hornblende,
Syenit, Granulit, Porphyrit, Batrachit,
Eklogit, Apatit,
Trachyt,
Flasergabbro,
Grauwacke, Augitgneis,
Serpentin, Turmalin, Olivin, Andesin, Sanidin,
Diabas, Orthoklas,
lamellarer,
bläßlich gelblicher, bis dunkeltombakbräunlicher
Magnesium-
und
zarter,
perlmutterschimmeriger, silberig-rötlich weißer
Kaliglimmer,
Nagelfluh, Bimssteintraß,
Nosean, Obsidian,
tetragonaler, glasgrün glänzender, säulenförmiger
Vesuvian,
Brachiopodenmergel,
Quarzite,
Dolomiten-, Nummuliten-
und
Korallen-
Kalke aus dem
Eozän,
paläozoischer, jurassischer, und ganz gewöhnlicher, äußerst kommuner,
höchstgangundgäber, höchstgemeiner, höchstordinärer
Tonschiefer!

(2/II, 61 f.)

Aufzählung als Lyrik: Das ist EINE der Spezialitäten der drei Bände »Phantasus«, die Arno Holz als sein Hauptwerk hinterließ. Der Lyrikzyklus »Phantasus« ist eine atemraubende tour de force in Motiven, Sprache und Registern, ein allesfressender Text, der die Grenzen des Ausdrückbaren stets zu durchbrechen sucht. Es ist der »Phantasus« in seiner GROSSform, den Arno Holz (1863 geboren) im Jahre 1912 entschieden in Angriff nahm und bis zu seinem Tode 1929 unausgesetzt und verbissen immer ausladender ausbaute.


Phantasus: Anstößig für viele, wenigen ein Anstoß

    Ein Gedicht soll doch kein Lexikon sein

schrieb schon 1917 Hans Benzmann in der Berliner Börsenzeitung (vom 22. 4. 1917), nachdem 1916 die erste Druckausgabe des großen »Phantasus« erschienen war (5). Distanzierung oder gar krasse Ablehnung bilden seither in literarischer Kritik und Literaturwissenschaft den Tenor vieler Äußerungen zum großen »Phantasus«.

    Die Zerstörung der lyrischen Substanz durch eine Häufung des Details (4,153)

kreidete 1968 der Literaturwissenschaftler Gerhard Schulz an. In seiner Arno-Holz-Monographie von 1974 spürte er dann unverhohlen nach psychopathologischen Symptomen (21, insbes. 208 ff.; vgl. meine Rezension: 23). 1970 hieß es in einer Sendung des SFB über das überdimensionale Werk, es sei

    wohl nicht zu hart zu sagen, daß es eine monströse Totgeburt war und blieb. (19)

Die Ablehnung ist zumeist auf überkommene und vertraute Vorstellungen von literarischem Maß oder von der Beschaffenheit der Textgattung Lyrik gegründet. Der »Phantasus« paßt nicht in dies Raster. Sich auf ihn einzulassen bedeutet also, sich auf Unvertrautes einzulassen und sich um neue Kategorien zu bemühen. Alfred Döblin war einer der relativ wenigen, die auf diesem Wege zu einer anerkennenden Beurteilung kommen:

    Wir werden am besten verstehen, was in diesen Mammutgebilden, den strömenden Rhythmen, vorliegt, wenn wir uns an die moderne Malerei erinnern, an die nicht gegenständliche, die sogenannte abstrakte. Ich nenne den Namen Kandinski.

    Bei Kandinski sieht man bunte Flächen und farbige Linienzüge, und das Ganze schwingt zusammen zu einer Komposition, ein Zusammen von Farbgruppen, vor denen es verboten ist, zu denken und zu fragen: was soll das? Das breite Bemalen von Riesenflächen zu einer Komposition, der der Begriff nicht folgen kann, ist die malerische Parallele von Holz’ Mammutgebilden. (17,18 f.)

Auch Wilhelm Emrich ist zu nennen, der in seinem Aufsatz »Arno Holz und die moderne Kunst« (in 2/VII, 453 ff.) die innovatorische Bedeutung des großen »Phantasus« würdigt. Von Helmut Heißenbüttel mal nicht zu reden.


Bewußtseinskino

Angesichts des »Phantasus« sind die Schwierigkeiten der Rezeption schon verständlich. So ist bereits sein Thema nur schwer auf eine handliche Formel zu bringen. »Autobiographie einer Seele« nannte Arno Holz sein Werk. Thema ist das nur implizit zu zeigende Oszillieren eines Bewußtseins zwischen biographischer Realität einerseits und den grenzenlosen Möglichkeiten des Gedankenspiels andererseits. So reichen die Texte von der Protokollierung einer Litfaßsäule über die impressionistische Notation von Stimmungen bis zum monumentalen Imaginationskino von Stücken wie »Macht-Mythus«, »Die Hallelujawiese« und »Das tausendundzweite Märchen«.

»Das tausendundzweite Märchen«, dem die hier benutzten Beispiele für die Lyrik des großen »Phantasus« entnommen sind, füllt als Mittelstück des Zyklus den ganzen zweiten Band. Arno Holz erzählt da ein voyage autour de la chambre. Um die Prinzessin Gülnare, »das schönste Kind in Trans-Sphäranien«, zu gewinnen, muß der gargantueske Held dreizehn monströs-scheußliche Gerichte verzehren. Sein Bewußtseinsstrom, während er sich zum dritten Gang überwindet (»Tausendfüßer à la Tartare«), ergibt den von Arno Holz als »längsten Satz der Weltliteratur« gepriesenen Text (vgl. 6 und 22).

Es ist Science Fiction zum Thema eines weltverschlingenden Überbewußtseins, wie sie in dieser Intensität für mich z. B. von Hans Henny Jahnn in »Perrudja« erreicht und von Frank Herbert in »Der Wüstenplanet« (»Dune«) übertroffen wird.

Anläßlich einer getuschten Idylle charakterisiert Arno Holz dort ein altchinesisches Allround-Genie:

Sze-ma-kwang,
der
unter seinem
erzfeigen, miserabelen, der unter seinem willensschwachen, blamabelen,
der
unter seinem
schofelen,
schäbigen, schimpflichen, schuftigen,
schmählichen,
indiskutabelen, méprisabelen,
geistärmlichen, erbärmlichen
Kaisermannequin
Ying-tsung
nicht nur ein unvergleichbar, nicht nur ein
unerreichbar,
auserlesenst, auserkorenst,
auserwähltst,
selbstverleugnendst, selbstvergessendst,
opferfreudigst, edelst
meisterlichster
Vollblutmensch und Malerdichter,
nicht nur
ein
großer,
herzlichst, hochgemuter,
erhabenst
stolzhehrer, königlicher,
weisester Weiser
selbst,
nein, auch ein mutigst, nein, auch ein mannhaftst, nein, auch ein
unerschrockenst, genialst,
charakter-
reinst
sublimster,
lauterst, heroischst, unantastbarst
makelloser, erlauchtst, uneigennützigst, pflichttreust rigoroser,
grandioser, glorioser
Staatslenker,
Denker,
Zeiteinrenker, dem Volk um sich ein Zukunftsschenker,
ein,
selbst tief, tiefster, ein, selbst kühn, kühnster,
adeligst, untadeligst,
wägendst gerechter, schürfendst
echter,
grundlegendst, deutendst,
lichtausbreitendst
lapidarer, umfassendst rarer,
ruhmwürdigst,
machtvollst, prachtvollst
wunderbarer, wunderklarer,
wunderwahrer
Welterforscher und Geschichtsgelehrter
war.

(2/II, 201 f.)


Wortjazz

Hier lassen sich gleich einige Stileigentümlichkeiten der Sprache des großen »Phantasus« festhalten. Ein ZWANG fast zum Superlativ auch dort, wo nach klassischer Sprachlogik Steigerung nicht möglich ist:

    auserlesenst, auserkorenst, auserwähltst, selbstverleugnendst, selbstvergessendst, opferfreudigst.

