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Tanja Holzinger:

Die Tenzone in der neueren deutschen Literatur

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5.2 Das Sonett als Brief – 5.5 Vergleichendes Fazit


5.2 Das Sonett als Brief

Im vorangegangenen Kapitel wurden Sonette behandelt, die durch ihre formale Gestaltung oder das Wortmaterial, durch ihre intertextuellen Bezüge als Antworten auf andere Sonette verstanden wurden. Die Kommunikation findet in diesen Gedichten eher zwischen den Autoren und den Texten statt, auf die sie sich beziehen. Eine viel mehr persönliche als formal-textbezogene Kommunikation erkennt man, wenn Sonette tatsächlich als Brieftexte verwendet werden. Dass Sonette für die schriftliche Korrespondenz benutzt wurden, ist schon im historischen Abriss über die italienische Tenzone erwähnt worden.[91] Das Besondere an Briefen in Gedichtform ist die dialogische Anlage dieser Texte: der Schreibende verfasst seinen Text in der Hoffnung, Antwort zu erhalten, ja fordert diese vielleicht sogar.[92]

Dass gerade Sonette für den Briefverkehr und auch Tenzonen [93] verwendet werden, erklärt Mönch mit der Form des Sonetts, welches das passende Format für die Ausführung eines Gedankens oder einer Frage habe.[94] Allzu leicht nachvollziehbar ist diese Begründung nicht, vor allem, da sie nicht weiter ausgeführt wird. Die Verwendung des Sonetts hängt wohl vor allem mit der Tradition aus dem italienischen Mittelalter und der epochenabhängigen Beliebtheit des Sonetts zusammen.

Ein eindrückliches Beispiel für das Sonett im Briefverkehr stellt ein Sonett Eichendorffs an Otto Heinrich Graf von Loeben mitsamt der Antwort Loebens dar.[95] Bemerkenswert ist vor allem der freundschaftliche Zug in beiden Texten – ganz besonders, wenn man die Bedeutung dieses Briefwechsels für Eichendorff bedenkt, der bei Loeben Rat in einer Schaffens- und Lebenskrise sucht.[96]

Auch heute wird das Sonett noch für Briefe verwendet. So führt Robert Wohlleben in seinem Kapitel "Sonett als Brief" auf fulgura.de verschiedene Sonette auf, die er für bzw. direkt an verschiedene Personen geschrieben hat.[97] Der Briefcharakter wird auch durch die Beschreibung der Entstehungshintergründe deutlich, die Wohlleben gibt. Ausgehend von diesen Erklärungen ist Photo das wohl interessanteste Brief-Sonett Wohllebens, da es als Antwort auf eine Reihe Fotos, die ihm von Marek Kandel geschenkt wurden, zu verstehen ist.[98] Im Gegensatz zu der Sonett-Korrespondenz zwischen Eichendorff und von Loeben zeigt sich hier freilich, dass die Sonette Wohllebens unbeantwortet bleiben. Ihr kommunikativer Charakter ist es allerdings, weshalb diese gewidmeten Gedichte hier Erwähnung finden. Sie dienen der Mitteilung, was sie in die Nähe der persönlichen Tenzonen rückt.[99] Freilich darf nicht übersehen werden, dass gerade das Mit- beziehungsweise Gegeneinander als wichtiger Bestandteil der Tenzonendichtung speziell in Wohllebens Brief-Sonetten fehlt.

5.3 Geplante Wettkämpfe
5.3.1 Fragestellung

Häufig ist es bei der Tenzonendichtung aus dem 17. bis 19. Jahrhundert [100] der Fall, dass auf verschiedenste Weise kleine Dichterwettkämpfe zu einem bestimmten Thema ausgetragen werden, und diese von den Beteiligten zuvor als geselliges literarisches Spiel geplant werden. Obwohl bei den meisten der vorliegenden Gedichte eben dieses Planungsmoment offensichtlich ist, an manchen Stellen sogar nachgewiesen werden kann, wie beispielsweise bei den Tenzonen zwischen Fontane und Lepel durch deren Briefwechsel [101], wird in den Tenzonen teilweise großer Wert darauf gelegt, das Wettkampf-Szenario aufzubauen. Auf welche Weise dies geschieht und wie die Fragestellung ausgearbeitet wird, werde ich im Folgenden zusammenfassend darstellen.

