Regiment Sassenbach: Motiv Tête-à-Têtes


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Fidus

Tête-à-têtes

Als Arno Holz 1898 und ’99 seine beiden Phantasus-Hefte mit zusammen hundert Gedichten rausbrachte, geschah es noch mit der Idee, die Zahl der Gedichte auf tausend zu bringen. Ziel war, damit ein umfassendes »Weltbild« zu geben, [1] musivisch zusammengestückt aus Wahrnehmungen, Stimmungen, Regungen eines zeitgenössischen Bewußtseins. Bezeichnend, daß unter den neun 1893 in Otto Julius Bierbaums Modernem Musenalmanach veröffentlichten frühen Phantasus-Gedichten an erster Stelle – mit der Überschrift »Du« und noch linksbündig gesetzt – ein Liebesgedicht rangiert, [2] später, leicht verändert, in dieser Form im ersten Phantasus-Heft:

Ich weiss.

Oft
wars nur ein Lachen, ein Handdruck von dir,
oder ein Härchen, ein blosses Härchen,
das dir der Wind ins Genick geweht,
und all mein Blut
gährte gleich auf,
und all mein Herz
schlug nach dir.

Dich haben, dich haben,
dich endlich mal haben,
ganz und nackt, ganz und nackt!

Und heut,
zum ersten Mal,
unten am See, glitzernd im Mittag,
sah ich dich so.

Ganz und nackt! Ganz und nackt!

Und mein Herz
stand still.

Vor Glück, vor Glück.

Und es war keine Welt mehr,
nichts, nichts, nichts,

es war nur noch Sonne, nur noch Sonne –

so schön warst du! [3]

Damit ist das Motiv der Himmelsmacht angeschlagen, die aber laut Pierers Lexikon bloß nicht vagabundieren soll:

    In Bezug auf Personen prägt sich die Liebe am stärksten aus in der Geschlechts-L. (überhaupt die stärkste Aeußerung), welche in der Familien-L. od. der L. zur Nachkommenschaft ihren wahren Sinn u. Weihe erhält. [4]

Im Druck von 1898 eröffnet das Gedicht eine Sequenz von sieben Gedichten, die sozusagen die Flugparabel eines Beziehungsverlauf nachzeichnet: der »himmelhochjauchzende« Beginn, der Aufstieg zum innig einander zugeneigten Elternpaar und das Ende: »Du gingst.«

Die ans erste anschließenden fünf Gedichte scheinen diesem Konzept zu folgen und führen die Entwicklung dieser so begonnenen Beziehung bis zu diesem Familienidyll fort:

Ein mal noch,
bevor wir schlafen gehn,
zu unsern Jungens!

In beide Bettchen scheint der Mond.

Der Biela noch im Arm das Püppchen,
sein Bruder um den Hals die Perlenkette . . .

Leise,
auf Spitzzehen,
tasten wir in unser Zimmer. [x, S. 45]

Die Klimax – und damit der kleine »Roman« – endet dann sehr abrupt:

Du gingst.

Die Blätter … fallen.

In blaue Dämmrung sinkt das Thal.

Ich starre in die steigenden Nebel …

Da,
einmal noch, aus der Ferne,
weht dein Tuch.

Grüsse! Grüsse!

Ich strecke sehnsüchtig die Arme …

Vorbei.

Aus den Silberpappeln schreien die Staare in den Sonnenuntergang. [x, S. 46]

Beim Sohn mit dem familiären Kosenamen Biela handelt es sich um Walter, Milli und Arno Holzens Zweitgeborenen. Damit wird deutlich, daß Arno Holz hier nicht von jemand Fiktivem oder ihm nur von fern Bekannten oder gar Ausgedachtem spricht, sondern von eignem Erleben in Beziehung zu einer realen Frau, von Selbsterlebtem also wie andernorts etwa von der Erstaufführung seiner Komödie »Sozialaristokraten«, von einer Arbeitssitzung mit der um ihn versammelten Dichtergruppe, von seiner Kindheit. Er hielt seine Gedichte keineswegs von erkennbar biographischen Ingredienzien frei.