An neologischen Wortzusammensetzungen zur Intensivierung oder zur Raffung begegnen hier nur »stolzhehr«, »geistärmlich« und »wunderwahr«. »Zeiteinrenker« und »Zukunftsschenker« lassen sich dazunehmen. Solche Bildungen sind an anderen Stellen häufiger und weitergehend. Sehr sinnfällig ist im Beispiel der mehrfache Einsatz des Reims:

    makellOSER, erlauchtst, uneigennützigst, pflichttreust rigorOSER, grandiOSER, gloriOSER StaatslENKER, DENKER, ZeiteinrENKER, dem Volk und sich ein ZukunftsschENKER.

Die immer wieder benutzte Alliteration ist ebenfalls deutlich belegt:

    schofelen, schäbigen, schimpflichen, schuftigen, schmählichen.

Das Beispiel zeigt auch, wie Text durch Reihenbildung erzeugt wird. Hier ist es die einfache Aneinanderreihung von bedeutungsverwandten Wörtern. Die Reihung kann aber auch größere Wortkombinationen bis zu ganzen Sätzen und Perioden erfassen.

Die von Arno Holz angestrebte große Bandbreite der Wortwahl läßt sich gut ablesen, wo in einer Synonymenreihe das fast gaunersprachliche »schofel« und das bildungssprachlich rare »méprisabel« zusammenkommen.

Und schließlich zeigt das Beispiel, wie die Fülle des Sprachmaterials zu weitgespannten Satzkonstruktionen führt, – an dieser Stelle noch relativ bequem überschaubar, vielfach aber nur noch unter äußerster Anspannung der Aufmerksamkeit zusammenzuhalten.

So weist die Sze-ma-kwang-Miniatur die Stilelemente auf, die das ganze Werk in weiten Teilen kennzeichnen. Alle tragen bei zur Erzeugung einer Sprache, die nichts mehr zu tun hat mit dem alltäglich-konventionaIisierten, d. h. weithin unemphatisch-logischen Sprachduktus. Arno Holz verläßt das vertraute Lexikon und sprengt damit die vertraute temperierte Situation der Kommunikation. Seine »Phantasus«-Texte sind also ein Produkt von Ekstase und zielen ihrerseits darauf ab, Ekstase herbeizuführen, zu ERZWINGEN fast.

Selbst exzessive Aufzählung und klassischer Sprachlogik zuwiderlaufende Superlative erweisen sich dann als überaus geeignet, das Stakkato für einen selbstvergessenen Wortjazz abzugeben. Hier die Schilderung einer ekstatisch mißtönigen Begrüßungsmusik:

Tobende,
rasselnde, rasende, prasselnde, quietschende, knarrende, quiekende, quarrende,
kläffende, bläffende, quärrende, plärrende,
meckernde, grunzende,
blökende,
belferndst, berstendst,
frenetischst, explodierendst, tumultuarischst
losbrechende,
loswütende, loshöllende
Tuben, Posaunen, Querpfeifen, Hörner,
Hohlrasseln, Heulkreisel,
Schrillhölzer, Stampfklappern, Rohrschnarren, Krachpauken,
Gambangs, Galinquangs, Gendangs,
Brummteufel
und Muscheltrompeten!

(2/II, 114)

Ein Moment des Ekstatischen ist für alle poetischen Texte eine wichtige Bedingung ihrer Poetizität. Für Arno Holz ist es ausgesprochen dominant in seinem SPÄTwerk, das etwa vom Ende seines fünften Lebensjahrzehnts an entstand. Selbst noch das kalte Kalkül in der Arbeit bei der Texterzeugung sowie in seinen Vorstellungen über die bühnenmäßige Präsentation des »Phantasus« ist ekstatisch betont (s. w. u.).


Die Erfindung des Phantasus

Jetzt ist zwischen den »Phantasus«-Dichtungen zu unterscheiden, die dem ab 1912 entstandenen großen »Phantasus« voraufgingen:

Erstmalig erschien der Name des Landschafters unter den griechischen Traumgöttern als Titel eines Zyklus von dreizehn Gedichten in der Lyriksammlung »Das Buch der Zeit«, die der 22jährige Arno Holz 1885 veröffentlichte (»1886« im Buch stimmt nicht). Motiv der in konventionellen Reimstrophen geschriebenen Gedichte ist der junge Dichter, der in eine gleißende Sprachwelt auswandert und deshalb vor die Hunde geht. Abwechselnd sprechen die Gedichte von den Träumungen des Dachstubenpoeten und von der ihn umgebenden Realität, die ihn allmählich erwürgt. Einer seiner Träume in der Dachstube:

    Ein grüner Turban schmückt das Haupt mir,
    Von Seide knittert mein Gewand,
    Und jeder Muselmensch hier glaubt mir,
    Ich wär der Fürst von Samarkand! (3,400)

Also Größenideen, inszeniert für Traumfluchten aus der Dachkammer. Wie wenig weit solche Flucht führen kann, wird jedoch mit der stets danebengehaltenen Schilderung der widrigen Lebensumstände des Träumers erinnert. Gleich zu Beginn heißt es über seine Behausung:

    Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,
    Vom Hof her stampfte die Fabrik,
    Es war die richtge Miethskaserne
    Mit Flur- und Leiermannsmusik!
    Im Keller nistete die Ratte,
    Parterre gab’s Branntwein, Grogk und Bier,
    Und bis ins fünfte Stockwerk hatte
    Das Vorstadtelend sein Quartier. (3,394)

Oder ein präzises Wortplakat kontrastiert mit den Traumfluchten:

    Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter
    Erhabner als der ganze Faust! (3,407)

Vom Kontrastprogramm avanciert der Traum des Dachstubenpoeten schließlich zum Votum gegen den Zustand der Realität. Ihm kommt man mit Träumen nicht bei, denn Realität schaltet Träume einfach ab:

    Sein Freund, der Doctor, aber zierte
    Brutal sich durch das Kämmerlein
    Und schneuzte sich und constatirte
    »Verhungert!« auf dem Todtenschein. (3,418)

Der auf den ersten Blick Eskapistisches annoncierende Titel »Phantasus« ist also als Ironie zu nehmen und dann sehr wohl am Platze für ein Buch, das aus politischen Gründen in der Schweiz erscheinen mußte und anläßlich dessen Detlev von Liliencron erschrak:

    Arno Holz ist ja wüster, rothester Socialdemokrat. (18/I,118)

Und das war damals durchaus riskant, denn noch bis 1890 galt das Bismarcksche Sozialistengesetz, das mit Repressalien wie z. B. Ausweisung drohte.

Im übrigen kann Arno Holz die Distanzierung von der Larmoyanz dieses ERSTEN Phantasus selbst besorgen:

    Naivität seiner Fabel, die an primitiver Kindlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. (1/X,701)

Und anläßlich der zweiten »Phantasus«-Fassung von 1898/99:

    Der verhungernde Dichter war als pappernes Requisit in die Rumpelkammer gewandert. (1/X,702)


»Phantasus«: Zufallsgenerator für Bewußtseinsstrom

Die ZWEITE Ausformung der »Phantasus«-Dichtung entwickelte sich in den neunziger Jahren – dokumentiert zunächst durch sporadische Veröffentlichungen einzelner Gedichte seit 1891; in den Jahren 1896 und 97 in der exklusiven Zeitschrift »PAN« dann schon deutlich mit Signalcharakter. 1898 und 99 erschienen die beiden kleinen Hefte mit je 50 Gedichten: Aufs Knappe angelegte lyrische Skizzen aus einem Bewußtseinsstrom. Als äußeres Kennzeichen die auf Mittelachse gesetzten Verszeilen. Die beiden Hefte wurden damals angekündigt als erste Lieferungen eines auf 1000 Gedichte zu bringenden Zyklus (11 nach 1/X,544), der die möglichen Bewußtseinslagen und -inhalte seiner Zeit durchspielen sollte.