Am eindrücklichen ist wohl die Art, wie Klaj und Harsdörffer ihre vielen dialogischen Gedichte in das ganze Konzept des Schäfergedichts eingebettet haben. Doch weicht diese Form sehr weit von den anderen behandelten Texten ab, die immer nur einen Gegenstand in einem Streitgedicht behandeln, und ist so weitläufig, dass die Einbettung der einzelnen Gedichte in den weiteren Kontext einer eigenen Analyse bedürfte, die hier nicht geleistet werden kann.

Dem Sängerstreit [102] zwischen Uhland und Rückert ist ein Vierzeiler, der die Fragestellung enthält, vorangestellt. Das Dialoggedicht Ein schönes Fräulein … [103] der beiden Dichter ist so gestaltet, dass es nicht eine Entscheidungsfrage gibt, sondern jede Strophe mit einer Frage oder einer als Aufforderung zum Weiterschreiben zu verstehenden Aussage endet, die vom jeweils anderen aufgegriffen wird. Das dritte Beispiel von Uhland und Rückert [104] entbehrt jeder Fragestellung und kann auch nicht in die Reihe der geplanten Tenzonen eingeordnet werden.

Einen kleinen Wettkampfrahmen findet man in einer Tenzone aus dem Tunnel über die Spree zwischen Lepel und Fontane, die den Titel Mit oder ohne Dorn trägt. Die ersten beiden Verse lauten:

 

Zum heitren Kampf, der unser Lied durchtose,
Ruft in die Schranken schmetternd uns das Horn.[105]

Die Wortwahl, mit der das Szenario beschrieben wird, ist dem Bereich des mittelalterlichen Turnierkampfs entlehnt. Die Wettkampfsituation wird hier zwar sprachlich ausgeschmückt. Tatsache ist aber, dass die im Tunnel über der Spree entstandenen Tenzonen auch wirklich zur Aufführung kamen.[106] Auf diese Aufforderung zum „Kampf“ folgt in zwei Versen die Fragestellung, bei der der Gegner direkt angesprochen wird. Nach einer kurzen Erläuterung der Frage schließt sich dann ungewöhnlicherweise nicht die Aufforderung an das Gegenüber an, sich für eine Alternative zu entscheiden, sondern schon die eigene Entscheidung: Ich lieb sie waffenlos (Dorn I, V.8).[107] Dies ist auffällig, da in der provenzalischen Literatur die Entscheidung dem Gefragten überlassen wurde. Ebenso verhält es sich bei den Tenzonen zwischen Wackenroder und Simrock. Die Streitgedichte [108] dieser beiden Romantiker sind ein eindrückliches Beispiel dafür, wie eine Wettkampfsituation im Vorfeld des eigentlichen Streits aufgebaut werden kann. Sowohl in der Tenzone Kunst und Amt [109], als auch in Schwert und Feder [110] wird der Rahmen des Dichterwettstreits mit mehreren Versen gesteckt. In beiden Fällen wird dafür der Begriff Kampf (Kunst I, V.1; Schwert I, V.3) gebraucht. Kunst und Amt wird mit einer Lobrede Simrocks auf die dichterischen Fähigkeiten Wackernagels eröffnet (Kunst I, V1-8), die darauf abzielt, den möglichen Sieg zu erhöhen, da der Streit mit einem würdigen Gegner geführt wird. Darauf folgt die Fragestellung:

 

So steh mir Rede: Soll ein Dichter sich im Amte mühn
Und ein Gewerbe wählen, das ihn kleidet und ernährt,
Oder räthst du, daß er kühn
Sich seiner Kunst vertraue, ob er Hunger gleich befährt. (Kunst I, V.9-12)

Simrock wählt dann nicht selbst, sondern fordert Wackernagel auf, sich für eine Alternative zu entscheiden. Auf die Wahl einer Position wird hier besonderer Wert gelegt, da diese für den Ausgang der Tenzone entscheidend erscheint (Kunst I, V.15 f.).

