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Wer ist das Rotkäppchen? |
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die horen versammeln neue Lyrik Ein Wechsel der Weltempfindung ist vor sich gegangen, der sogar die unantastbare Erinnerung antastet: wieder einmal sehen wir die Welt aber was heißt das: die Welt? in einer anderen Bedeutung; auch Lebensgefühle scheinen heutzutage weniger dauerhaft als in früheren Zeiten: die Unruhe ist beträchtlich. So konstatierte es Christa Wolf 1972 in ihrem berühmten Essay Lesen und Schreiben und das hat auch heute noch (oder erneut und in welcher Bedeutung) Gültigkeit? Band 136 der Zeitschrift für Literatur, Grafik und Kritik, die horen, die in diesem Jahr im 30. Jahrgang erscheint, bündelt jetzt unter dem Motto Die Macht der Kunst oder: Literatur schafft Gedächtnis. Poesie & Empfindung einige solcher Fragestellungen und überläßt es (bewußt) dem Leser, Antworten zu finden, die für die aktuelle Literatur hinreichend sein könnten. Der neue horen-Band versammelt in bunter (aber keineswegs willkürlicher) Mischung neue Gedichte und Texte von bekannten und weniger bekannten Autoren (Thomas Ayck, Gerald Bisinger, Manfred Chobot, Uwe Herms, Bettina Hesse, Lutz Rathenow, Andreas Röhler, Peter Salomon, Ralf Thenior und Robert Wohlleben), wobei die Erstveröffentlichung der Meiendorfer Gebrauchstragödie von Robert Wohlleben (Wer ist das Rotkäppchen?) nicht nur umfangsmäßig aus dem Rahmen fällt: Wohlleben verblüfft durch eine heute seltene Unbekümmertheit und Gewieftheit abseits der Moden, da mischen sich Schalk und Melancholie, ironisch reflektierter Zeitgeist und stilsichere Parodie; ein Seiltanz, der die Lust am Lesen fördert und die Entdeckerfreude schürt. Daneben erscheinen neue Gedichte von Rita Dove (USA) und Marin Sorescu (Rumänien) in Übersetzungen von Klaus Birkenbauer und Oskar Pastior als deutsche Erstveröffentlichungen und ein hintersinnig-biographischer Text von Marlen Haushofer (aus dem Nachlaß), die von Klaus Antes in seinem einfühlsamen Porträt vorgestellt wird. Nordsee-Zeitung (Bremerhaven), 31. I. 1985. |