Holz thematisiert nicht nur selber erlebte Liebe, sondern beobachtet auch andere Menschen:

In den Grunewald,
seit fünf Uhr früh,
spie Berlin seine Extrazüge.

Ueber die Brücke von Halensee,
über Spandau, Schmargendorf, über den Pichelsberg,
von allen Seiten,
zwischen trommelnden Turnerzügen, zwischen Kremsern mit Musik,
entlang die schimmernde Havel,
kilometerten sich die Chausseeflöhe.

„Pankow, Pankow, Pankow, Kille, Kille“„Rixdorfer“ „Schunkelwalzer“ „Holzauktion!“

Jetzt ist es Nacht.

Noch immer
aus der Hundequäle
quietscht und empört sich der Leierkasten.

Hinter den Bahndamm, zwischen die dunklen Kuscheln,
verschwindet
eine brennende Cigarre, ein Pfingstkleid.

Luna: lächelt.

Zwischen weggeworfnem Stullenpapier und Eierschalen
suchen sie die blaue Blume! [5]

So geht’s am »Berliner Himmelfahrtstag«, wie Holz das Gedicht in der nachgelassenen Großfassung betitelte. [6] Zur brennenden Cigarre und dem Pflingstkleid im Gestrüppversteck finden sich im Wege eines ähnlichen Pars pro toto bei Georg Stolzenberg Stiefel und Schürze als Pendant, ebenfalls im Mondschein und zu quietschender Musik aus der Ferne:

Durch die laue Nacht
leuchten die weißen Stämme der Obstbäume.
Levkojen duften.

Ueber die dämmernde Ebne, fernher, treibt ein Kornfeld seine silbernen Wellen.

Irgendwo
quietscht eine Klarinette, rumpelt ein Kontrabaß.

Eine Birne plumpt ins Beet.

Aus dem alten, halbverfallenen Backofen,
den der Mond beglänzt,
tauchen
ein Paar Stinkmörser und eine blaugewürfelte Schürze.

Krischan und Korline! [7]

So geht’s auf dem Land in mondbeglänzter Nacht mit dem Wunder oder Zauber der Liebe. Stolzenberg kann es auch derber, fast wie schon auf dem Weg zu Gottfried Benns »Morgue«:

Der Lumpensammler
schultert seine Giftharke.

Die Leichenwäscherin
streicht über ihre schwarze Lackschürze.

Sie spazieren zusammen in den Mondenschein.

Flieder duftet,
Nachtigallen girren.

Er faßt sie um die Taille,
tätschelt ihren Bammelbusen.

Ihre Hand schlenkert gegen seine Hose.

Er greift
in den Stiefelschacht.

Die vor 25 Jahren gefundene Schlangenbroche mit dem Diamantauge
steckt er ihr an.

Auf seinen roten Zeigefinger
zwängt sie den Siegelring mit dem blassen Stein.

Er ist hinten aufgeschnitten.

Ihre Lippen labbern ineinander. [8]

Oder schwülstig wie dies exaltierte Erotikon eine Seite weiter:

Hoher Sommer.

Ganz früh
schleicht sich das Mädchen in den Garten.

Mein Sonnenritter, komm!

Durch die Zweige
schräg eine goldene Lanze.

Nackt!

Sie schließt die Augen.
Ueber ihren schaudernden Körper
Küsse.

Sie preßt die Lider.
Nicht zu erblinden!
Fühlt seinen glühenden Goldpanzer.
Sinkt
in die Blumen. [9]