Noch auffälliger ist die Gestaltung der Rahmensituation bei Schwert und Feder. Wackernagel, der diesen Dichterstreit beginnt, erklärt in der Auftaktstrophe, er sei mit Pferd und klirrendem Schwert zu Simrock gekommen, um ihn zum Kampf herauszufordern (Schwert I, V.1-6). Nachdem er dann auf die Freundschaftlichkeit des Wettstreits hingewiesen hat, stellt er die zu beantwortende Frage:

 

Ich frage dich, antworte du und sprich zur Hand:
Ist mehr das Schwert zu ehren, mehr die Feder? (Schwert I, V.9 f.)

Auch hier wird durch die Aufforderung antworte du deutlich, dass dem Antwortendenden die Wahl einer Position obliegt. Das von Wackernagel beschriebene Szenario, in dem die Kontrahenten aufeinandertreffen, nimmt auch Simrock in seiner Antwort auf. Der Rahmen ist hier also viel weiter ausgestaltet als in den anderen vorliegenden Tenzonen.

5.3.2 Schiedsrichterverfahren

Interessant ist an diesen Texten außerdem, dass – ausgehend von einer Entscheidungsfrage bei den Tenzonen um Wackernagel und Simrock – auch wirklich ein Urteil gefällt werden soll. Bei diesen Streitgedichten kommt ein Schiedsrichterverfahren zur Anwendung. Einen Schiedsrichter anzurufen war auch beim Ausfechten mittelalterlicher Partimen gängige Praxis. Allerdings sind kaum Richtsprüche überliefert, was allgemein zu der Annahme führt, dass diese Urteile keine besondere Bedeutung hatten.[111] Man kann also auch die Einrichtung eines Schiedsrichters als Zeichen für die Traditionsbezogenheit der Gattung werten.

Allerdings erhalten nicht alle dieser Wettstreite ein abschließendes Urteil. Rückert beispielsweise nimmt den Sängerstreit mit Uhland zwanzig Jahre nach dessen Entstehung noch einmal auf, indem er das gemeinsam verfasste Streitgedicht in einem weiteren Gedicht [112] ein Waisenkind nennt und es personifiziert darum bitten lässt, dass die beiden Streitenden niemals erfahren sollen, was tatsächlich das schlimmere Schicksal wäre, Tod oder Treuebruch der Geliebten. Dann sei auch kein Richterspruch nötig:

 

Fleh für deine beiden Väter,
Waisenkindchen, himmelwärts: (Aufnahme II, V.9 f.)
[…]
Daß ihr bis zum Leichentuch
Brauchet keinen Dichterspruch.
Beide bring euch nie in Not
Weder der Geliebten Tod,
Noch der Liebe Treuebruch. (Aufnahme III, V.6-10)

In diesem Fall wird also keiner Alternative am Ende der Vorzug gegeben. Wichtig ist aber, dass die Möglichkeit eines solchen entscheidenden Richterspruchs erwähnt wird.

So verhält es sich auch bei der Tenzone Kurz und Lang [113] zwischen Kugler und Simrock. In dieser fordert Kugler Simrock auf, einen Richter zu benennen:

 

Doch daß um dieß Kampfgedicht
Nicht ein Haß in uns entbrenne,
Bitt ich dich, Juriste, nenne
Einen den die Welt im Jus
Von dem kurz- und langen Kuß
Als erfahren anerkenne. (Kurz XI, V.5-10)

Doch wird der Streit am Ende nicht entschieden, da der Dichter, den Simrock gern als Richter benennen würde, seinen Angaben zufolge verstorben ist. Besonders passend ist diese Aussage, weil auch Simrock im Verlauf der Tenzone schon scherzhaft als verstorben erklärt wurde (Kurz X).

