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Dichter zwischen Ideologie
und Selbstbehauptung
Walter Mehring

Frank Hellberg:
Walter Mehring.
Schriftsteller zwischen
Kabarett und Avantgarde.
Bouvier Verlag Herbert Grundmann,
Bonn 1983.
Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 357.
305 Seiten

Von Klaus M. Rarisch


Als Walter Mehring am 5. 10. l98l im Exil in Zürich starb, 85jährig, arm und elend, erschienen Nachrufe mit dem Tenor »Seine Zeit waren die Zwanziger Jahre« – als ob er später nichts mehr zu sagen gehabt hätte! Mehring war – trotz Tucholsky, Brecht und Kästner, aber neben dem vergessenen Albert Ehrenstein – der schärfste politische Lyriker unseres Jahrhunderts in deutscher Sprache. Da für die Literaturwissenschaft in der Regel nur ein toter Dichter ein »guter«, als Forschungsobjekt geeigneter Dichter ist, kann es kaum erstaunen, daß erst zwei Jahre nach Mehrings Tod die erste Dissertation über ihn erschienen ist. Die Entstehung des Buches von Frank Hellberg ist eng mit den »horen« verbunden, die Mehring in Bd. 125, 1/1982 (S. 3-33, l82 f.), ausführlich würdigten. Hellberg charakterisiert ihn als »Schriftsteller zwischen Kabarett und Avantgarde«, obwohl sich Mehring selbst von beiden Stereotypen distanziert hat, wie seine folgenden Äußerungen zeigen:

    »... weder West-Berliner noch bundesrepublikanische ›Kunstbehörden‹ oder Presseorgane kümmern sich um meine (mit Verlaub zu sagen) ›Lyrik‹. Na, wenn nich, dann nich! Hingegen leider ›Kabaretts‹ und sonstige Amüsierstätten der ›Goldenen Zwanziger‹, die mich unautorisiert als Vereinshumoristen hinstellen ... Es ist ein Irrtum, wenn man ihn (Mehring) heut gelegentlich als eine Lokalberühmtheit der Berliner Goldenen 20. Jahre – in anderen Worten: der Hakenkreuz-und Stahlhelmputsche, der Inflation, der mondänen und intellektuellen Rummelplätze – präsentiert. Das alles war nur Kulisse und Vorwurf für seine Chansons, Songs und Balladen, die er als Individual-Dadaist für Max Reinhardts ›Schall und Rauch‹ verfasste; Anno Domini 1919; mit dem Bestreben, öffentliches Ärgernis zu erregen. Doch sobald etwas vom Publikum, von der Kritik acceptiert – oder gar populär wurde, wechselte er die Form und das Thema. Denn ein Fabrikat in Vers oder Prosa, in Farben oder Klängen, das nicht von einer Leidenschaft diktiert ist, das nicht aufwühlt, hat mit dem, was wir Kunst nennen, nicht mehr zu schaffen als ein Heiratsantrag oder eine xbeliebige Vaterlandsliebe oder eine Partei-Linientreue« (aus Briefen vom 5. 12. 1962 und 3. 2. 1963 an den Rezensenten).

Wenn Mehring hier sein Verhältnis zum »Kabarett« (im Gegensatz zum Cabaret) relativierte, so aus dem lebenslangen Leiden unter der deutschen Bildungsphilistermentalität, für die Dichtung und Kabarett noch immer unvereinbar sind. Und zum Avantgarde-Begriff heißt es in Mehrings Buch »Die verlorene Bibliothek – Autobiographie einer Kultur« (Düsseldorf 1978, S. 144 f.) im Zusammenhang mit einer Analyse des Futuristenführers Marinetti:

    »In ›Mon cœur mis à nu‹ hatte Baudelaire notiert: ›Ergänzend sind noch folgende Militär-Metaphern zu nennen: die Kampfdichter, die Avant-Garde-Literaten. Diese Angewohnheiten, militärische Phrasen zu dreschen, verraten keineswegs einen militanten Geist, sondern Naturen, die zum Drill, d.h. zum Kompromiß geschaffen sind. Lakaienseelen und Zwitter, die bloß in Gemeinschaft denken können.‹ Dabei war Baudelaire selber ein ›poète de combat‹ der 1848er-Revolution gewesen ...«