Zur Lebensreformbewegung, im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts aufkommend, gehörte auch als Zweig oder Teil die »Nacktkultur«. 1901 in Berlin öffentlich etabliert, wenn auch reichlich reduziert.*) Manche wollten damit schlicht etwas für ihre Gesundheit tun, andre faszinierte das esoterische Versprechen vom »a priori heilenden Einfluß nahester Verbindung zu den Elementen«. [10] Die Maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851 bis 1913) mitsamt Familie und Hugo Höppener (1868 bis 1948), der von Diefenbach den Namen Fidus bekam, hatten sich in einen Steinbruch bei Höllriegelskreuth in der Nähe von München zurückgezogen, um ungestört nackt sein zu können. Aufsehen und natürlich Anstoß erregten sie dennoch, Diefenbach kam 1888 vor Gericht und für sechs Wochen ins Gefängnis. Als Propagandist der Nacktkultur tat sich Heinrich Pudor mit seinem Buch »Nackende Menschen – Jauchzen der Zukunft« hervor, 1893 unter dem Pseudonym Heinrich Scham veröffentlicht. Janos Frecot und seine Mitautoren vermuten:

    Möglich, daß hier, in dem lebensreformerischen Anschluß an die Natur eine bisher übersehene Wurzel des Jugendstils zu finden ist: der Mensch als Natur in der Natur. Was Diefenbach und Fidus in Höllriegelskreuth lebten, sahen und in ersten Bildern festhielten, wurde zum später immer wieder variierten Inhalt der Jugendstilmalerei. [11]

Und, in Grenzen, Inhalt auch der Literatur, wie zu ergänzen ist und an Stolzenbergs Gedicht deutlich wird. Es sieht nicht danach aus, daß der Autor eine Karikatur der schwärmerischen »Sonnenanbeter« im Sinn gehabt hätte. Den lebensreformerisch inspirierten Privatdozenten und dessen südseeische Vegetarismus-Phantasie dagegen hat Stolzenbergs Mitdichter Robert Reß karikaturistisch aufs Korn genommen. Kommt beim Gesellschaftlichen zur Sprache.

Anders als Stolzenbergs aufwendige Inszenierung des Motivs ist sein Einfall »Sonnenritter« nicht in seiner Zeit verhaftet und darin verloren. Das will mir jedenfalls scheinen, wenn Jahrzehnte später im zweiten Stück von Helmut Heißenbüttels 1952/53 entstandener »Kombination IV« unvermutet eine himmelskörperlich Verwandte des Stolzenbergschen Sonnenritters auftaucht:

    Mondmädchen lag bei mir die ganze Nacht.
    Und ich habe bei ihr bis zum Morgen gewacht. [12]

Eigne Sexualität – und wie Biographikum mutets an – thematisiert Stolzenberg, wo er sich an die Zeit des Heranwachsens erinnert. Das Gedicht paßt auch zu den Paradiesen hinter Mauern:

In jenem göttlichen Rosengarten,
in den über Glasscherbenmauern die Jungen steigen,
ganz rot
und mit schon zu kurzen Confirmandenhosen,
fühlte auch ich zwischen den Fingern Paradiesäpfel durch den Flor.

Aus ihrem Herzmündchen
spielte eine gespaltene Zunge.

Hundert Religionsbücher sprachen lautlos ihren Fluch über mich.

Meine achtzehn Jahre stöhnten Seligkeit! [13]

Wars damals mutig, daß Stolzenberg in dieser kaum camouflierten Beschreibung einer erotischen Begegnung »ich« sagte? Die Unterscheidung zwischen fiktivem und realem Sprecher ist ja oftmals in der Lyrik nicht so leicht zu treffen wie angesichts erzählender Texte. Zumal im Fall der Gedichte aus der Arno-Holz-Schule. Holz selbst ging voran mit seinen offensichtlichen Biographika. Die andren der Werkstattgruppe standen ihm darin nicht nach, wie sich aus Äußerungen von Stolzenberg, Reinhard Piper und Paul Ernst ergibt.

Dem jungen Reinhard Piper gingen erotische Direktheiten vielleicht zu weit. Folgendes, das einzige Erotikon unter seinen Gedichten, könnte sein pikierter Einspruch gegen Stolzenbergs Groteske mit Leichenwäscherin und Lumpensammler gewesen sein:

Und all dies soll sich auflösen in einen ewigen Seligkeitstaumel?!

Ich winde mich vor Scham und Ekel.