Andere Streitgedichte werden aber entschieden. Bei der Tenzone Schwert und Feder benennt Simrock Adalbert von Chamisso als Schiedsrichter, womit sich Wackernagel einverstanden erklärt. Damit einher geht ein besonderes Lob für den Richter von beiden Seiten als Begründung, warum er der Richtige für diese Aufgabe sei (Schwert XXII, XXIII). Chamissos Urteilsspruch besagt, er wolle demjenigen Recht geben, der ihn am besten dafür bezahle. Diese spaßhafte Antwort zeigt, dass diese Tenzonen aus Freude am spielerischen Wettkampf gepflegt wurden und nicht zuletzt der Erheiterung dienten.

Eine andere Form des Schiedsrichterverfahrens wiederum findet sich im Dichterkreis des Tunnels über der Spree. Die dort verfassten Tenzonen wurden meist im Rahmen der Tunnel-Sitzungen aber auch zu festlichen Angelegenheiten vorgetragen.[114] Bei diesen Gelegenheiten nahmen die anderen Tunnel-Mitglieder beziehungsweise auch die anwesenden Gäste die Funktion des Schiedsrichters wahr. Doch auch hier zeigt sich, dass es nicht unbedingt darum ging, mit seinen Argumenten zu siegen, denn die Urteile legten häufig ein Unentschieden fest.[115]

5.3.3 Themen

Betrachtet man nun die Themen, die bei den geplanten Dichterwettkämpfen diskutiert werden, so finden sich meist klar geschiedene, einfach formulierte Positionen, bei denen es gilt, sich für eine der beiden zu entscheiden. Wichtig dabei ist, dass sie sich nicht direkt auf das Leben der streitenden Dichter beziehen, also unpersönliche, eher abstrakte Fragen behandeln.

Ein der mittelalterlichen Tradition entsprechender Themenbereich, der immer wieder aufgegriffen wird, ist der der Liebesfragen. In der Tenzone Kurz und Lang [116] zwischen Franz Kugler und Karl Joseph Simrock erinnert Kugler explizit an die mittelalterlichen Minnehöfe, an denen über Fragen in Liebesdingen entschieden wurde:

 

Giebts auch heut in keinem Land
Liebeshöfe mehr, ich meine, […] (Kurz I, V.5 f.)

Das Dilemma, das der Streitpunkt dieses Dichterwettkampfs ist, handelt davon, ob viele kurze Küsse der Geliebten vorzuziehen seien oder lieber ein langer Kuss (Kurz I, V.9 f.). Das Spielerische dieses Textes zeigt sich darin, dass es um keine ernsthaft schwierige Entscheidung geht. Auch die Behandlung des Themas ist als eher scherzhaft denn ernst einzustufen. Gewichtiger ist die Frage, ob der Geliebten Tod oder ihre Untreue das schwerere Schicksal berge, worüber Uhland und Rückert im Sängerstreit diskutieren.[117]

Auch aus der Dichtergesellschaft Tunnel über der Spree liegt eine Tenzone zu einer Liebesfrage zumindest teilweise in gedruckter Form vor, und zwar Röschen oder Rose zwischen Fontane und Lepel.[118] Aus dem Tunnel-Protokoll vom 2. Dezember 1861 geht hervor, dass erörtert werden sollte, „ob man im Herzen seiner Dame lieber der Erste oder der Zweite resp. Soundsovielte (und womöglich der Letzte) sein möchte“.[119] Dass das Thema beim Vortrag der Tenzone den Zuhörern wohl nicht wirklich ersichtlich wurde, soll hier nur eine Randbemerkung bleiben.[120]

Deutlich wird aber, dass hier noch eine bewusste Anlehnung an die mittelalterliche Trobador-Tradition vollzogen wird. Die Minne war eines der wichtigsten Themen in den Partimen, den dilemmatischen Streitgedichten, in denen eine abstrakte, keine persönliche Frage beantwortet wird.[121]