Mehring kannte die europäischen Kunst- und Literaturtraditionen, besonders des 19. Jahrhunderts, viel zu gut und setzte sich produktiv und analytisch viel zu intensiv damit auseinander, als daß er vorbehaltlos als Avantgardist gelten könnte. Will man ihn trotzdem so verstehen, dann wegen seiner Beteiligung am Dadaismus, die Hellberg unter der Überschrift »Traditionsmischung als Stilprinzip« abhandelt. Er beschreibt zutreffend, wie Mehring 1911 als Schüler, vermittelt durch Herwarth Waldens »Sturm«, den italienischen Futurismus wie den deutschen Expressionismus kennenlernte, aus denen als Gegenbewegung Dada hervorging. Noch 1920 schrieb Mehring in einem programmatischen Beitrag zu Richard Huelsenbecks »Dada-Almanach« (S. 66): »Der Weltmarsch startet in der Arena der futuristischen Gegenwart«. Einige Dada-Aktivitäten Mehrings werden von Hellberg (S. 8, 19) kurz skizziert, wobei allerdings die denkwürdige Matinee in der Berliner »Tribüne« am 7. 12. l9l8, kurz nach Kriegsende, ausführliche Erwähnung verdient hätte: Mehring veranstaltete da mit seinem Freund George Grosz ein »Wettrennen zwischen Nähmaschine und Schreibmaschine«, dessen Text er in seinem Buch »Berlin Dada« (Zürich 1959, S. 5l) fragmentarisch und im »Ultimistischen Almanach« (Köln 1965, S. 93) komplett veröffentlichte (vgl. auch »die horen«, Bd. 125, 1/1982, S. 27).

Hellbergs formalen und inhaltlichen Analysen einzelner Mehring-Gedichte ist im wesentlichen zuzustimmen. Dies gilt vor allem für »Berlin simultan« (S. 20 ff.). Er schreibt dazu: »In dem ›Großen Ketzerbrevier‹ von 1975 trägt der Titel des Liedes den Zusatz: ›Erstes original Dada-Couplet‹«. Diesen Untertitel trug das Gedicht aber bereits im »Dada-Almanach« von 1920 (S. 45), was insofern wichtig ist, als Hellberg überzeugend herausarbeitet, daß und warum in dem Text höchst kunstvoll indirekt, ohne Namensnennung, die SPD-Politiker Ebert und Noske angegriffen werden. Im »Dada-Almanach« (S. 64) jedoch zieht Mehring unverblümter vom Leder, wenn er, auf den Sattlerberuf des Reichspräsidenten anspielend, dessen fiktive Memoiren zitiert: »Ebert: Ein Jahr im Sattel der deutschen Republik«. Dieser Hinweis soll Hellbergs Analysen nur erhärten, denn in anderen Mehring-Texten, die in dem Kapitel »Dadaist gegen Weimar« (S. 92 ff.) behandelt werden, sind ja Noske und Ebert sehr wohl beim Namen genannt, wie auch Mehrings Feststellung von 1930 (S. 96) bedenkenswert bleibt: »Ich habe schon seit l9l4 die deutsche Sozialdemokratie, oder vernunftgemäß formuliert: ich habe ihre Repräsentanten nicht mehr für Sozialisten gehalten«.

Hellbergs gattungsgeschichtliche Ausführungen können hier nur gestreift werden. Lesenswert ist sowohl seine Ableitung des Zentralbegriffs »literarisches Chanson« aus verschiedenen Traditionslinien (S. 53) als auch die Auseinandersetzung mit der Balladentheorie Karl Rihas (S. 129 ff.). Bei der Betrachtung der Tierfabeln führt Hellberg ein Beispiel Mehrings direkt auf das Vorbild von Heinrich Heines Satire »Die Wahl-Esel« zurück (S. 193 ff.) und verweist damit auf die traurige Kontinuität deutsch-völkischer Politik. Dagegen können seine Erörterungen zur Barockrezeption (S. 224 ff.) weniger überzeugen, weil dabei der wichtigste neobarocke Gedichtband übersehen wird: der 1904 erschienene »Dafnis« von Arno Holz. Es ist kaum wahrscheinlich, daß der überaus belesene Mehring just dieses Buch nicht gekannt haben sollte, auch wenn er Holz in der »Verlorenen Bibliothek« nicht erwähnt.