Ein Reflex damals populärer Haeckelscher Ideen geht durch die Motivik der Vorform des späteren »Macht-Mythus«:

Da so in Hinterindien rum
muss ich schon mal irgendwie gelebt haben.

Ein kleiner Prozentsatz von mir
war mit Schuld daran, dass es mal Gotamo Buddho gab,
und noch heute, nachts, im Traum,
wenn ich ihn nicht mehr so recht kontrolliren kann,
trinkt er Palmwein aus Rhinozeroshörnern.

(4,60)

Wie andere seiner Zeit sah Arno Holz im überkommenen Instrumentarium der Lyrik eine Zwangsjacke. Für ihn ließ es keine adäquate Annäherung an die Denk- und Sachverhalte zu, die zur Sprache zu bringen waren. Über seinen Anspruch und dessen schwierige Verwirklichung schrieb er 1897 in einem Brief an Maximilian Harden, als er ihm »Phantasus«-Gedichte zusandte:

    Es würde mich herzlich freuen, wenn sie in ihrer letzten Absicht, nämlich so natürlich und einfach als nur irgend möglich zu sein, Ihren Beifall fänden. Das Experiment selbst – es giebt in der Lyrik kein schwierigeres – ich weiß, ist mir noch oft mißglückt. (26)

»Einfach« und »natürlich« bedeutete für ihn ZUFALLSFORM, die es in Überwindung der gewohnten gebundenen, regulierten Form, wie er sie so SICHER beherrschte, mühsam zu erarbeiten galt.


Bauhütte: Freimaurer und Ziegelbrenner

Seine Arbeitsweise war dabei geradezu handwerkerhaft workshopmäßig: Er arbeitete eng mit Freunden zusammen, die alle auf sein neues Formprinzip eingeschworen waren. An Harden schrieb er darüber 1898:

    Sie sehen: meine Schule schreitet schnell. Wir sind im Stillen bereits unserer Sechs! Ja – lachen Sie – wir haben sogar bereits unseren Apostata! Sie werden es sicher noch mehr thun, wenn Sie erst wissen, wen. Mehr darf ich heute nicht verrathen. (27)

Die Gedichte von Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Reß und Georg Stolzenberg erschienen ungefähr gleichzeitig mit den beiden Heften »Phantasus« bei Johann Sassenbach, nach dem sich die Gruppe intern »das Regiment Sassenbach« nannte. Der »Apostata« (unter diesem Pseudonym schrieb Maximilian Harden in seiner »Zukunft«) war Paul Ernst, der unter eigenmächtiger Veröffentlichung seiner »Polymeter« aus der Gruppe ausgeschert war.

Ein Gedicht aus dem Heft »Farben« von Robert Reß mag die thematische Reichweite der »Phantasus«-Gedichte bezeichnen, zu denen auf dieser Stufe durchaus auch die Produktionen der Freunde zu rechnen sind. Sie sind ja aus enger Zusammenarbeit mit Arno Holz entstanden. – 1899 veröffentlichte Robert Reß dies Gedicht:

Auf der Schützenwiese
zwischen Menagerieen, Riesendamen und Seiltänzern,
unter sich ein Postament von Granit,
steht
»das Vaterland«.

Eine schwarze, gusseiserne Puppe mit Augen aus Fensterglas.

Bunte Papierfähnchen zu ihr hinauf
schwenken Kinder.

Würdige Herrn in Frack und Orden
schwitzen feierliche Reden.
Sie glotzt ins Leere.

Sie ist ein Riesenofen,
der uns alle verbrennen wird!

(25, 34. Gedicht)

Bei aller spürbaren Einheitlichkeit des Duktus, die sich für die Gruppe ergab, hat nichtsdestoweniger jeder der Autoren unverkennbar seinen eigenen Ton. Und zwar so entschieden, daß z. B. ich in den »Farben« von Robert Reß und in den »Befreiten Flügeln« von Rolf Wolfgang Martens auf weit mehr Texte einsteige als im Holzschen »Phantasus« oder gar im »Neuen Leben« von Georg Stolzenberg. Andere Leser mögen anders zugreifen, doch wird sich in jedem Fall ein persönlich abgestuftes Interesse einstellen.

Diese Bemerkung und vor allem die Wiedergabe des Reß-Gedichts »Auf der Schützenwiese« soll die mir ganz unverständliche Behauptung aus der Welt schaffen, bei den Gedichten der Freunde handele es sich lediglich um »unfreiwillige Parodien« (so Gerhard Schulz in 4,147, und abermals in 21,77).

Ein spätes Beispiel für das Holzsche Vorgehen bei Werkstattarbeit ist die Bearbeitung eines Gedichtes von Hans Schlegel: »Kennst du das Land« (15). Im Vergleich von Vorlage und Bearbeitung wird deutlich, was implizit an handfester Handlungsanweisung von Arno Holz mitgeteilt wird (s. dazu 24 = meine Besprechung von 15).


Wortwelt der Bilder

Der Name Phantasus ist auf dieser zweiten Stufe zum Sigel für ein Bewußtsein geworden, das sich seiner Inhalte stets durch die sprachliche Abbreviatur versichern muß. Bilder – gleichgültig ob wahrgenommen oder vorgestellt – werden zu ihren WÖRTERN gebracht: Der »Phantasus« dieser Stufe führt durch die WORTWELT DER BILDER. Deshalb auch die Abkehr von der konventionellen Dichtungstechnik: von Metrum und Reim wie vom überkommenen poetischen Vokabular, denn diese Elemente sind SPIELFORMEN und als solche von den Bildern unabhängig.

Spielformen ergeben sich aus der Anwendung eines Regelapparats, dem innerhalb der ihn tragenden gesellschaftlichen Gruppierung der Charakter eines externalisierten Imperativs zukommt. Wer Spielformen verändert oder verletzt, negiert das gesellschaftlich integrierende Leitsystem und verweigert damit Sozialisation. Mit seinem Trespassing verwirkt er gesellschaftliche Bestrafung. Das gilt natürlich auch für die Gruppierung von Literaturproduzenten, Literaturvermittlern und literarischem Publikum.


Noch mal Trespassing und Verbitterung

Die Tendenz zur Überschreitung vorgefundener Grenzen läßt sich bei Arno Holz bereits in Themen- und Wortwahl im »Buch der Zeit« von 1885 beobachten. Sie verstärkt sich deutlich in den naturalistischen Texten, die er von 1888 bis 1890 gemeinsam mit Johannes Schlaf erarbeitete.

Für die auf Biegen und Brechen gewollte Existenz als Literat wurde damit die permanente Existenzkrise immer wieder neu programmiert. 1894 stellte er in einem Brief seine Situation in Kontrastierung mit dem von vornherein finanziell gut gestellten Gerhart Hauptmann wie folgt dar:

    Hauptmann hatte das Schicksal mit Hunderttausenden gesegnet, und wir andern waren arme Deubels. Die Folgen ergaben sich von selbst. Schlaf ist durch seine ewige Notlage so heruntergekommen, daß es zweifelhaft ist, ob er je wieder in den Besitz seiner geistigen Gesundheit gelangen wird, und ich selbst, der ein wenig robuster veranlagt ist, mühe mich wie jeder andere um mein trocknes Brot. Das sind böse Dinge! Das sind Einflüsse, die tiefer in die Entwicklung unsrer Künste eingreifen, als man je bisher auch nur anzudeuten gewagt. Man kennt nur die Sieger. Aber man weiß nicht, weswegen die Crepierten verfault sind. (14,94)

Die Entwicklung der Holzschen Beziehung zu Gerhart Hauptmann macht den eben angedeuteten literatursoziologischen Horizont gut sichtbar (dazu mit zahlreichen Details Helmut Scheuer in 20). Wie Johannes Schlaf und Paul Ernst war auch Gerhart Hauptmann bei Arno Holz »in die Lehre gegangen«. Die erste Auflage seines ersten Dramas, »Vor Sonnenaufgang« (1889), war also mit Fug Bjarne P. Holmsen, den pseudonymen Holz und Schlaf, gewidmet, die ihn angeleitet hatten; die Widmung der 2. Auflage galt dann aber Otto Brahm, der ihn aufführte.