Ein siebzigjähriges Liebespaar
schmatzt sich ab im Mondschein.
Die Linden duften Eau de Cologne. [14]

Umgangston und Betragen der Kollegen in der Buchhandlung Weber hatte er nur schwer ertragen:

    Die Gespräche mit den Kollegen bewegten sich meist in den banalsten Bahnen, oft wurden Zoten gerissen. Einmal gingen wir abends in corpore aus, und zwar in ein Lokal »mit fescher Damenbedienung«. Mir war das widerwärtig und ich ergriff die Flucht. [15]

Anders als Piper gingen auch Rolf Wolfgang Martens und Robert Reß erotischer Motivik nicht aus dem Weg, unterscheiden sich darin dennoch von Holzens und Stolzenbergs Direktheit.

Bei Martens fließen – wahnhafte? – Phantasie von erotischer Begegnung und bedrohliches Operationssaalgeschehen ineinander:

Ein nackter weißer Weiberleib
beugt sich über mich.

Sie küßt mich.

O, Gott!

Ich liege auf dem Operationstisch; um mich Ärzte mit Messern.

Karbolgeruch.

Man stülpt über mich die Chloroformmaske. [16]

Bei Robert Reß ist Bedrohliches ins Schlafzimmer verlegt, ebenfalls blutig:

Mich würgt eine Schlange.

Meine Glieder knacken wie dürre Äste.

Aus meinem Mund
schiesst
Blut!

Ich erwache.

Im Halbschlaf hältst Du meinen Hals umklammert.

Lächelst.

Dein Leib glüht! [17]

Paul Ernst und der Holzschüler Reß befaßten sich beide mit dem Bruchmoment in einer Liebesbeziehung. Zuerst zu Ernst, der – zumeist im Zwiegespräch mit Arno Holz – kaum am Austausch zwischen Holz den andren Vier teilgehabt haben dürfte, seine Motive nach eignem Gusto wählte.

Einer der beiden Anhänge zu Inge Zöllners Arbeit über Arno Holz und Paul Ernst ist Ernsts nachgelassene Prosaskizze »Stimmungen in Bezug auf eine weggeheirathete Geliebte«. Ernst schrieb verschiedentlich zunächst solche Skizzen als Vorstufen zu daraus zu destillierenden Gedichten. Wie Zöllner ermittelte, gehen auf das von ihr mitgeteilte Stück Prosa nicht weniger als vier Gedichte zurück. Das im Hinblick auf Reß interessante auf diese Passage:

    Ach, Liebe ist Unsinn; nicht wahr, mein lustiges Mädchen, wir haben uns nicht geliebt? Das war viel hübscher wie Liebe, und viel besser, keine Qual, keine Gedanken, kein Suchen, nur ein seliges, ruhiges Träumen, wie im Frühling unter blühenden Apfelbäumen, wenn frisches, hellgrünes Gras aus den vertrockneten Büscheln herausschießt und Einem die Sonne heiß auf das Fell brennt. Was ist Liebe – Liebe ist eine Phrase, erfunden von Philistern, die nicht träumen können und nicht dichten, sondern sentimental sein müssen. [18]

Der Geliebten wird die Liebe ausgeredet, und das ergibt sich als Gedicht:

    Unter blühenden Apfelbäumen
    Küssen; pochender Busen.
    »Hast du mich denn auch wirklich lieb?«

    Langeweile ins Herz. [19]

Das »Küssen« und der als weiblich zu verstehende »pochende Busen« bei Ernst konnten sich ohne weitere Konkretisierung auf die Reizzonen der Leserschaft verlassen. Wer die Frage »Hast du mich denn auch wirklich lieb?« vorbringt, darf tatsächlich ungesagt bleiben: Es ist die Mißachtete. Der Gelangweilte am Schluß ist es ganz sicher nicht.

Robert Reß zeichnet vergleichbaren Empfindensverlauf differenzierter nach:

Der Lampenschirm taucht das ganze Zimmer
in rosiges Halbdunkel.

Das aufgedeckte Bett leuchtet.

Die Beine übereinandergeschlagen,
beobachtet sie mich aufmerksam durch die gesenkten Wimpern.