Anerkennung verdient Hellbergs Bemühen, die zeitgeschichtlich-politischen Hintergründe für Mehrings Gedichte aufzuhellen, obwohl ihm dabei zuweilen ein Fehler unterläuft. So schreibt er (S. 247, Fußnote 43): »Im Dezember 194l erklärten die USA den Krieg«, während in Wirklichkeit umgekehrt, wahnwitzigerweise, Hitler den USA den Krieg erklärte, was für Mehrings Bewußtsein als Emigrant nicht ohne Bedeutung gewesen sein dürfte. Seine leidvollen Erfahrungen im österreichischen und französischen Exil sind ja in eines seiner lyrischen Hauptwerke eingegangen, in die »12 Briefe aus der Mitternacht«, die genau tausend regelmäßige Verszeilen umfassen. Hellbergs einfühlsame Interpretation bezieht das auf die »Geschichten aus 1001 Nacht«, wo Scheherazade ihrer Hinrichtung durch fesselndes Geschichtenerzählen entgeht. Dazu schreibt Hellberg (S. 222 f.) sehr plausibel: »Wie die des Nachts erzählten Geschichten der arabischen Sammlung verhindern die im übertragenen Sinn in der Mitternacht niedergeschriebenen Briefe den Tod des Autors. Mehring schiebt ... immer wieder seinen psychischen Zusammenbruch auf, bis ihm die rettende Flucht in die USA gelingt.« Merkwürdigerweise hat Hellberg übersehen, daß die tausend Verse zugleich eine Anspielung auf Hitlers »Tausendjähriges Reich« darstellen.

Nach Ansicht Hellbergs hat das Exil eine »Persönlichkeitskrise Mehrings« (S. 205) bewirkt mit der Folge, daß der Dichter mit der »deutschen Sprache ... selbst immer schwerer und seltener umgehen konnte« (S. 209). Mehrings Situation nach 1945 sei daher »objektiv als die unerledigte Vergangenheit der Flucht vor dem Faschismus und der Existenz im Exil« zu begreifen (S. 265). Hier ist ein entschiedenes Fragezeichen angebracht! Die »unerledigte« bzw. unbewältigte Vergangenheit wurde bisher eher den Nazis als ihren Gegnern und Opfern zugeschrieben. 1968 sagte Mehring jedenfalls in einem Interview dem Rezensenten das Gegenteil: »Das Exil war für mich überhaupt kein außergewöhnliches Erlebnis. Heinrich Mann schrieb mir einmal, als wir im Exil waren, auf einer Postkarte: ›Sie hatten Hitler nicht erst nötig, um zu dem zu kommen, was Sie heute sind.‹ Mir scheint das Exil ein Zwischenfall zu sein. Es hat mich in meinem Urteil weder über die Welt noch über Deutschland in irgendeiner Weise beeinflußt oder hat es abgeändert« (Gott zum Discountpreis, Interview mit Walter Mehring, total Nr. 16/1968, S. 5).

Diese Streitfrage hängt mit den Gründen für Mehrings Erfolglosigkeit nach 1945 zusammen. Hellberg beruft sich hier weitgehend auf Christoph Buchwald, den er gleich eingangs zitiert (S. 2, Fußnote l). Buchwald hat unter dem Titel »Odysseus hat entweder heimzukommen oder umzukommen« in den »horen« (Bd. 125, 1/1982, S. 15-19) »Notizen zur Rezeption Walter Mehrings nach 1950« veröffentlicht, die später fast textgleich auch im Rundfunk verbreitet wurden (SFB, 21. l. 1983). Als Herausgeber der im Claassen Verlag Düsseldorf erscheinenden Mehring-Gesamtausgabe in Einzelbänden stand Buchwald dabei offenbar unter starkem Legitimationsdruck: einerseits hatte er die literarische Qualität Mehrings dem Verlag gegenüber zu rechtfertigen, andererseits den mangelnden Verkaufserfolg seiner Edition zu erklären. Der Fall wirft grelles Schlaglicht auf ein allgemeines Dilemma im bundesdeutschen Literaturbetrieb mit seinem Trend zur Konzentration und Bestsellerei, wo verlegerisches Mäzenatentum im Sinne langfristiger Programmplanung und aufgrund gezielter Mischkalkulation ausstirbt und ein Dichter wie Mehring als kulturelles Feigenblatt für Verlage entbehrlich geworden ist. Wer aus der Literaturgeschichte auch nur oberflächliche Erkenntnisse gewonnen hat, muß wissen, daß ästhetische Qualität kaum jemals, und heutzutage weniger denn je, mit kommerziellem Erfolg einhergeht. Wer allerdings an der Bestsellerfabrikation profitiert, wird das anders sehen, wozu schon Guillaume Apollinaire bemerkte: »On imagine difficilement / A quel point le succès rend les gens stupides et tranquilles«. Aus dieser Zwickmühle sucht Buchwald – und in seinen Fußstapfen Hellberg – den rettenden Ausweg darin, Mehring zum psychisch gehemmten, schreibunfähigen, unzeitgemäßen Außenseiter zu stempeln, dessen Bücher nach 1950 »fast ausnahmslos in den Ramsch gingen«.