Die Wirkung auf Arno Holz war tief und nachhaltig. 1922 baten die Hamburger Kammerspiele in einer Umfrage auch Arno Holz, in wenigen Sätzen die Frage zu beantworten: »Wie denken Sie über Gerhart Hauptmann?« Dies dürfte im Hinblick auf Hauptmanns 60. im Jahre 1923 geschehen sein. Dem gleichaltrigen Arno Holz lief die Galle über:

    Wie ich über Gerhart Hauptmann denke? In wenigen Sätzen? Von ihm stammt das Wort, der Tod ist die mildeste Form des Lebens. Danach wäre Schwarz die mildeste Form von Weiß und Gerhart Hauptmann die mildeste Form der deutschen Literatur. Eine Feststellung, gegen die ich nichts einzuwenden wüßte. (30)

Das Frustationspotential, das hier an Gerhart Hauptmann entladen wird, hatte sich allerdings aus weit mehr Anlässen aufgebaut. So berichtete er im bereits anzitierten Brief von 1894 über die Reklamationen auf die Vorveröffentlichung von »Phantasus«-Gedichten:

    Aber ich weiß schon: mit dieser Art hab ich kein Glück. Im vorjährigen Musenalmanach war ich so naiv gewesen, von dieser Sorte eine ganze Handvoll zu veröffentlichen. Das Resultat war ein allgemeines Wutgebrüll. Die Parodien usw. regneten nur so! Mein ganzes Verbrechen war, daß ich mit ihnen in unsrer Lyrik einen ähnlichen Vorstoß gewagt hatte, wie er in unserm Drama, wie die Tatsachen lehren, längst alles Alte über den Haufen geworfen. Erneuerung der Technik, Verschmähung aller alten Mittel auch auf diesem Gebiet! Ja, Prost Mahlzeit!! (14,94 f.)

Die Formulierung »Erneuerung der Technik auch auf diesem Gebiet« läßt ahnen, wie Arno Holz sich naiv auf die Parallelisierung der literarischen Entwicklung mit dem vom Hochkapitalismus getragenen technischen Fortschritt verließ. Wie technische Weiterentwicklung dem Erfinder-Ingenieur mit Lizenzgebühren und dergleichen honoriert wurde, sollte auch literarische Innovation entsprechende Prämien einbringen. Aber: »Prost Mahlzeit!!«

Auf die nicht abreißende Kette solcher Negativerfahrungen muß hier immer wieder eingegangen werden, weil sie die Haltung gegenüber der eigenen Produktion wesentlich mitbestimmte – insbesondere auch den Umschwung in der Produktionshaltung, der schließlich zur kompromißlosen Großfassung des »Phantasus« führte.

Auch die beiden Hefte »Phantasus« von 1898 und 1899 waren buchhändlerisch ein Mißerfolg, obwohl Arno Holz ihr Erscheinen z. B. mit den Vorveröffentlichungen im hochfashionablen »PAN« und mit einer ausführlichen Selbstanzeige in Hardens »Zukunft« nicht schlecht vorbereitet hatte; zudem gar noch eine eigens verfaßte theoretische Schrift herausgab: »Revolution der Lyrik« (1899).

Als Reaktion auf die »Phantasus«-Enttäuschung entstanden kurz nach 1900 »Die Blechschmiede« und der »Dafnis«. In der »Blechschmiede« spielt Holz satirisch und virtuos mit den mehr oder weniger konventionellen Formen und Motiven, wie sie in der zeitgenössischen Lyrik vorkamen. Im »Dafnis« spielt er esoterisch und virtuos mit barocken Ausdrucksformen.

Beide Werke nehmen damit Merkmale früherer Produktion wieder auf, die ins »Buch der Zeit« eingegangen war. Mit dem Unterschied nun aber, daß jetzt ein komödiantisch-sprachmimetisches Moment die Texterzeugung antreibt, wo es früher um eine statussichernde Manifestation von »Talent«, also Kompetenz, gegangen war. Vorgeführt wird in diesen beiden Werken der Akt der »Kostümierung« mit Sprechweisen anderweitiger Provenienz. Letztendlich geht es hierin ums Vorzeigen von Persönlichkeitsmerkmalen im Sprechakt, und zwar so grundsätzlicher wie beispielsweise Aggressivität in der »Blechschmiede« und Lust am Spiel im »Dafnis«. Die Person Arno Holz tritt auf und nicht mehr der Darsteller einer gesellschaftlich vermittelten Rolle (»junger Dichter« z. B.), die ihn rechtfertigt und determiniert.


Versuch mit der Publikumswirksamkeit

Es kam auch zu einer erneuten Zusammenarbeit mit dem Freund Oskar Jerschke. Arno Holz versprach sich davon ertragsträchtige Bühnenstücke. Es gab damals im Deutschen Reich etwa 700 Theater. Wer als Autor Aufnahme fand, war finanziell salviert. Zur Rechtfertigung dieser Brotarbeit schrieb er 1903 an Maximilian Harden:

    Was mich zu dieser neuen »Firma« veranlaßt hat? Die Erkenntniß, die mir mit jedem Jahre mehr aufgegangen ist, daß sich mit Kunst im allersublimsten Edelsinne auf Zeitgenossen nicht wirken läßt. Am wenigsten heut und auf dem Theater. Von diesem Theater absehn KANN ich aber nicht, denn ich muß existieren! Und sei es auch nur, um nach vielleicht 10 oder meinetwegen 20 Jahren meinen einen »Phantasus« unterzubringen, in dem ich jene Kunst geben will, die auf Zeitgenossenschaft verzichtet. (28) (Hervorhebung von AH).

Das Gespann Holz-Jerschke schrieb insgesamt fünf Stücke, davon allein vier in den Jahren 1901-1903: »Frei!«, »Gaudeamus«, »Heimkehr« und »Traumulus«. 1911 kam »Büxl« hinzu. Der »Traumulus« war zunächst auch ein so guter Theatererfolg, daß Arno Holz vom berauschend ungewohnten Geldsegen die Familienwohnung mit Möbeln für 15000 Goldmark ausstatten konnte (nach 31), damals eine ungeheure Stange Geld. Die »Traumulus«-Einnahmen verebbten und zerrannen rasch, weckten aber doch in Arno Holz wieder neu die Hoffnung, Bühnenwirksamkeit und literarische Qualität möchten miteinander vereinbar sein.

Noch 1905 faßte er den Plan zu einem neuen Stück, das diesmal von ihm allein sein sollte (nach 14,161). Im Juni 1906 berichtete Oskar Jerschke einem gemeinsamen Freund:

    Er arbeitet seit April unausgesetzt an seiner »Sonnenfinsterniss« (Stück mit vier Leichen! also jedenfalls schauervoll für das süsse Publicum.) (31)


Bildwelt der Wörter

Mit starken Effekten also (zwei Leichen sind es schließlich nur) glaubte Arno Holz das Publikum kirren zu können. Zugleich aber (und das ist jetzt ganz neu) spitzte er in vehement anrollenden Dialogen komplizierte Problematiken zu. So die Problematik des Malers, der unter Zweifeln an seiner künstlerischen Potenz nach neuem Realismus sucht, und die Problematik der Pantomimistin, die den Inzest mit dem Vater nicht bewältigt.

Die »Sonnenfinsternis«, die 1908 in Buchform erschien, markiert eine einschneidende Änderung des Ziels bei der Texterzeugung. Zuvor strebten die Texte einem statischen Tableau zu, das natürlich als solches überschaubar zu bleiben hatte. Die Sprache evozierte gerade soviel Vorstellungsmaterial, als zur Konstituierung des Tableaus nötig ist. Der Text ist Objekt, vor den Adressaten gestellt, der sich nach seinem Zuschnitt damit einrichten kann.

