Erotiker Arno Holz Hier verdient Arno Holz, der kein Geheimnis aus seinem erotischen Empfinden machte, einen Exkurs. Reinhard Piper hatte ihn 1899 als »ungemein diesseitig« wahrgenommen: Begegnete uns ein weibliches Wesen, das ihm gefiel, so konnte er recht hörbar ausrufen: »Mädchen, was hast du für einen schönen Vorbau!« Er sagte von sich: »Ich kann alles verstehn, nur nicht, wie man auf metaphysische Art verliebt sein kann.« [1] Piper zuckte ein wenig zusammen, wenn er so etwas vom verehrten Dichter hörte. Er muß aber bei solcher Direktheit auch den Kontrast empfunden haben zu dem, was er mit der Kollegenschaft in der Buchhandlung Weber erlebte: Die Gespräche mit den Kollegen bewegten sich meist in den banalsten Bahnen, oft wurden Zoten gerissen. Einmal gingen wir abends in corpore aus, und zwar in ein Lokal »mit fescher Damenbedienung«. Mir war das widerwärtig und ich ergriff die Flucht. [2] Ebenso unzimperlich wie mit solchen Affektäußerungen ging Holz in seinen beiden Phantasusheften mit erotischer Motivik um. »Donnerwetter, sind die chic«, wird im ersten Heft das »Mädchenpensionat« bewundert, das im Kontrast zum disziplinierten Marschkolonnenmanöver: »lachend in die Siegesallee schwenkt«. Als Gedichtschluß aus erotischer Phantasie heraus ein Zuruf wie anspielungsweise von Fidus entliehen: »Mädchen, entgürtet euch und tanzt nackt zwischen Schwertern!« [3] Der Schluß des Gedichts über die »kleine Fin-de-Siècle-Krabbe« im zweiten Heft: Abends ist Feuerwerk. Deutlich auch das 1912 von Alfred Richard Meyer passenderweise in sein lyrisches Flugblatt »Ballhaus« aufgenommene Gedicht, in dessen zweitem Teil das lyrische Ich als weltläufiger Libertin von einem Maskenball redet: Abends, »Ver sacrum« brachte 1898 im Novemberheft »Zehn Gedichte von Arno Holz«, intarsiert in Illustrationen von Koloman Moser, Alfred Roller, Rudolf Jettmar, Adolf Böhm und Friedrich König. Darunter das folgende: Unter Blumen nach meiner Flöte tanzt eine nackte Circassierin; Parallel zur Arbeit an den beiden kleinen Phantasusheften betrieb Arno Holz Experimente mit Textmontagen in Mittelachsanordnung. Acht Stücke aus dem nachgelassenen Material haben »Die Horen« veröffentlicht, von Klaus M. Rarisch ausgewählt und mit dem Kommentar »Zum Scherz-Phantasus von Arno Holz« begleitet. [8] Eine der Montagen: Grosses Frühstück. Rarisch informiert über diese »Paraphrase zu seinem damals begonnenen Hauptwerk«, angelegt als »Persiflage auf die sprachlichen Klischees seiner Zeit«: Holz hatte sich aus zeitgenössischen Illustrierten im Stil der berüchtigten »Gartenlaube« eine Sammlung von Ausschnitten angelegt, die aus einer Reihe von damals populären, bildungsbürgerlich pedantischen Bildbeschreibungen bedeutender Gemälde vor allem der alten niederländischen Meister bestand. Aus diesem Material fügte er ausgewählte Zeilen in Mittelachsform zu den vorliegenden Gedichten zusammen. [ ] Die im »Scherz-Phantasus« dominierende galante Jäger-Metaphorik, insbesondere die erotischen Doppeldeutigkeiten, und die rustikale Gesamtstimmung weisen diesen kleinen Zyklus ebenfalls als Keimzelle und Vorstufe der »Blechschmiede« aus. In Holzens barockisierendem »Dafnis. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert«, zuerst 1903 und noch mit dem Titel »Lieder auf einer alten Laute« erschienen hat die Thematik dieser Experimente sicherlich auch hineingewirkt: Ein ums andre Mal gehts dort mit deutlichem Spaß an Deutlichkeit ums »Zokker-süsse Lihbes-Spihl«. Das den Holzschen Erotika zugrunde liegende Credo ist am Schluß des großen Phantasusgedichts »Die Hallelujawiese« ausgesprochen: Der In die erste Großfassung des Phantasus von 1916 war das 1899 vorgegebene Gedicht »Auf seiner lustigen Hallelujawiese« [10] kaum verändert eingegangen. Die groß ausgebaute Version erschien erst 1925 in der Dietzschen Werkausgabe. Das war mitten in den »wilden Zwanzigern«, als das Risiko strafrechtlicher Verfolgung von »Unsittlichem« wohl gemindert war. In der Kaiserzeit war man entschieden empfindlicher beziehungsweise prüder und verklemmter gewesen: Im Regiebuch für die 1908 vom Deutschen Theater geplante, dann aber nicht zustande gekommene Aufführung von Holzens Tragödie »Sonnenfinsternis« betrafen die beiden einzigen Striche des mit viel eigner, durch was auch immer geprägter Phantasie Anstoß nehmenden Theaterzensors die »Syphilis« und deren Spätfolge »Paralyse«. [11] Das Gedicht »Gottseidank! / Die Hausthür ist zu « im zweiten Phantasusheft, [12] in erotischer Hinsicht völlig »unverdächtig«, deutet knapp eine Gedankenreise an. Später wuchsen sich die fünfzehn Zeilen derart aus, daß 373 gut gefüllte Frakturseiten der dreibändigen Phantasus-Ausgabe letzter Hand von 1925 daraus wurden, ein ganzer Band. So auch in der Ausgabe der Nachlaßfassung, dort mit der Überschrift »Das Tausendundzweite Märchen«. In der Großform des Gedichts fallen über viele Seiten stichwortartige Bezeichnungen für Stellungen und sonstige erotische Praktiken, [13] ganz im Stil des Kamasutra formuliert, großenteils wohl von Holz ausgedacht, doch für ihn sicherlich mit bildhaften Vorstellungen verbunden. Mit der »Hallelujawiese« hatte Arno Holz ein großes erotisches Panorama im Sinn, wie sich aus dem ergibt, was er wenige Monate vor seinem Tod rückschauend Werner Rosenstein erzählte: Als ich das 1002. Märchen schrieb, wollte ich die Freuden der Liebe darstellen und hatte vor, entsprechend den Tagen des Jahres 365 Möglichkeiten zu schildern ich fand aber nur 360; es war mir unmöglich, noch 5 zu erfinden. Jahre später las ich einmal, dass die heilige erotische Zahl der Inder »360« ist! Ist das nicht merkwürdig? [14] Gegen Schluß der Tragödie »Sonnenfinsternis« läßt Holz den Maler Hollrieder eine ähnlich umfassende Idee für eine in Klingerscher Mischtechnik zu denkende Plastik »Berg des Lebens« entwickeln. Eine Probe aus der geplanten Darstellung des Phänomens Liebe: In allen erdenkbar, ersinnbar, ergrübelbar raffiniert, brutal absonderlich zügellosen Posen in allen dämonisch, frenetisch paroxystisch überschäumenden, übersprudelnden verfänglichst unsagbar bizarren sinnverwirrenden Nuancen in allen ausfindbar in allen vorstellbar in allen einbildbar entmenschst, satanischst scheusäligen hirnkrankst krassen entnervendst horriblen Perversionen! [15] In der langen »Hallelujawiese« der Spätfassungen hat sich Holz einem solchen erotischen Panorama dichterisch und nicht auf Stichworte beschränkt angenähert. [16] Wo er besonders explizit wurde, ließ er den Text tarnungshalber? ins