Doch nicht nur Liebesdinge werden in den geplanten Wettkämpfen verhandelt. Weiterhin wird über den Vorzug verschiedener Tugenden und Talente gestritten, wie beispielsweise in Reden ist Silber, Schweigen ist Gold [122] oder Schwert und Feder.[123] Ebenso werden persönliche Vorlieben wie in Weib, Wein und Gesang von Simrock, Wackernagel und Kugler [124] und laut den Recherchen Hettches in den Tenzonen des Tunnels [125] verhandelt. Auch hier wird also ersichtlich, dass die Themenliste, die zwar nicht ausschöpfend ist, die Tendenz zu recht unpersönlichen, allgemeinen Gegenständen birgt.

5.3.4 Fazit: Nähe zum Partimen

Insgesamt lässt sich nach der Analyse der hervorstechendsten Charakteristika bei den geplanten literarischen Wettkämpfen feststellen, dass diese dem provenzalischen Partimen des Mittelalters ähnlich sind. Auf eine dilemmatische Fragestellung folgt eine recht unpersönliche Erörterung des Themas. Nicht zuletzt ist die Liebe ein gängiges Thema dieser Wettstreite. Vor allem die Schiedsrichterinstanz, die bei vielen dieser Texte für eine Urteilsfindung angerufen oder zumindest in Erwägung gezogen wird, deutet auf diesen Traditionsbezug hin.

5.4 Ungeplante Tenzonen
5.4.1 Schreibanlässe

Bei dem älteren vorliegenden Material finden sich also hauptsächlich Tenzonen, die im Voraus geplant und abgesprochen waren, weshalb auch erklärbar wird, warum sie eine klare Fragestellung besitzen, ein Gegenüber ansprechen und teilweise sogar eine fiktive Wettkampfsituation aufbauen.

Die Tenzonen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und in dieser Arbeit behandelt werden, sind anderer Natur. Sie entstehen ungeplant, indem ein Autor auf das Gedicht eines anderen eine Antwort verfasst. Daraus lässt sich schließen, dass es bei den ungeplanten Tenzonen eher um den Gegenstand an sich geht und weniger um einen Wettkampf. Es werden Antworten gegeben, konträre Meinungen ausgetauscht und auch Streitigkeiten ausgefochten, was stark an die von Stiefel „wirkliche Tenzonen“[126] genannten Streitgedichte im mittelalterlichen Italien erinnert.

Um den Unterschied zu den im vorangegangenen Kapitel besprochenen Partimen zu verdeutlichen, lohnt es sich, an einigen Beispielen zu untersuchen, was den Schreibanlass vor allem für die jeweils erste Antwort in einer Tenzone gibt. Eine Anstoß dafür, auf ein Gedicht zu antworten, kann der Wunsch, der Aussage des Gelesenen zu widersprechen, sein. Dies ist beispielsweise bei der Schlaf-Tenzone der Fall, die Robert Wohlleben benutzt, um das Wesen der Tenzone zu erklären. Seine Aussage, dass Anlässe für Sonette hin und wieder in anderen Sonetten wurzeln [127], unterstützt meine Auffassung von den ungeplanten Tenzonen. Auf Richard Klaus’ Langzeitschlaf antwortet Klaus M. Rarisch mit Das Ende der Schlaflosigkeit. Thema beider Sonette ist die Frage, was nach dem Tod geschieht. Während Klaus von einem Leben nach dem Tod schreibt, scheint die Einstellung Rarischs diesseitiger; die Vorstellung, die sein Sonett vom Tod transportiert, ist die des Endgültigen, des tatsächlichen Endes. Schreibanlass für Rarisch scheint also der in Klaus’ Sonett enthaltene Gedanke der Jenseitigkeit gewesen zu sein, der zum Widerspruch reizte.