Von der »Sonnenfinsternis« an setzt sich in den Holzschen Texten zunehmend eine andersartige Zielsetzung durch. Es geht nicht mehr ausschließlich hin zu einem textübergreifenden Ganzen, dessen Konstituenten der Text in seinem Fortschreiten anliefert. Vielmehr ist jetzt auch der Durchgang durch die Evokationen des Sprachmaterials schon Ziel des Textes. Ein solcher Text kommt also in jedem Moment an ein Ziel, das ihn aber sogleich weiterweist zum nächsten. Durch diesen dialektischen Antrieb erhält der Text eine sehr intensive Motorik.

Im ersten Akt der »Sonnenfinsternis« mokiert sich der Protagonist, der Maler Hollrieder, über seine bisherigen Bilder:

    Da! Japan, Dürer, die neuen Franzosen, Velasquez, deine frühsten Gothiker ... alles, wie du es wünschst in eins verschmolzen! Arbeiter, die mit Blechkannen »in de Fabrike ziehn«, Pennbrüder, die sich mit Bindfäden die Stiebel zusammenflicken, Liebespaare, daß einem übel wird, statt Kornfelder Schornsteine und Telegraphenstangen, statt deines Waldes Brezeliand die Hasenheide, und statt römischer Aquädukte oder der Thermen des Caracalla die liebliche Verbindungsbahn! (... ) Nett! (7,44)

Hier werden Hollrieders sozialrealistische Sujets, wie sie der Berliner Maler Hans Baluschek, ein Freund von Arno Holz, gemalt haben könnte[1], den konventionellen Darstellungen bildungsbürgerlicher Denkkulissen gegenübergestellt.

Aber über das einfache sprachliche Komplement hinaus, das zur Verbalisierung eines Gedanken- oder Sachverhalts doch schon ausreichen würde, kommen hier gehäuft SYNONYME. Und zwar nicht, um die eine gedankliche Position nun durch möglichst große Redundanz abzusichern, sondern jetzt um des Wechsels der Bilder willen, die von der Synonymenreihe evoziert werden. Der Text zwingt den Adressaten in eine vehemente Bewegung durch die BILDWELT DER WÖRTER.


Bühne als Sprachlabor

Arno Holzens Bemühungen um das Drama und die schmerzhaften Erfahrungen, die sie ihm eintrugen, geben Aufschluß über die Sprachentwicklung hin zur »Phantasus«-Sprache in ihrer Spätform.

Seine auf Publikumswirksamkeit abzielende »Sonnenfinsternis«-Rechnung ging nicht auf. Noch 1907 wurde das Stück von Max Reinhardt anscheinend halbherzig zur Aufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters angenommen. Doch wurde es dann mit Paul Wegener und Lucie Höflich in den Hauptrollen (nach 33) und unter der Leitung von Rudolf Bernauer so offensichtlich lax geprobt, daß Arno Holz die »Sonnenfinsternis« noch auf der Generalprobe zurückzog (nach 1/X,477). Erst 1913 kam es zu der von Leopold Jessner inszenierten Uraufführung im Hamburger Thalia-Theater, die zwar einige andere Inszenierungen nach sich zog, aber keinen durchschlagenden Bühnenerfolg einleitete.

Die »Sonnenfinsternis« steht am Beginn einer sprachlichen Neuorientierung, die zunächst noch durch den Wunsch nach Bühnenwirksamkeit verzögert ist. So hat Arno Holz das Stück denn auch später überarbeitet und konsequenter in die inzwischen beherrschte neue Sprachform gebracht. 1919 erschien die bedeutend erweiterte Fassung (8).


Der ultimate Versuch: »Ignorabimus«

Der eklatante Mißerfolg mit der »Sonnenfinsternis« wird Arno Holz auf den schon 1903 gegenüber Harden so jakobinisch formulierten Verzicht auf Zeitgenossenschaft zurückgestoßen haben. In der Folge hielt er sich dran und äußerte credohaft ein halbes Jahr vor seinem Tode:

    Konzessionen? Das gibt es nicht. Jeder schreibt so, wie er schreiben muß. Auch die Courths-Mahler macht keine Konzessionen. (32)

Der nächste Schritt ist das 1910 bis 1912 entstandene große Drama »Ignorabimus«, im Druck erschienen 1913. Hierin sicherte sich Arno Holz sein neues wörterverschlingendes Verfahren der Texterzeugung. Äußeres Indiz ist die Länge, die Arno Holz selbst mit 5 Stunden veranschlagte. Sehr rigoristisch bemerkte er dazu in einem Brief an Maximilian Harden:

    Die Länge ist nur Tristanlänge, und gerade unsre Tage beweisen es, daß das Publikum eine solche aushält. (29)

Italienische Aufführung 1986:
Marco Vallora, Klaus M. Rarisch u.a.
sowie DER SPIEGEL

Das äußerst düster ausgehende Schicksalsdrama um einen Naturwissenschaftler, der mit dem Okkultisinus kollidiert und dadurch eine vererbungsdeterminierte Familienkatastrophe entfesselt, wurde erst sehr viel später und nur einmal inszeniert: Die von Bertolt Viertel und Louise Dumont 1927 in Düsseldorf eingerichtete Aufführung des auf etwa die Hälfte gekürzten Textes dauerte viereinhalb Stunden (Uraufführung am 14. 4. 1927).

Allen Enttäuschungen zum Trotz blieb Arno Holz von den Möglichkeiten der Bühne fasziniert. Ganz sicher aber ging es ihm dabei nicht um Theater in den konventionellen Funktionen. Sein Theater will den Zuschauer überwältigen, muß gar AUSGEHALTEN werden wie Entbehrung. Es kommt mit einem Absolutheitsanspruch daher wie Werke z. B. von Quirin Kuhlmann, Klopstock, Wagner, Joyce, Arno Schmidt. Es steht sozusagen in militanter Konkurrenz zum wirtschaftlichen Produktionsprozeß, der ihm (natürlich mit Erfolg) die Zielgruppe vorenthält.


Rituale der Arbeit am großen »Phantasus«

So war Arno Holz determiniert, als er nach Abschluß der Arbeit am »Ignorabimus« 1912 intensiver daranging, den »Phantasus« von 1898/99 neu zu fassen. Zu der für 1913 geplanten Ausgabe in sieben Heften kam es allerdings nicht, da Arno Holz die bereits begonnene Arbeit abbrach, um noch radikaler zur Neufassung anzusetzen. Die schon ausgedruckten ersten drei Hefte ließ er einstampfen. Erst 1916 erschien dann im Insel-Verlag die erste Ausgabe des großen »Phantasus«.

Für diese und die späteren Fassungen gab der »Phantasus« von 1898/99 mit seinen 100 kurzen Gedichten nicht mehr als einen dünnen motivischen Rahmen ab. Fast alle seine Gedichte lassen sich noch in der letzten Fassung wiedererkennen, obschon ihre Formulierungen oftmals in der Fülle des neuen Sprachmaterials fast untergehen. Die Zahl der Gedichte hat sich bei der späteren Bearbeitung nur wenig erhöht: Die nachgelassene Fassung umfaßt 136.

Der »Phantasus« der dritten Stufe entstand nun keineswegs in der Abkehr vom Theater, wie es scheinen mag. Vielmehr handelt es sich bei den »Phantasus«-Texten um Monologe für ein von Arno Holz geträumtes Übertheater. Zugleich entwickelte Arno Holz eine geradezu ingenieurmäßige Arbeitsweise, wie in strikter Analogie zu industriellen Fertigungsprozessen.

Beides – d. h. die Ausrichtung auf eine imaginierte Bühnendarstellung ebensogut wie die quasi-industrielle Textfertigung – wirkte stark auf Form und Inhalt der nun entstehenden Texte ein. Um so stärker war diese Determinierung, als beides doch bloß virtuell war: Weder war eine Bühnenpräsentation wirklich in Sicht, noch war die Arbeit am »Phantasus« wirklich industrielle Produktion. So erklärt sich die Vehemenz des großen »Phantasus«: Sie strebt zur Ekstase, um so auf eher magische Weise mannigfache Zielvorstellungen operabel zu machen, die sonst nirgendwo einzukuppeln wären.

