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DIE GEIGERZÄHLER HÖREN AUF ZU TICKEN
99 Sonette von Klaus M. Rarisch

Für das Projekt hat »der Robert Wohlleben Verlag am 21.11.1989 einen Förderungsantrag an den Deutschen Literaturfonds e.V. Darmstadt gerichtet« (S. 144). »Mit Bescheid vom 27.3.1990 (...) wurde der Antrag ohne Begründung abgelehnt«. Dichter Rarisch und Verleger Wohlleben brachten den Band »Die Geigerzähler hören auf zu ticken« – 99 Sonette, Selbstkommentar, Nachweis bisheriger Veröffentlichungen der Gedichte – auf eigenes Risiko heraus. Das Ergebnis: der Meiendorfer Druck Nr. 20, der bisher stattlichste des beherzten »Klein-und-Schein-Verlegers«. Wohlleben hat jede Seite eigenhändig computer-gesetzt und auch den Umschlag entworfen: Rotes Schriftquadrat leicht futuristischer Typen auf weißem Grund. Auflage: 500 Stück.

Ein Verlustgeschäft, zumal der Ladenpreis (DM 25,60) allzu niedrig angesetzt ist. Aber vielleicht wetzt ein Literaturpreis die Scharte aus. Denn Wohlleben hat nicht nur ein Zeichen gesetzt, sondern auch Griff bewiesen: Rarischs Sonett-Ernte aus vierzig Jahren, aus expressionistischem Frühwerk zur Clarté gereift, hat Gewicht. Es ist, in den besten Proben, das hohe spezifische Gewicht der Verse Platens; manches darin ist nur in Karat zu messen. So haben denn die Darmstädter bereits Urteilsschelte einstecken müssen, nämlich vom Saarländischen Rundfunk, der die Verweigerung des Zuschusses am 2. Juni 1990 »unverzeihlich« nannte.

Um es vorwegzunehmen: Die Gedichte des Berliners Klaus M. Rarisch sind keine leichte Lektüre. Sie sind nicht hingetupft wie »des Vogels Tritt im Schnee«, sondern durchgefeilt bis zum Elaborierten. Die Klangpracht streift das Zungenbrecherische: »Wags, kapp dem Wortwildwuchs die Wurzelschwächung!« [Verletzt? Versehrt?] oder »Der Dome Dom in Rom barockt und glockt« [Te Deum Laudamus]. Das ist Brokat, wie von Bischofsmitren. Der Dichter, Vortragskünstler seit dem Berliner Kulturkeller »Das Massengrab«, weiß solch schwarze Messe mephistophelisch zu zelebrieren.

Naturlyrismen sind selten bei Rarisch:

    Das Südmeer krallte seine Brandung tief
    Ins Silbervlies der Nacht, durch die ich lief. [Stigmatisiertes Leben]

»Silbervlies«: eine fremde, kühle, tönende Metapher. Schon früh weht diese Kühle aus den kunstvoll wie aus Stein gefügten Gewölben von Rarischs Sonetten: Selbst Brüste sind hart: Rostschatten blättern von ihnen; Falter schwer: sie »rüsten«; das Hirn weit und hallend: ein »mondig weißer Leichensaal«:

Die letzte Nacht

Erwartung aus türkisdurchglühter Schale
fließt, sanftes Feucht, auf deine Feuerwunden,
verzischt in laue, traumdurchblaute Stunden,
läßt Trübsal dir zum schalen Abendmahle.

Kaum daß die Nacht den Weg zu dir gefunden,
gebären sich die ungeheuren Baale
im Hirn, dem mondig weißen Leichensaale
der Ungeborenen. Du liegst geschunden!

Rostschatten blättern rot von deinen Brüsten,
ja Fieberfalter flattern auf in Trauer,
die sich zum Flug nach dem Inferno rüsten.

Das Meer, verdurstend, färbt sich immer grauer
und wird begraben von den eignen Küsten.
Nun stürze du dich von der Klagemauer!

Neben solcher Reinheit der Form, solchem Metaphern- und Assonanzenprunk und so unverrückbar gültiger Formulierung schrumpfen die Vierzehnzeiler berühmter Zeitgenossen zur Schluderei »sogenannter Sonette«. – Fast ist in der Versteinerung, in die im frühen Liebesgedicht (1960) die enttäuschte Erwartung mündet, schon Rarischs Jahrhundertthema angeschlagen: der Tod bei lebendigem Leib, die Verurteilung zur Urne: alles vorbei, so lange schon, daß sogar die Geigerzähler aufgehört haben zu ticken.