Auch bei der Tenzone Die Dummheit liefert uns ans Messer [128] zwischen Christoph Meckel und Volker von Törne ist der Widerspruch nicht zu überhören. Andreas Böhn erklärt, dass die Widersprüchlichkeit des gesamten Streitgedichts schon im Titel des ersten Sonetts Rechts und links von Christoph Meckel angelegt ist und durch den deutlichen Gegensatz des zweiten zum ersten Sonett noch gesteigert wird.[129] Es handelt sich hier um eine politische Tenzone, die mit einer Beschwerde beginnt:

 

Wir riefen gern: Die Welt wird schließlich besser,
wir haben Zeichen, dass sie es schon ist!
Stattdessen sehn wir: nur ein Abgewässer
drein Leviathan wirft seinen Kot und pißt.
[…]
Was tun wir denn, als nur ein Unkraut jäten
das, kaum gerupft, schon wieder wachsen tut. (Dummheit I, V.5-8; 13 f.)

Die Antwort von Törnes widerspricht nicht direkt inhaltlich, sondern wendet sich gegen die passive Beschwerdehaltung in Rechts und Links. Antwort fordert zum Handeln auf, um etwas zu ändern:

 

Statt ihm die Läuse aus dem Pelz zu jäten,
lad ich dich ein, den Leviathan zu schlachten. (Dummheit II, V.13 f.)

Dass der Ursprungstext zu einer Erwiderung gereizt hat, zeigen auch die intertextuellen Bezüge von Antwort auf Rechts und Links, so ähneln sich beispielsweise die ersten Verse der Sonette. Meckel schreibt: Was uns betrifft: wir wüßten es gern besser. (Dummheit I, V.1) Törne antwortet: Was mich betrifft: Ich weiß es besser. (Dummheit II, V.1) Aus dem Plural wird die erste Person Singular, aus dem Wunsch im Konjunktiv wird eine sichere Aussage – die Gegensätzlichkeit in gleich gebauten Versen könnte kaum größer sein.

Ganz andere Anlässe für eine Antwort finden sich in der Mauerlos-Tenzone.[130] Das erste Sonett dieser Reihe, verfasst von Klaus M. Rarisch, beginnt mit der Frage Kennst du das Land […]? (Mauerlos I, V.1). Auf diese direkte Frage folgt im zweiten Sonett von Albrecht Barford eine direkte Antwort: Ich kenn das Land [] (Mauerlos II, V.1). Beide Sonette sind inhaltlich gesellschaftskritisch und negativ, was der anonyme Verfasser des dritten Textes zum Schreibanlass nimmt, weshalb er seinem Sonett den Untertitel Parodisches zu 2 trüben Sonetten gibt. Das letzte Sonett der Reihe ist von Robert Wohlleben und nur noch eine formale Spielerei mit den Reimen der vorangegangenen Texte, inhaltlich schreibt er die Tenzone nicht weiter.[131] Antwort, Parodie und Reimspiel sind also die Gründe für den Beginn beziehungsweise die Weiterführung dieser Tenzone.

5.4.2 Themen

Betrachtet man diese drei angesprochenen Beispiele, wird im Vergleich mit den geplanten Dichter-Wettkämpfen deutlich, dass die Themen ernster und auch persönlicher, man könnte auch sagen, von größerer Tragweite sind. Die Tenzonen beschäftigen sich mit metaphysischen, politischen oder gesellschaftskritischen Themen, nicht mit abstrakten Fragen nach Vorlieben oder liebeskasuistischen Entscheidungen. Dies rührt natürlich daher, dass die Anfangssonette dieser literarischen Diskussionen als eigenständige Werke entstanden sind, nicht als Auftakte zu einem literarischen Spiel.[132]

5.5 Vergleichendes Fazit

Vergleicht man die Ergebnisse zu den geplanten und den ungeplanten Tenzonen, wird deutlich, dass für die Gattung der Streitgedichte auch in der neueren deutschen Literatur die Aufteilung zwischen Partimen und Tenzone, wie sie aus der provenzalischen Lyrik des Mittelalters bekannt ist, Gültigkeit besitzt. Die geplanten Wettkämpfe oder Partimen sind von unpersönlicher, spielerischer Natur, behandeln abstrakte Fragestellungen, die vorgegeben sind, und finden meist durch ein Schiedsrichterverfahren oder einen versöhnlichen Abschlusstext einen Abschluss. Die ungeplanten Tenzonen dagegen sind eher persönlicher Austausch und enden nur selten mit einer echten Lösung.