In einem nachgelassenen Manuskript seines Freundes Robert Reß (34) findet sich ein enthusiastischer Augenzeugenbericht über das Arbeitsverfahren, das Arno Holz während der Arbeit an der ersten Großfassung des »Phantasus« entwickelte. Robert Reß erzählt, unter welchen äußeren Umständen und unter welchen Vorkehrungen technischer Art Arno Holz das zunächst zum jeweiligen Motiv angesammelte Cluster von Wortstämmen in mehrfachen Durchgängen zu morphosyntaktisch regulierten Einheiten organisierte. Die hautnahe und detaildichte Schilderung ist in der Arno-Holz-Literatur einzigdastehend – die starken stilistischen Anleihen beim großen »Phantasus« mit ihren Erschwernissen fürs Lesen seien deshalb in Kauf genommen. Der ungekürzte Text ist im vorliegenden Heft auf S. 103/104 wiedergegeben: »Arno Holz arbeitet am Phantasus« (auch in 9).


Werkstoff – Kalkül – Montage

Wie Robert Reß mitteilt, hat Arno Holz die geschilderte Methode der Texterzeugung zuerst nur bei besonders schwierigen Passagen, später dann aber prinzipiell angewandt. Drei Punkte des Reß-Berichts sind als bedeutsam festzuhalten:

Erstens: Arno Holz gewann sein Material zu einem bedeutenden Teil, indem er »Ressourcen«, nämlich Wörterbücher, Nachschlagewerke u. dgl. ausbeutete, wie man Bodenschätze abbaut. Über die Bücher in seiner im Zweiten Weltkrieg durch Bomben vernichteten Handbibliothek berichtete Hasso Becker 1937:

    Es sind nicht viele, er ist nie vermögend genug gewesen, um sich Bücher anzuschaffen, und besaß nur den Grundstock seines ausgebreiteten Wissens in ein paar vielbändigen Werken – das andere besorgte er sich aus der Staatsbibliothek, mit der er einen regen Briefwechsel führte. Da steht eine große Ausgabe des Brockhaus [2]. Die vielen Bände der großen Ausgabe von Brehms Tierleben. Prellers Mythologie. Vier Bände der »Literaturen des Ostens«. »Weiß, Kostümkunde.« »Lübke, Geschichte der Architektur.« »Die Frauen des Orients.« Viele Wörterbücher, u. a. die altersbraun gewordenen schweinsledernen Folianten des Deutsch-Lateinischen und Lateinisch-Deutschen Handwörterbuches von Georges. (16,599).

Anita Holz erwähnte dazu das Synonymen-Wörterbuch von Schlessing (»Deutscher Wortschatz«).

Zweitens: Arno Holz wendete eine Montage-Technik an, die ihm die labormäßige Handhabung seines Sprachmaterials erlaubte. Sprache wird verfügbar wie Konstruktionsteile im Stahlbau. Robert Reß verwendet bezeichnenderweise das auf regelmäßige Gitterkonstruktion anspielende Bild des Kristallwachstums. Labormäßiges Vorgehen bei der Texterzeugung war es schon, als Arno Holz und Johannes Schlaf in den Jahren 1888 und 1889 bei ihrer Zusammenarbeit z. B. Öl und Docht kauften, um die Beleuchtung durch ein Nachtlicht möglichst exakt beschreiben zu können (s. 13,17). Montage pur übrigens in Holzens »Scherzphantasus«, den Klaus M. Rarisch in »die horen«, Band 88 (S. 3 ff.) vorstellte.

Drittens: Robert Reß erwähnt eine Zahlenkontrolle, der die »Phantasus«-Lyrik unterzogen wurde. Hier ist die Zahlenarchitektonik angedeutet, die Arno Holz der »Phantasus«-Fassung von 1925 und der Nachlaßfassung zugrunde legte. Anhand von Beobachtungen an der Folio-Ausgabe von 1916 entwickelte er dieses Konstruktionsprinzip:

    Eine Unzahl von angestellten Versuchen und nachträglichen Stichproben ergab: als Grundverhältnis die springende Reihe von 1, 3, 5, 7, 9, 12, 15 und so weiter, der eine andere Reihe von 2, 4, 6 und so weiter nur dann gegenübersteht, wenn es sich um – wie sage ich? – Antithetisches, oder vielleicht besser: »Liebe und Haß dreht.« (1/X, 662)

Arno Holz hat die »Phantasus«-Lyrik in vielfältige Zahlenbeziehungen eingepaßt. Silbenzahl der Wörter und der Zeilen, Umfang und Anzahl der Sätze, Abschnittgliederung, Zahl z. B. der Adjektive bei Substantiven, Anordnung inhaltlicher Positionen, Häufigkeit von Wiederholung und so weiter sind akribisch danach ausgerichtet. Diese Zahlenarchitektonik garantierte ihm eine inhaltsgemäße rhythmische Gliederung des Sprachmaterials.

Materialgewinnung, »Zahlenarchitektonik« und Montage-Technik belegen, wie Arno Holz sich sein Produktionsverfahren deutlich in Analogie zur Naturwissenschaft und vor allem zur Technik arrangiert hatte. Die Energie, mit der er diese Praktiken anwandte und nach außen vertrat, läßt die Folgerung zu, daß diese Arbeitsweise für ihn die Bedeutung eines Ritus hatte: Arno Holz löste das technische Kalkül aus dem angestammten Zusammenhang heraus und transponierte es auf die Dichtung. Das ist als Zeichen von Ekstase zu deuten und sieht aus wie eine Beschwörung. Im poète-ingénieur läßt sich ein reziproker Schamane vermuten.


»Phantasus« als Bühnentext

Nach dem Blick auf die Texterzeugung sind jetzt wieder Herkunft und Ziel der »Phantasus«-Sprache anzusehen. Wie gezeigt, vollzog sich während der Arbeit an den Dramen »Sonnenfinsternis« und »Ignorabimus« (etwa von 1906 bis 1912) bei Arno Holz eine sprachliche Neuorientierung. Brachte er vorher die in der Realität lokalisierten Bilder zu ihren Wörtern, werden nun die Wörter zu den Bildern getrieben – und sind sie nicht willig, mit Gewalt, d. h. auch mit Wörterbüchern u. dgl.

Arno Holz selbst weist im Vorwort zur »Ignorabimus«-Erstausgabe von 1913 auf den Zusammenhang zwischen seinen Dramen und dem »Phantasus« hin – zu einer Zeit also, als eine neue »Phantasus«-Konzeption sich abzeichnete:

    Lyrik und Drama – bereits bei der »Sonnenfinsternis« war mir das aufgegangen, aber erst durch das Ignorabimus« ist es mir heute Gewißheit – haben sich formal wieder zu einer Einheit geschlossen! Denselben rhythmischen Notwendigkeitsorganismus, den jedes mir geglückte »Phantasus«-Gedicht darstellt, nur noch entsprechend differenziierter, bilden jetzt auch diese Tragödien! (10, XIII f.)

Zwei Stücke Dramentext dokumentieren den Zusammenhang zwischen den Dramen und dem »Phantasus« besonders gut:

Im Geleitwort zur »Phantasus«-Ausgabe von 1916 erzählt Arno Holz, wie er ein Stück »Ignorabimus«-Sprechtext einfach mechanisch in den »Phantasus« übernehmen konnte, um dort eine inhaltliche Lücke zu schließen.

Die 1919 erschienene Ausgabe der »Sonnenfinsternis« ist gegenüber dem Erstdruck von 1908 stark erweitert. Neu gefaßt wurde u. a. auch einer der Höhepunkte des 5. Aktes. Dort entwirft der Maler Hollrieder den Plan zu einer Monumentalplastik, die das Thema Liebe in allen Aspekten ausschöpfen soll. Nach einem Manuskript im Nachlaß zu schließen, hat Arno Holz die erweiterte Neufassung des Sprechtextes dieser Stelle zuerst in der Form eines »Phantasus«-Gedichtes niedergeschrieben (»Berg des Lebens« in 9).