Plattdeutsche springen: Juppjuppjupp! Höjer rupp! In der Drastik nicht weit von den Sonetten, mit denen Pietro Aretino die Kupferstiche »I modi«, von Marcantonio Raimondi bedichtete, die wiederum nach Zeichnungen von Giulio Romano entstanden waren. Seiner Drucke wegen saß Raimondi eine Zeitlang im Gefängnis. Wie in der Hochrenaissance Aretino Bilder zur Sprache brachte, bebilderte 1967, also umgekehrt und lange danach, mein Freund Jens Cords recht anschaulich die plattdeutsche Phantasuspassage für »Kräckerakra«, den Meiendorfer Druck Nr. 2. [18] Ohne ins Gefängnis zu müssen. Auch nicht, als er 1966 die kleine Pasisphaë-Passage aus der Nachlaßfassung der »Blechschmiede« für das Blatt Nummer 4 der von Frank Böhm und mir herausgegebenen Meiendorfer Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes recht explizit verbildlichte. Allerdings wurde der Buchhändler Elmenhorst doch sogleich mit Anzeige bedroht, als er dies Blatt in einem Schaukasten aushängte. Er nahm es wieder rein. Nur gut, daß 1962, als der Phantasus-Band mit der »Hallelujawiese« erschien, kein Anstoßnehmer hineingesehen hat, sonst hätte es dem Luchterhand-Verlag leicht so ergehen können wie 1960 Andreas J. Meyer, der in seinem Merlin-Verlag Jean Genets »Notre-Dame-des-Fleurs« veröffentlicht hatte: vor Gericht gezerrt »wegen Vertreibung pornographischer Schriften«. Der Hamburger Leitende Oberstaatsanwalt Ernst Buchholz paukte ihn raus mit dem erinnernswerten Argument: »Es ist nicht entscheidend, ob der Normalbürger Anstoß nimmt, sondern ob es der literarisch Interessierte tut.« Biographische Bezüge Einige im Phantasuszyklus früherer wie auch späterer Ausformung enthaltene Liebesgedichte lassen vorsichtig gesagt: ahnen, daß Arno Holz in diesen Fällen nicht über jemand fiktiven oder ihm nur von fern bekannten spricht, sondern von sich, vom eignem Erleben in Beziehung zu einer realen Frau, von Selbsterlebtem also wie andernorts etwa von der Erstaufführung seiner Komödie »Sozialaristokraten«, von einer Arbeitssitzung mit der um ihn versammelten Dichtergruppe, von seiner Kindheit. Er hielt seine Gedichte durchaus nicht von erkennbar Biographischem frei. So findet sich in der Phantasus-Version von 1898/99 dies Gedicht: Ich weiss. Das Gedicht eröffnet eine Sequenz von sieben Gedichten, die sozusagen die Flugparabel eines Beziehungsverlaufs nachzeichnet: der »himmelhochjauchzende« Beginn, der Aufstieg zum innig einander zugeneigten Elternpaar und dann das Ende. Die an das zitierte Gedicht anschließenden fünf scheinen ganz dem in Pierers Lexikon vertretenen Konzept zu folgen, daß die »Geschlechtsliebe [ ] in der Liebe zur Nachkommenschaft ihren wahren Sinn und Weihe« erhalte, [20] und führen die Entwicklung der so rauschhaft begonnenen Beziehung bis zu diesem Familienidyll mit den 1894 und 95 geborenen Kleinkindern Werner und Walter fort, für Milli und Arno Holz Junny und Biela: Ein mal noch, Auf diese Klimax des kleinen »Romans« folgt mit dem siebten Gedicht der Sequenz ein sehr abrupter Schlußpunkt, in der Nachlaßfassung mit der Überschrift »Schwere Trennung«: Du gingst. Der biographische Bezug wird deutlich durch den im fünften und sechsten Gedicht genannten Sohn mit dem Kosenamen Biela. Bei ihm handelt es sich um den 1894 zur Welt gekommenen Werner, Milli und Arno Holzens Erstgeborenen, sein Bruder Walter, 1895 geboren, von den Eltern und ihren Freunden Junny genannt. [23]. 