Durch diese vergleichende Gegenüberstellung zeigt sich auch, dass diese beiden Arten der literarischen Kommunikation, die der mittelalterlichen Tenzonendichtung nahestehen, eben den Kern der Gattung ausmachen. Zwar treten Dichter auch bei Texten mit starkem intertextuellen Bezug oder in Briefen in Gedichtform in einen Dialog. Doch bleibt dieser häufig entweder rein auf der Textebene oder unbeantwortet. Das dialogische Element ist also nicht so ausgeprägt wie in den Texten oder Textzyklen, die ich als Tenzonen – wobei ich das Partimen als Unterart der Tenzone in diesen Begriff miteinschließe – identifiziert habe.

Die Brief-Korrespondenz zwischen Eichendorff und von Loeben wiederum besitzt dieses Element der Gegenseitigkeit. Allerdings sind beide Sonette auf gestalterischer Ebene weit weniger miteinander verwoben als die ungeplanten Tenzonen, intertextuelle Bezüge sind kaum nachweisbar. Dies kann man vor allem auf den privaten und freundschaftlichen Charakter des Sonett-Austauschs zurückführen und darauf, dass eine Antwort zu erwarten war. Da Tenzonen – nicht aber Partimen – meist ungeplant aus einem Wunsch zu widersprechen entstehen, müssen sie sich deutlicher auf den Ursprungstext beziehen, um den Zusammenhang herzustellen.[133] Nicht zuletzt werden intertextuelle Bezüge dabei auch genutzt, um die eigene Aussage im Vergleich zu der des anderen Gedichtes zu stärken.[134]