Der Rezensent, langjähriger Bewunderer von Rarischs Sonettwerk, hätte 1984 gern die FAZ von dem Dichter überzeugt. Aber Marcel Reich-Ranicki schrieb auf den Vorschlag, »Die letzte Nacht« im Feuilleton abzudrucken, kurz und im Plural majestatis zurück: »Uns hat die Qualität dieser Verse durchaus nicht überzeugt«. Das ist das Los der Qualität ... Eine Begründung wäre interessanter gewesen. Vielleicht vermißte er Lockerheit, Chansonton, Ironie? Dann hätte ihm Blutiger Zwischenfall eher behagt, zumal ihm die Ehre widerfährt, darin vorzukommen (1983):

Beim Notverband der deutschen Poesie
sind sie zur Dichterlesung angetreten,
die bachmannpreisverdächtigen Ästheten.
Der Magen knurrt manch künftigem Genie

in Klagenfurt, jedoch man ist kein Vieh,
lauscht müde der Etüde der beredten
Poeten, als ob diese beten täten ...
Da plötzlich: Blut! Mord? Selbstmord?? Infamie!!!

Die Schnellkritik vomiert als Analyse:
Der Lorbeer ist ein bitteres Gemüse,
drum kröne man die Stirn dem jungen Fant

mit einem Erste-Hilfe-Notverband,
und Reich-Ranicki faßt den Blitzbeschluß,
daß Suhrkamp – subito! – ihn drucken muß.

Schon wegen seines Tagesthemas steht »Blutiger Zwischenfall« der »Letzten Nacht« nach. Dafür ist Witz zu belachen: In der Klangsequenz der Zeilen 6/7 rinnen dem müden Lauschen die Dichterlesungen zum Gebetsmühlenklang ineins. In Zeile 8 wird alles wach; Köpfe wenden sich ... Doppelsinn (»Notverband«) spielt in Rarischs Poesie in vielen Fazetten: in Doppel-Composita (»Maul- und Klauenwürfe« [Gotteslästerung]), neukombinierten Redewendungen (»Ins Panzerfäustchen lacht sich ein Skelett« [Wahlversammlung]), Zitat-Torsionen:

    Fahr, süßer Friede, fahr aus meiner Haut
    Und laß den braunen Kaffeesatz der Späte ... [Bühnenweihfestspiel]

Am bedeutendsten vielleicht in der grandiosen Zeile

die sowohl Lyrismus ist (Spiegelung des Meeres im Äther) als auch Gott im Himmel bedeutet und in einer dritten Schicht etwas Qualliges, was durch den Äther tausendarmig umarmend zu uns unterwegs ist: Engelschöre, Radio Vatikan, Music in the Air, Glaubensersatz (im Gedicht »Fieber«). Aber auf uns Gesegnete trifft das Bild ebenfalls zu: der Äther, durch den wir zu schwimmen glauben, ist die Konservierungsflüssigkeit des Präparators: die tote Qualle sind wir. Diese Schichten überlagern sich zu quälender Stereometrie: Natur und Leben des längst Abgestorbenen sind bloß vorgetäuscht; Trost ist künstlich und dem Zustand des Abendlands ungemäß: unsere Welt ist längst untergegangen; wir haben es bloß noch nicht gemerkt. Das Thema des »Untoten« ist in Rarischs Versen allgegenwärtig, von der frühesten Schicht (1958)

bis zu dem seherischen Gedicht »Menschüber – menschunter« (1987), in dessen Schlußzeile der Einsturz des Geistes die Distinktion der Welt aufhebt. Nicht Nietzsche nur ist der Untote: sein Zusammenbruch (1889) markiert das Ende des abendländischen Geistes; was danach kam – nichts Nennenswertes – sind galvanische Zuckungen. Gottfried Benn hat in zwei Gedichten den Augenblick von Turin besungen; Rarischs Gedicht übertrifft sie beide. Mit seinen Fragen, die Stufen zur Peripetie sind, und dem entsetzlichen Schritt ins Nichts ist es eines der ganz großen Sonette der deutschen Sprache.

Menschüber – menschunter

Wer war es, wer sprach einst das Wort aus: Ich?
Befiel der Urgedanke ihn: Ich bin?
Erwuchs aus dem »Ich bin, der ich bin« Sinn?
Erblickte er im Wasserspiegel: sich?

Erkannte er, wem da sein Bildnis glich?
Nahm Dornbusch er und Regenbogen hin?
Ward Allverlust bewußt als Nichtsgewinn,
da jäh die trübe Tierheit von ihm wich?

Wie lange kann der klare Tag noch währen?
Wann dämmert aasiges Gewesensein?
Wird kommen, was da muß, schon vor der Zeit?

Gebären neue Mythen sich und Mären?
Mordkutschertat Turin – ein Geist stürzt ein:
Weltwundwahndunkelwunschverlorenheit.

Durch wieviel Papier müßte man sich lesen, um herauszufinden, ob der Deutsche Literaturfonds wohl jemals vierzehn Zeilen von diesem Gehalt gefördert hat?


(bisher nicht im Druck erschienen)
 

     
 

Klaus M. Rarisch bei fulgura frango
Ernst-Jürgen Dreyer bei fulgura frango

 

 

 

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