Mit einmal bläst
mein erwachter Widerwillen dicke Rauchwolken um den Cylinder.

Eine blaue Schlange
windet sich gegen die Decke. [20]

Reß umreißt am Anfang mit wenigen sprachlichen Strichen eine Disharmonie. Der Regung Langeweile bei Ernst entspricht der Widerwille bei Reß. Wie Ernst bringt auch Reß keine explizite Erklärung, aber wenn er die Petroleumlampe von Rauch umwölkt sein läßt, aufs plötzlich angespannt wiederholte Saugen wahrscheinlich an der Zigarre zurückgehend, bildet er sehr genau das Festsitzen im angedeuteten Konflikt ab. Der daraus entstehende Rauch wird zu Recht eine »blaue Schlange«: die unberechenbare Bedrohung für beide … und die stammt aus ihm selbst:

In mein Herz schlug ein Blitz.

Es brannte aus.

In der Asche wärmen sich Vipern.

Die Giftigste
züngelt nach deinem Herzen! [21]

Bei Paul Ernst kommt beim Küssen unter Apfelblüten Langeweile auf, unter blühendem Flieder mündet bei Rolf Wolfgang Martens das Abklingen rauschhaften Erlebens in konkret begründete Enttäuschung, Widerwille nicht weit:

Unter weißen, blühenden Syringen
im roten Morgendämmerlicht
umschlangen wir uns.

Küßten uns.

Unsre Seelen tranken sich!

Immer heller strahlt der Tag
und ich erkenne:

Du hast eine bittere Falte um Deinen Mund,
Deine Stirn ist niedrig und klein. [22]

Georg Stolzenberg bietet – wie Arno Holz – im ersten Heft »Neues Leben« über drei Gedichte hin etwas wie einen kleinen Liebesroman. Zunächst spinnt er aus, wie Phantasie mit Verlangen oder Gelüst umgeht, die ihrem Ziel erst noch in Realität begegnen müssen oder vielmehr wollen:

Ich sehe das Weib,
das ich noch nicht kenne.

Sie stößt das Fenster auf,
lehnt in die Sommernacht.
Ueber ihre nackten Brüste
fühlt der Mond.
Im Topf die Nelken
duften.
Ihr Arm umschlingt das weiße Kreuz,
ihre Rechte
krallt sich in die Blumen . .

Rufe mich! [23]

In einem ersten Treffen, eine Seite weiter, erfüllt sich das Verlangen:

Mitternacht.

Ich zünde einen roten Stern an;
rauche.

Ueber mir im Dunklen piept es. Ein Vogelnest!

Ein Duft . . . Rosen.

Leise knirscht der Kies.

Sie kommt.

Zum erstenmal!

Ich zittre. Wie sie. [24]

Und wiederum eine Seite weiter ist gefestigte Zweisamkeit draus geworden:

Nicht Mädel?
So einen ganzen Sonntag im Wald . . .

Du bindest mir aus Eichenblättern einen Kranz.
Ich überreiche dir mein Sträußchen.
Wir singen zweistimmig,
lauschen einem Vogellied, träumen in den Himmel.

Küsse . . . . Taumel . . . . Erwachen.

Eine blaue Glocke
klagt leise. [25]

Doch im zweiten Heft »Neues Leben« ist »Beziehungskrise« Thema auch bei Stolzenberg … als wär die »Katastrophe« von der fernen Glocke schon eingeläutet. Was nun nach Verstimmung, Streit oder sonstiger Störung wieder gut Wetter machen soll, trägt zwischen den Zeilen wohl noch zuvorige Wut mit sich:

Mein Versöhnungsbrief
klappt in den blauen Kasten.

Meine Worte sind nicht mehr in meiner Macht!

Sie erwachen zu eignem Leben.

Kriechen spinnebeinig durcheinander.

Boshaft!

Ein feiner, giftiger Stich trifft dich ins Herz. [26]

Verbitterung über die zerbrochene Verbindung erklärt diesen zerstörerischen, voodoohaften Schadenzauber:

Der Nelkentopf,
noch aus deiner Zeit,
treibt wieder Blüten.