Regieanweisungen für eine weiße Messe?

Wie Arno Holz also für die Bühne endlich »Phantasus«-Texte schrieb, wenn er besondere Intensität erzielen wollte, so produzierte er den großen »Phantasus« eigentlich für die Bühne. In einer Einführung zum »Phantasus«, die nur damals in kleiner Auflage als Pressendruck in Rowohlts Officina Serpentis erschien, teilt er seine Vorstellung von einer Bühnenpräsentation des »Phantasus« mit. Er spricht hier von einer Inszenierung des umfangreichen Gedichts »Macht-Mythus«:

    Dieses Opus ist nichts mehr und nichts weniger als eine Partitur, die also nicht gelesen, sondern gespielt sein will. Und wenn ihr Spieler noch nicht da ist ... er wird dereinst auftauchen! Ich sehe ihn vor einem verdunkelten Saale, zwischen schweren Faltenwänden, auf einer zeitlosen Sella, in einem ebensolchen Kostüm, das wechselnde Mienenspiel scharfhell beleuchtet, und nicht nur sein Wort spricht, sein Ton, seine Stimme ... der ganze Mensch, seine kleinste Gebärde, seine geringste Bewegung! Der Mann reproduziert diesen »Machtmythus« nicht, dieser Mythus wird aus ihm, er leibt und lebt ihn! Läßt ihn vor Euch entstehen, formt ihn, zaubert ihn vor Euch in die Luft! Daß Euch kein Fipselchen entgeht, daß die Fibern Euch brennen, daß die Haare sich Euch sträuben, daß es Euch über den Rücken rinnt, und daß Ihr erst wieder zu Euch kommt, wenn der Vorhang vor dem mir heute noch Unbekannten sich schon längst wieder geschlossen hat und Ihr unter wieder aufgeflammten Kronleuchtern dahinterkommt, daß Ihr noch immer zwischen Herrn Schulze und Frau Müller sitzt.

    Wendet man mir dagegen ein: Du verlangst zuviel! Wessen Hirn soll so etwas lernen? Das geht über jedes Kraft! ... so wäre trocken darauf zu erwidern: Langt hier kein Gedächtnis, versagt auch der Souffleur, warum sollte jenes Mannes Text nicht, mechanisch sich abrollend über den Köpfen derer ihm zu Füßen, wie eine Bilderserie im Kinema, ihm, jeden Augenblick gegenüber, verläßlich sichtbar zugegen sein? Der Technik wäre eine derartige Lösung ein Kinderspiel, und was ginge es die ganz und gar nur zu Augen und Ohren gewordenen an, was lautlos hinter ihren so und so viel hundert Rücken passierte?

    Führte ich an einem solchen Abend die Regie ... aber man beruhige sich, ich werde sie nicht führen ... so würde ich den Künstler, mit einer entsprechenden Pause nach diesem zweiten Stück, das ganze erste Heft sprechen lassen. Bei zu dreiviertel verdunkelten Bühne, sodaß der Sprecher noch kaum bereits bemerkbar sein würde und eigentlich nur erst seine Stimme wirkte, zuerst das kurze »Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt« als Ouvertüre, dann, wie eben bereits kurz skizziert, diesen Machtmythus und, nach erfolgter Rekreation, nachdem das Publikum wieder aufnahmefähig geworden, bei vollst und gänzlichst erleuchteten Bühne, die Sella nicht mehr vorhanden und der Sprecher aufrecht, als Abschluß und zweiten Teil, das siegerisch-visionäre Pronunziamento [...]. (12,26 f.)

Arno Holz resümiert seinen Traum:

    Auf diese Weise würde mein Werk, in zwölf Büchern fertiggestellt, das Programm oder, falls man so lieber will, die Wortunterlage für zwölf große Abende bilden. Lyrik nicht mehr für das stille Kämmerlein auf stummem Papier, sondern tönend vom Zartesten bis zum Gewaltigsten für immer und wieder Tausende! (12,28)

Sieht man die Drucke der beiden großen Dramen an, fallen die zahlreichen, sehr ausführlichen Regieanweisungen auf, mit denen Arno Holz die Realisation des Textes einzukreisen und festzulegen sucht. Regiebemerkungen solcher Art stammen z. B. von Max Reinhardt und Hermann Bahr. Beide sind als Regisseure durch die Schule Otto Brahms gegangen, der 1889 in Berlin den Verein Freie Bühne ins Leben gerufen und dort wichtige Aufführungen naturalistischer Theaterstücke veranstaltet hatte. Als zeitweiliger Redakteur der Zeitschrift der Freien Bühne hatte auch Arno Holz Einblicke in die Theaterarbeit Otto Brahms gewonnen.

Selbst aus den Regieanweisungen der großen Dramen (das folgende Beispiel stammt aus dem erwähnten Entwurf der Plastik »Berg des Lebens«) spricht oft genug der »Phantasus«-Holz. Da schreibt er für Hollrieder vor:

    wieder ganz Feuer, wieder ganz Funkensprüher, wieder ganz Flamme; jedes Einzelwort von charakteristischster Färbung, jeder Tonwert beseelt, jeder Superlativlaut aus empfundenster Notwendigkeit; alle von ihm wie aus dem Nichts in Licht und Luft gestellte drei Vorstellungs-Widerpaare qualvollst von ihm gefühlteste, schöpferischst gestaltete, lebendigste Organismen. (8,215)

Diese Regieanweisung betrifft Sprechtext, der allem Anschein nach in der Form eines »Phantasus«-Gedichtes konzipiert wurde. Das Beispiel dieser »Sonnenfinsternis«-Passage zwingt also zur Feststellung:

IM »PHANTASUS« FEHLEN DIE REGIEBEMERKUNGEN.

Der Mock-Bühnentext der »Blechschmiede« ist da weiter. Dort finden sich reichlich Regieanweisungen. Sie sind allerdings so sehr mit tongue in cheek geschrieben, daß sie ein Feuerwerk von Absurdität abgeben. In der »Blechschmiede« kommt es gar dahin, daß Regieanweisungen konsequenterweise in der Form von »Phantasus«-Gedichten gegeben werden [3].


Deep Space der Sprache

Als ekstatische Rhetorik ist die Sprache des großen »Phantasus« recht verstanden. Die Leistung des Textes ergibt sich aus dem starken Sog, den die semantische Dimension des einzelnen Wortes in diesen hellen Haufen von Wörtern ausübt. Dieser Sog reißt den Leser – und um ein Vielfaches mehr noch den Hörer [4] – von Wort zu Wort und von Evokation zu Evokation in eine vehemente Bewegung durch einen SEHR weiten vieldimensionalen Raum. Das Ziel des Textes ist also eine nicht formulierte und nicht formulierbare MOTORIK jenseits des Textes. Also: keine TiefenSTRUKTUR, sondern eine TiefenMOTION. – Daß dies »gern« verpaßt wird, versteht sich angesichts der schwielen- und hornhautbildenden Regelsozialisation von selbst [5].

Döblins Bemerkung über die Parallele zwischen dem »Phantasus« und der ungegenständlichen Malerei z. B. von Kandinsky zielt in diese Richtung. Ich möchte auch den Briefträger Cheval als Erklärer des »Phantasus« einbringen, oder umgekehrt – das ist ein andres Thema. Bleibt man jedoch im semantischen Vorfeld des Textes und versucht man lediglich, ihn auf eine semantische Summe zu ziehen, muß es natürlich zu den mehr oder weniger vernichtenden Urteilen kommen, wie sie sich in Kritik und Literaturwissenschaft bis heute gehalten haben.

Alfred Döblin hat auch auf die merkwürdige Dialektik hingewiesen, die bei der Erzeugung der Texte wirkte und die ihnen innewohnt:

    Eine ganze Anzahl von Jahren hatten mich diese und jene PhantasusGedichte begleitet, und wir können ihre Entwicklung beobachten aus frühen, kleinen Zellen bis zu diesen alle Rahmen sprengenden Wucherungen, bis zu der Elefantiasis, dem letzten, nunmehr ins ganz wild Chaotische und Formlose Sichverströmen.