So schreibt Hellberg, von Buchwald inspiriert, Mehrings Exilthemen »wirkten in der Aufbauatmosphäre des ›Ärmelaufkrempelns« der Adenauerzeit deplaciert und unzeitgemäß« (S. l6). Fragt sich nur: bei wem? Die tonangebenden Literaten der Adenauerzeit, als Gruppe 47 bekannt, sind ja nach eigenem Bekunden kaum für Adenauer und die Ideologie des Ärmelaufkrempelns eingetreten. Mit wenigen Ausnahmen sei für Mehring »kaum eine Verbindung zum Literatur- und Kunstleben der Bundesrepublik nachzuweisen«, meint Hellberg (S. 17). Er unterschlägt dabei den autorisierten Mehring—Abend im Berliner Kulturkeller »Das Massengrab« am 9. 2. 1963, auf den sich die oben zitierten Briefe Mehrings an den Rezensenten beziehen und wo junge Literaten, in Opposition zur Gruppe 47, Mehring als höchst aktuelles Vorbild präsentierten und vom Beifall des jungen Publikums bestätigt wurden. Aber dieses Faktum paßte nicht ins Konzept von Hellberg und Buchwald, der übrigens durchblicken läßt, bei wem der 1953 nach Europa heimgekehrte Mehring unwillkommen war: »Hans Magnus Enzensberger soll ... gegenüber (dem Verleger) Dr. Witsch geäußert haben, die Gedichte und Songs seien ›heute veraltet‹« (vermutlich so »veraltet« wie die Gedichte von Mehrings Mitdadaisten Hans Arp, von denen Enzensberger – nach den Analysen Karlheinz Deschners – abgeschrieben und damit seinen Ruf als politischer Lyriker begründet hat).

Die Wahrheit ist: Mehring wurde von der Gruppe 47 systematisch boykottiert, was beispielsweise aus Hans Werner Richters skandalöser Fernseh-Äußerung über die Exilautoren im Herbst 1979 zu schließen ist: Verdrängen könne man nur das Verdrängenswerte (vgl. Klaus M. Rarisch, Das Ende der Mafia, Hamburg 198l). Da sich Hellberg auf seine Gespräche mit Mehring im Jahre 1980 beruft, darf der Rezensent als authentische Quelle seine Gespräche 1968 benennen, in denen Mehring glaubwürdige Fakten anführte, die den gegen ihn gerichteten Boykott belegen. Buchwald tut das als »Boykott-Theorie« ab, um zu suggerieren, Mehring habe unter Verfolgungswahn gelitten, und spricht dem Dichter gar noch die Denkfähigkeit ab, wenn er behauptet: »Mehring nahm nichts zur Kenntnis, weil jede Beachtung und Würdigung seines Werkes (die er sich sehnlichst wünschte) dem Selbstverständnis vom ›poète maudit‹ widersprach«. Wer ein sehnlichst Erwünschtes nicht zur Kenntnis nimmt, muß ja wohl verrückt sein und die eigene Wirkungslosigkeit somit selbst verschuldet haben, will Buchwald damit sagen. Aber die Diffamierung geht noch weiter: laut Buchwald habe Mehring »blindwütig« alle deutschen Sozialisten beschimpft, u.a. Heinrich Mann – was schon durch die oben zitierte Äußerung Mehrings aus seinem Interview von 1968 widerlegt wird.

Buchwald meint, Mehring habe »unbedenklich die These ›Rot gleich Braun‹« vertreten, um dem Dichter damit einen vulgären Antikommunismus zu unterstellen. Im selben Sinne diagnostiziert Hellberg (S. 273) bei Mehring »virulenten Antikommunismus«. In der erwähnten SFB-Sendung geht Buchwald noch einen Schritt weiter und behauptet wahrheitswidrig, Mehring »verbot Lizenzausgaben seiner Bücher in der DDR«. Das ist nachweislich falsch! In Hellbergs Bibliographie (S. 276) wird ein in der DDR (im Henschelverlag Berlin) 1976 erschienener, von Mehring autorisierter Gedichtband »Die Linden lang, Galopp, Galopp!« aufgeführt; das Buch »hatte 10 000 Auflage und war sofort vergriffen« (Brief der Herausgeberin Helga Bemmann vom l8. 3. l983 an den Rezensenten).

Hellbergs pauschales Fazit (S. 274) lautet, Mehrings Lyrik münde »in eine kompromißlose Verurteilung jeder sozialen Gemeinschaftsstruktur«. Wäre das richtig, hätte Mehring allerdings als politischer Dichter ästhetischen Selbstmord begangen. Wer seine Gedichte ohne ideologische Scheuklappen liest, kann sich leicht vom Gegenteil überzeugen.


die horen
Band 134 (1986), S. 153-156

Rechte bei Klaus M. Rarisch