Deine Lieblingsblumen!

Ich reiße sie aus.

Zerpflücke sie!

Und freue mich, wie ich dein fernes Herz verwunde. [27]

Es sind quasi dieselben Nelken, in die sich die Rechte der im ersten Heft Begehrten krallte.

Robert Wohlleben


*)

Licht-Luft-Sportbad „Kurfürstendamm“

Die Graphik aus dem von Fidus gestalteten Prospekt des »Sportbads«. Aus Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethard Kerbs: Fidus 1868–1949. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München: Rogner & Bernhard 1972, S. 100. Dort aus »Der Naturarzt«, Jg. 29, 1901, S. 150, dazuzitiert:

    »Ein Licht-Luft-Sportbad am Kurfürstendamm in Berlin nahe am Bahnhof Charlottenburg wurde am 22. Mai eröffnet. Dasselbe ist reich ausgestattet. Rasen- und Spielplatz für Gymnastik, Lawn-Tennis ist vorhanden, ebenso ist ein Sandbad, sowie Badehaus mit mehreren Brausen und ein Massageraum angelegt worden. Ein eleganter Ruhe-Salon macht den Aufenthalt vor und nach dem Bade angenehmer und auch die Restaurationsräume lassen nichts zu wünschen übrig. Leider wurde eine Damenabteilung von der Polizei nicht genehmigt. Die Herren müssen in Badehose aus der Garderobe treten. Der Betriebsleiter der Anlage ist der bekannte Vegetarier und Sieger im Dauermarsch Carl Mann.«

Das Bild am Anfang ebenfalls aus Frecot, Geist, Kerbs entliehen.

1] Arno Holz: Das Werk. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer. 10 Bde. Berlin: J. H. W. Dietz Nachfolger 1924 u. 1925, Bd. 10, S. 544.
2] Otto Julius Bierbaum (Hg.): Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893. Ein Sammelbuch deutscher Kunst. München: E. Albert & Co. 1893, S. 70. Dort erstes von drei römisch numerierten Gedichten unter der Gesamtüberschrift »Du«.
3] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 40.
4] Pierers Konversations-Lexikon. 7. Aufl. 12 Bde. Berlin, Stuttgart: W. Spemann 1888–1893, Bd. 8, Sp. 1400 f.
5] Holz, Phantasus (Reclam), S. 88.
6] Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. (Neuwied, Berlin-Spandau): Luchterhand 1961–1964, Bd. I, S. 356 ff.
7] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Drittes Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1903, S. 41.
8] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Zweites Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 53.
9] Ebd. S. 18.
10] Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethard Kerbs: Fidus 1868–1949. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München: Rogner & Bernhard 1972, S. 47.
11] Ebd. S. 48.
12] Helmut Heißenbüttel: Kombinationen. Eßlingen: Bechtle 1954, S. [24].
13] Stolzenberg, Neues Leben, 3. Heft, S. 30.
14] Ludwig Reinhard [d. i. Reinhard Piper]: Meine Jugend I. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 17.
15] Reinhard Piper: Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. München: R. Piper & Co. 1947, S. 230.
16] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 22.
17] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 12.
18] Inge Zöllner: Arno Holz und Paul Ernst. Der frühe »Phantasus« und die »Polymeter« – ein Beitrag zum Vergleich. Mainz: Magisterarbeit 1983 (masch.), Bl. 92.
19] Paul Ernst: Polymeter. Berlin: Johann Sassenbach 1898; Neuausgabe: Paul Ernst: Polymeter. Gedichte. Hg. v. Ralf Gnosa. Leipzig: Reinecke & Voß 2016, S. 48.
20] Ress, a. a. O., S. 46.
21] Ebd., S. 13.
22] Martens, a. a. O., S. 23.
23] Stolzenberg (1898), a. a. O., S. 21.
24] Ebd., S. 22.
25] Ebd., S. 23.
26] Stolzenberg (1899), a. a. O., S. 11.
27] Ebd., S. 15.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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