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Bo-Peep

Robert Wohlleben

Wer ist das Rotkäppchen?

Prolog



WOHLLEBEN vor dem beschlossenen Vorhängnis mühseelisch mit einem Koffer beladen, zu Tarnzwecken grüne Kappe, sagt mit Betonung auf:

      Macht dicht die Tür, die Tor macht zu:
      Da hausen Kain Fischer und syne Fru.
      Da steh ich da ganz abgeclownt,
      Privatbesitz samt Andergraund
      dicht unterm Drudenschuh.

      Kommt her zu mir alle, ik slaap alleen,
      Bloß-Rottköppchen würd Schmiere stehn.
      Punkt Punkt Punkt und Komma Strich,
      fertig ist das Mohngesicht,
      da kann man mit spazierengehn.

      Vor lauter Bäumen wechselt im Wald
      de Olsch midde Lücht, sprachlos und kalt.
      O- und Schneewittchen rückt näher schon,
      blitzlichtbelichtet vom Königssohn –
      geh aus, mein Herz: wie alle Gewalt!

Vorhang hebt sich, Bühne belebt sich. Sie stellt eine liebreizende Waldschlucht dar, Höhle, bescheidne Hütte.

      Die Wölfelein lauern im Walde
      am Rotkäppchenstrich.
      Lauern nicht balde,
      lauern lang schon auf mich.

DER/DIE KAPELLMEISTER/IN mischt sich aus seinem/ihrem Orchestriongraben ein:

      Klein bei Klein entstand Verlangen
      aus Haut und Haaren, Blick und Griff,
      bis Gerüche sich verschlangen,
      Worte ineinander drangen,
      Fleisch an Fleisch sich schreiend schliff.

WOHLLEBEN wirft ihm/ihr eine Kußhand zu:

      Bon jour, Signor! – Sie hier, Mefrouw?
      Wie fühlen wir uns jetzt?
      Ganz unten pulst im Hautverhau,
      was oben Wörter wetzt.

      Von oben poltert Wind,
      von tief die Bahn im Untergrund.
      Die Hand, die sich in Haut verlief,
      begreift zuletzt den Mund.

      Und Falten spalten – zack! – den Blick
      zu flüchtigem Craquelé.
      Da oben glückt ein Gauklertrick –
      und unten schneits den Schnee.

      Wo oben schleichen Wolken schlapp,
      tief unten wächst Gestein.
      Das Aug taucht weg, der Mund rutscht ab,
      ein Kuß hört auf zu sein.

DER/DIE KAPELLMEISTER/IN tritt einen Schritt zurück:

      Wunsch im Widerstand verfangen:
      Was liebt will nah sein, Nähe brennt.
      Hangen wandelt sich ins Bangen,
      heult, bis Schmerz mit harten Zangen
      an der Sollbruchstelle trennt.

WOHLLEBEN noch eine Kußhand? Besinnt sich anders:

      Versteh mich oder laß das bleiben!
      Ich laß die Krähen, die ich mir erfind,
      taub vor Angst und mutlos blind
      von umlaufenden Winden treiben.
      Was sie schrein von Sand und Wind,
      bleibt geheim vor Weib und Kind.

DER/DIE KAPELLMEISTER/IN genervt:

      Fleuch hin in deiner Erfindung Pracht!
      Wer umgedreht lacht
      oder hat was vorgedacht,
      würd verkannt gemacht.

WOHLLEBEN bleibt siebensachlich beieinander, mit ergriffenem Koffer mischt er sich in die Decoratio:

      Voll Blumen Frucht und Dörner steht
      der norddeutschen Tiefebene Erdgeschoß.
      Eros is Eros is Eros ...
      fehlt da nicht Eins?! Oh Trinität!
      (Die Augen in meinem Biberkopf
      von Lynx und Wiedehopf.)

DER KAPELLMEISTER läßt Whispering spielen, wie wirs von Armstrong kennen; taucht aus den Kulissen auf; in Verkleidung eines Pudels mit Kniehosenschur, frisch aus dem Badewasser:

      Komm Beifuß:
      Hier gehts des Wegs nur für Schamanen,
      die scheußlichen Achterbahnen
      zum bereuten Kunstgenuß.

      Komm apart:
      Dies soll dein einzigs Omen sein:
      von Achselhöhle bis zum Bein
      behaart.

      Komm neben dich:
      Dir gehts wie dir,
      dein Hauptgewinn am Ende hier
      fünf Richt-Iche mit Zusatz-Ich.

WOHLLEBEN unter diesen Ratschlägen fast zusammenbrechend:

      Ich laß mirs nicht verlügen:
      Weiß zieht und setzt in drei Zügen.
      (Wer malt mich schwarz?
      Dat deit de Wind,
      ei vielleicht ein mutterlos Kind.)

DIE KAPELLMEISTERIN mit beiden Händen begöschend:

      Alles beschreien,
      heißt alles verraten
      Für heiklere Daten
      gibts kein Verzeihen.

      Willst du mißtrauen
      den Fängen und Krallen,
      dann stell deine Fallen –
      kapp dir die Klauen!

      Wenn dir im Grauen
      die Drähte durchbraten,
      heißt neues Verdrahten:
      Alles versauen.

WOHLLEBEN verkriecht sich in der Höhle, wo sogleich die Zwangsvorstellung angeht: Der 23. Psalm erflimmert da. Schauplatz der jämmerlichen Geschichte: mitten in einer weithin sich streckenden Müllkippe. Wohlleben mit einer Kette um den Hals, deren Freies Ende um einen im Müll steckenden deutlichen Pfahl geschlungen. Unweit kegelig aufgetürmt: ein Haufen Orangen, ein Haufen Hühnereier (je rd. 1 m hoch). In etwas größerer Entfernung aufgestellt: Tafel mit schwarzer Schreibfläche. Ein Müllwagen fährt ins Bild, entlädt seinen Müll auf den Orangenhaufen, fährt über die Kippe davon. Wohlleben holt ein Katsche aus der Gesäßtasche und fängt an, mit Marmeln auf den Eierhaufen zu schießen, schmeißt schließlich mit dem Katsche danach. Zieht den Pflock heraus, klemmt ihn sich unter den Arm und geht zur Tafel. Nimmt eine mitgeführte Sprühdose, schreibt damit rot an die Tafel: SELA und geht über die Kippe davon. Neue Einstellung:

WOHLLEBEN klopft an die Tür der bescheidnen Hütte. Von innen öffnen: der Kapellmeister, verkleidet als Wohlleben, und die Kapellmeisterin, verkleidet als der Kapellmeister.

ALLE im höhern Chor:

      Ich bins, das Rottköppchen,
      ich trinke für euch alle.

Verschwinden in der Hütte. Vorhang fällt natürlich nicht. Bühne bleibt offen für Publikumsaktionen, vielleicht Hüttenbesetzung. Später dann gelegentlich:

EIN JÄGER IN KRITISCHEN WÄLDERN (Hans Wolffheim?) steht horchend auf einer lichten Wüstung, schreibt, auch Zuwiderhandelnde auf.

Bo-Peep
Zum 1. Akt

 

Hans Ritz
Muriverlag



 


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