    Es wurde mir aber klar, gerade vor dieser Wucherung, dieser scheinbaren Elefantiasis: erst sie offenbart den eigentlichen Charakter und die Form dieser Dichtung. [...] Hier ist jenes Wort am Platze von der Quantität, die in Qualität umschlägt. Es ist nämlich schon nicht mehr Dichtung und Wortkunst im gewöhnlichen Sinn und in dem Sinn, der im Beginn vor Holz’ Augen stand. Es wurde ihm unter den Fingern etwas anderes, als er wollte, ja, als er wußte. Das Ganze entglitt ihm. Aber sein Unbewußtes, gegen sein Gehirn, befahl ihm zu folgen, und er kam auf ein neues Gebiet. (17,18)

Dieser Dialektik entspricht es, daß Arno Holz die »Phantasus«-Sprache mit ihrem Ziel im Nichtformulierbaren in so extreme Formen hochrhythmischer Rhetorik brachte, – daß er gar expressis verbis die konkrete Bühnenrealisation im Sinn hatte. Seine genaue Vorstellung von der intensiven Textwirkung spricht übrigens gegen die Döblinsche Spekulation, Arno Holz habe die Tragweite seiner Arbeit nicht abgesehen.

Dieser Dialektik entspricht schließlich auch der Drang zu technoider Regulierung bei der Texterzeugung. VOR dem Text wird ein zahlenbestimmtes Formalkalkül ins Werk gesetzt. Es korrespondiert dialektisch mit einer überbordenden Spontaneität DAHINTER.


Anmerkungen

1) Die Baluschek-Ausstellung einstens im Märkischen Museum war ein starker Eindruck. Ich denke besonders an das Bild »Aufgegriffen!«.
2) Die 8. Auflage in 12 Bänden (1833-37), wie sich nach der Angabe In einem »Phantasus«-Gedicht ergänzen läßt (2/II,80).
3) 2/VI, 164 f., 211 ff., 215 ff. (3mal), 228-292 (Aufmarsch der Entwicklungsgeschichte), 320 ff., 325 fl., 340 f.; 2/VII, 17 ff., 75-123 (Environment für »die dreiunddreißig Freßsäcke«), 144 ff., 235 ff.
4) Einen Eindruck davon vermittelt der Vortrag des »längsten Satzes der Weltliteratur« durch Klaus M. Rarisch auf dem S Press Tonband (6). S. dazu auch meine Besprechung (22).
5) Ich glaube, daß das Verständnisproblem vor vielen »Phantasus«-Texten insofern ähnlich begründet ist wie das allgemeine Schütteln des Kopfes über den Schluß von Kubricks »2001 Odyssee im Weltraum«.

Belegmaterial

Werke von Arno Holz:
1. Das Werk. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer. Berlin 1924/25.
2. Werke. Hg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz. (Neuwied und Berlin-Spandau 1961–64.).
3. Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886.
4. Phantasus. Faksimiledruck der Erstfassung. Hg. von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam (1968).
5. Phantasus. Leipzig 1916. (Das zitierte Geleitwort lag damals nur den Exemplaren für die Presse bei).
6. Der längste Satz der Weltliteratur. Aus dem »Phantasus«. Gesprochen von Klaus M. Rarisch. S Press Tonband Nr. 11. (Hattingen: Edition S Press 1972). (Neue Anschrift: Rochusstr. 56, D-4000 Düsseldorf ... ne! Die stimmt wohl nicht mehr).
7. Sonnenfinsternis. Tragödie. (Berlin. Die Wende einer Zeit In Dramen). Berlin 1908.
8. Sonnenfinsternis. Tragödie. (Berlin / Die Wende einer Zeit in Dramen). Neu durchgearbeitetes, stark verändertes zweites bis viertes Tausend. Berlin 1919.
9. Berg des Lebens. Ein Phantasusgedicht fürs Theater. Aus der Tragödie »Sonnenfinsternis«. Mit einem Augenzeugenbericht von Robert Reß und einem Nachwort hg. von Robert Wohlleben. Hamburg: Robert Wohlleben 1979.
10. Ignorabimus. Tragödie. (Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen). Dresden 1913.
11. Revolution der Lyrik. – Berlin. 1899. (Hier zitiert nach 1 / X,485 ff.
12. Phantasus. Zur Einführung. Berlin 1922.
13. Dr. Richard M. Meyer, Privatdozent an der Universität Berlin, ein literarischer Ehrabschneider. Berlin 1900.
14. Briefe. Eine Auswahl, hg. von Anita Holz und Max Wagner. Mit einer Einführung von Hans Heinrich Borcherdt. München (1948).
15. Kennst du das Land. Ein lyrischer Briefwechsel mit Hans Schlegel. Hg. von Klaus M. Rarisch. (Düsseldorf): Eremiten-Presse 1977.

Literatur zu Arno Holz:
16. O. E. H[asso]. Becker: Arno Holz lebt! In: Ostdeutsche Monatshefte, 17. Jg., Nr. 10 (Januar 1937), S. 599-607.
17. Alfred Döblin: Arno Holz. Die Revolution der Lyrik. Eine Einführung in sein Werk und eine Auswahl. Wiesbaden 1951.
18. Detlev von Liliencron: Ausgewählte Briefe. Hg. von Richard Dehmel. Berlin 1910.
19. Martin Pfeideler: »Phantasus«. Ein Rückblick auf Leben und Werk von Arno Holz mit Zitaten aus seinem Werk. SFB, 1. Programm, 22. 3. 1970 (Sendemanuskript).
20. Helmut Scheuer. Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883-1896). Eine biographische Studie. München (1971).
21. Gerhard Schulz: Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens. München (1974).
22. Robert Wohlleben: Eindreiviertel Stunden »Phantasus«: Arno Holz für heute! In: »die horen«, Band 94 (1974), S. 59 f. (= Rezension von 6).
23. Ders.: Zielscheibe Arno Holz. In: »die horen«, Band 103 (1976), S. 63 1. (= Rezension von 21).
24. Ders., Mignon und Merde. Oder: Über literarische Zusammenarbeit. Posthume Arno-Holz-Miniatur bei den Eremiten. In: »die horen«, Band 116 (1979), S. 117 lt. (= Rezension von 15).

Sonstige Literatur:
25. Robert Reß: Farben. Berlin 1899.

Archivmaterialien:
Unveröffentlichte Briefe von Arno Holz:
26. an Maximilian Harden unterm 30. 10. 1897 (Standort III)
27. an Maximilian Harden unterm 20. 4. 1898 (Standort III)
28. an Maximilian Harden unterm 14. 1. 1903 (Standort III)
29. an Maximilian Harden unterm 28. 12. 1913 (Standort III)
30. an die Hamburger Kammerspiele (spätere Abschrift des auf einem Brief der Hamburger Kammerspiele vom 27. 9. 1922 niedergeschriebenen Entwurfs) (Standort II)

Sonstige Archivalien:
31. Brief von Oskar Jerschke an Emil Richter unterm 20. 6. 1906 (Standort I)
32. Werner Rosenstein: Gespräch mit Arno Holz am 6. 3. 1929 (Typoskript mit Gedächtnisprotokoll) (Standort II)
33. »Sonnenfinsternis«-Inspizientenbuch von Wilhelm Noster (zur 1908 geplanten Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters), (Standort II)
34. Robert Reß: Die deutsche Form der Wortkunst und ihre Schöpfung durch Arno Holz. Nachgelassenes Manuskript (Standort II)

Standorte:
I. Nachlaß Holz II, Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem
II. Arno-Holz-Archiv, Amerika-Gedenkbibliothek, Berlin
III. Nachlaß Maximilian Harden, Bundesarchiv, Koblenz

erschienen in: die horen Nr. 116, 4. Quartal 1979, S. 84-102

 

 

 

 

Arno Holz bei fulgura frango

 

 



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