41 nach der Ausgabe von 1898/99 erstveröffentlichte Gedichte verzeichnet Walter Beimdick in seiner Übersicht zu den Gedichten der Phantasus-Nachlaßfassung. [24] Mir erscheint es als nicht ausgeschlossen, daß dem ein oder andren davon ebenfalls Selbsterlebtes zugrunde liegt. Betreffen könnte es etwa dies zuerst in der sistierten Phantasus-Fassung von 1913 enthaltene Gedicht, in der Nachlaßfassung mit der Überschrift »Jähes Erwachen«, hier nach der Insel-Ausgabe von 1916 wiedergegeben: Ein Tag ohne dich ist kein Tag! In der Nachlaßfassung folgt es unmittelbar auf das Gedicht »Schwere Trennung«. Als wärs Nachhall des verzweifelten »Vorbei« in »Schwere Trennung«. Von Anita Holz erfuhr ich, daß ETODIKT, das Akronym der ersten Zeile dieses Gedichts, für sie und Arno Holz ein Codewort war, beider Verbundenheit zu bekräftigen. Das bringt mich auf den Gedanken, daß das Gedicht womöglich an Anita Holz gerichtet ist und entstand, bald nachdem sie und Holz sich 1910 kennengelernt hatten (was ein ausgesprochener »coup de foudre« gewesen sein muß). Ausdruck »brennenden« Sichsehnens nach einem Wiedersehen in der »Phase« frisch aufgeflammter Verliebtheit? Bevor Holz und Anita (zu der Zeit möglicherweise noch mit dem Architekten und Graphiker Felix Tilk verheiratet) im November 1910 eine gemeinsame Wohnung bezogen. Schwer denkbar, daß ein mit Milli Holz verknüpftes Gedicht für das Paar derartige Bedeutung hätte haben können. Ein weiteres Gedicht scheint mir Holzens Erlebnis seiner Begegnung mit Anita Holz zu verdanken zu sein, zuerst Nr. 29 im sistierten Phantasus von 1913, in der Ausgabe der Nachlaßfassung mit der Überschrift »Improvisiertes Scherzo«, so im Phantasus von 1916:
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Ich bin aufs höchste beglückt, daß es Paramaribo gibt! |
Der Ortsname Paramaribo scheint es Holz angetan zu haben. Des Vokalismus mit der schönen Kadenz wegen? Beim Schreiben war ihm, wie verschiedentlich bekundet, »das Ohr« wichtig. Vermutlich sonst wohl auch. Dieser Ortsname erscheint auch in späteren Erweiterungen von Holzens Tragödie »Sonnenfinsternis« von 1908, und zwar zuerst im Abdruck von deren erstem Akt in der Werkauswahl von 1919. Dort läßt Arno Holz die recht »fulminante« weibliche Hauptfigur, die wie schon in der Ausgabe von 1908 »vor einem Parkett in Zylindern als Trikotschönheit« auftritt und das auch in den Folies-Bergère, sich so äußern: La bella Cenci: (ihn lebhaft unterbrechend) Oh! Nicht nur das! Von dem Moment ab, wo ich mich Ihnen als der berühmte, international weltgefeierte, sagen wir »Stern von Paramaribo« entpuppt hatte, waren Sie von einer Amüsantheit von einer Liebenswürdigkeit, und (Url: leis abwehrend gequälte Geste) aber ganz unbedingt, ja! [27] Das ist auf die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller gemünzt, Arno Holz hatte sie wohl Anfang der 1890er Jahre im Wintergarten tanzen sehen. Sein damaliger Eindruck von ihr anscheinend so beschaffen, daß sich Paramaribo nun Anita Holz »zu Ehren« wiederverwenden ließ. Robert Wohlleben
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