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Anmerkungen

[91] Vgl. Kap. 3.2 dieser Arbeit.
[92] Wie aus dieser kurzen Einleitung hervorgeht, hat dieses Kapitel nur echte Brief-Sonette zum Gegenstand, in denen reale Personen miteinander korrespondieren. Fingierte Brief-Sonette, in denen ein nicht mit dem Dichter identisches lyrisches Ich auftritt, wie Beispielsweise in Goethes Brief-Sonetten (vgl. dazu: Jordan, Katrin: „Ihr liebt und schreibt Sonette! Weh der Grille!“ Die Sonette Johann Wolfgang von Goethes. Würzburg 2008. S. 216-236.) werden ausgespart.
[93] Auch in dieser gemeinsamen Nennung zeigt sich meiner Meinung nach die enge Verwandtschaft beziehungsweise die Weite der Gattungsgrenze.
[94] Mönch: Sonett. S. 28.
[95] Eichendorff, Joseph v.: An Isidoris Orientalis/Loeben, Otto Heinrich Graf von: „Unruh’ge Wünsche …“ In: Schiwy: Günther: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie. München 2000. S. 225 f.
[96] Schiwy: Eichendorff. S. 224 f.
[97] Wohlleben, Robert: Sonett als Brief. http://www.fulgura.de/rw/sonett/funktion/funktion08.htm. Letzter Aufruf am 8.9.2009.
[98] Ebd.
[99] Vgl. dazu Kap. 3 und 5.4 dieser Arbeit.
[100] Detailliertere Analysen zur Form der Tenzonendichtung im 17. bis 19. Jahrhundert finden sich in Kap. 6.1 dieser Arbeit.
[101] Hettche: Tenzonendichtung. S. 28.
[102] Vgl. dazu Kap. 6.1.1 dieser Arbeit.
[103] Vgl. dazu Kap. 6.1.3 dieser Arbeit.
[104] Vgl. dazu Kap. 6.1.2 dieser Arbeit.
[105] Zit. nach Hettche:Tenzonendichtung. S. 30.
[106] Beweis dafür sind beispielsweise die Tunnel-Protokolle. Die Protokolle des Tunnels über der Spree sind in der HU Berlin archiviert. Zugriff auf den Katalog erhält man über: http://katalog.ub.hu-berlin.de/tunnel/. Das Stichwort „Tenzone“ liefert über die Sucheinstellung der Seite die Tunnel-Protokolle, in denen Tenzonen verzeichnet sind.
[107] Zit. nach Hettche: Tenzonendichtung. S. 30.
[108] Abgedruckt in: Simrock, Karl: Gedichte. Leipzig 1844. S. 329-374.
[109] Ebd. S. 329-345.
[110] Ebd. S. 346-356.
[111] Selbach: Streitgedicht. S. 87; Kasten: geteiltez spil. S. 18; Bebermeyer: Streitgedicht. S. 233.
[112] Rückert, Friedrich: Aufnahme des vorhergehenden Gedichtes 1836. In: Rückert: Gedichte. Stuttgart 2005. S. 71.
[113] Simrock, Karl/Kugler, Josef: Kurz und Lang. In: Simrock: Gedichte. S. 369-374.
[114] Beispielsweise zum Stiftungsfest am 3. Dezember 1860. Siehe hierzu das online erfasste Register des Tunnel-Archivs an der HU Berlin: http://katalog.ub.hu-berlin.de/tunnel/.
[115] Hettche: Tenzonendichtung. S. 26.
[116] Simrock/Kugler: Kurz.
[117] Eine genauere Analyse dieses Textes findet sich in Kap. 6.1.1 dieser Arbeit.
[118] Hettche hat in seinem Aufsatz drei Strophen der Tenzone gedruckt veröffentlicht, merkt jedoch an, dass einige Stellen der Tenzone durch die vielen Korrekturen Lepels unleserlich sind. Hettche: Tenzonendichtung. S. 30 f.
[119] Zit. nach Hettche: Tenzonendichtung. S. 30.
[120] Ebd. S. 31.
[121] Kasten: Studien. S. 22; Bebermeyer: Streitgedicht. S. 233; Neumeister: Spiel. S. 15, 115.
[122] Fontane/Lepel: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
[123] Simrock/Wackernagel: Schwert und Feder.
[124] Simrock, Karl/Wackernagel, Wilhelm/Kugler, Franz: Weib, Wein und Gesang. In: Simrock: Gedichte. S. 357-368.
[125] Hettche: Tenzonendichtung. S. 32.
[126] Stiefel: Italienische Tenzone. S. 40-42, 123.
[127] Klaus, Richard u.a.: Schlaf-Tenzone und Erklärung Wohllebens unter: www.fulgura.de/etc/kapitel2.htm.
[128] Meckel, Christoph/Törne, Volker von: Die Dummheit liefert uns ans Messer. In: Kürbiskern 3 (1967). S. 46-51.
[129] Böhn, Andreas: Sonett. S. 58.
[130] Rarisch, Klaus M./ Barford, Albrecht u.a.: Mauerlos-Tenzone. https://www.fulgura.de/sonettii.htm. Letzter Aufruf am 8.9.2009.
[131] Eine genauere Beschreibung der Reimstruktur dieser Tenzone findet sich in Kap. 6.2.3.1 dieser Arbeit.
[132] Um Wiederholungen zu vermeiden, wird an dieser Stelle nicht genauer auf die Themenfrage eingegangen. In den Kapiteln 6.2 und 7.3 werden noch weitere Tenzonen vorgestellt.
[133] Vgl. dazu Kap. 5.4.1 dieser Arbeit.
[134] Vgl. dazu auch Kap. 7.3.4 zur Dialogizität in der Tenzone Hieb- und stichfest.
 

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