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Tanja Holzinger:

Die Tenzone in der neueren deutschen Literatur

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6 Formale Unterscheidung der Tenzonenarten
6.1 Tenzonen nicht in Sonett-Form

Nachdem geklärt wurde, welche Tenzonenarten unterschieden werden können und in welchem Verhältnis sie zu verwandten literarischen Phänomenen stehen, werde ich im folgenden Arbeitsteil Beispiele für die Tenzonenproduktion in der neueren deutschen Literatur anführen und diese speziell im Hinblick auf ihre formale Gestaltung untersuchen. Durch diese exemplarischen Analysen wird ein Überblick über die verschiedenen Spielarten der Gattung ermöglicht.

In dieser Arbeit beschäftige ich mich hauptsächlich mit Tenzonen, die in Sonett-Form abgefasst sind, doch finden sich ebenso Streitgedichte, bei denen sich die Dichter anderer Strophenformen bedienen. Schon der Umstand, dass das Sonett nicht von Anfang an die vorherrschende Form in der Tenzonen-Dichtung war [135], rechtfertigt und verlangt auch die Betrachtung einiger Streitgedichte, in denen andere Strophenformen Verwendung finden. Besonders ergiebig war in diesem Hinblick der Austausch zwischen Ludwig Uhland und Friedrich Rückert, aber auch der Berliner Zirkel Tunnel über der Spree, dem unter anderem Theodor Fontane angehörte, pflegte die Tenzone bei Vereinssitzungen und -festen. Leider finden sich aus der Tunnel-Produktion nur zwei gedruckte Tenzonen zwischen Fontane und Bernhard von Lepel.[136] Für die Auswahl der im Folgenden beispielhaft analysierten Tenzonen ist vor allem die formale Gestaltung der Texte ausschlaggebend, weshalb ich darauf verzichte, eine Tenzone aus dem Kreis um Simrock genauer zu untersuchen. Diese sind dann besonders interessant, wenn man sich mit der beschriebenen Rahmensituation und den Themen auseinandersetzt [137], fallen aber kaum durch formale Besonderheiten auf. Die mir vorliegenden Streitgedichte, die ich näher betrachten werde – dabei handelt es sich um drei zwischen Uhland und Rückert und die erwähnte Tenzone Reden ist Silber, Schweigen ist Gold zwischen Fontane und Lepel sowie einen Ausschnitt aus der Produktion des Pegnesischen Blumenordens – weisen sowohl inhaltlich als auch in ihrer formalen Gestaltung interessante Unterschiede auf und geben deshalb einen recht breiten Überblick über die formalen Möglichkeiten des dialogischen Spiels oder Streits. Außerdem wird mit ihnen die Tenzonenproduktion einer relativ breiten Zeitspanne von Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1860 zumindest in Schlaglichtern beleuchtet werden. Es geht mir also nicht darum, von jedem der vorgestellten Streitgedichte eine ausführliche Interpretation zu erstellen, sondern die Besonderheiten des jeweiligen Textes herauszuarbeiten, um die breiten Möglichkeiten innerhalb der Gattung zu demonstrieren.

6.1.1 Schäfergedicht

Gedichtete Dialoge findet man schon in der lyrischen Produktion des Pegnesischen Blumenordens im 17. Jahrhundert. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist das Pegnesische Schäfergedicht, das von Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj [138] 1644 verfasst wurde. Ganz im Sinne der im selben Jahr gegründeten Gesellschaft enthält dieses Schäfergedicht eine Vielzahl an gemeinsam verfassten Texten, die in eine Rahmenerzählung eingegliedert sind.[139] Eines der in diesem Rahmen entstandenen Gedichte beispielsweise behandelt das Thema Ehe. Während Strefon vorlegt und die eheliche Liebe lobt, antwortet Klajus mit einem Negativurteil über die Ehe. Bei diesem Dialoggedicht wechseln sich beide Dichter Vers für Vers ab; Klajus reimt jeweils auf den von Strefon vorgegebenen Vers:

 

S: Alles was lebet und webet / das liebet.
K: Alles was liebet / ist staetig betruebet. (V.1-2)
[…]
S: Sonder die Ehe / vergienge die Welt.
K: Mittels der Ehe / zerschmiltzet das Geld. (V.7-8) [140]

Zwei Meinungen stehen sich gegenüber, jeder verteidigt, wenn auch nicht immer ganz ernsthaft, eine Position, die Reime sind voneinander abhängig. Es handelt sich um ein geselliges Streitgedicht in Dialogform. Dass es bei dieser Art Text nicht darum ging, sein Gegenüber oder einen Rezipienten von der dargelegten Meinung zu überzeugen, ist offensichtlich.

Noch interessanter als die Texte des Schäfergedichts selbst sind die Zwischenpassagen, in denen unter anderem ausgemacht wird, über welches Thema und auf welche Weise im Folgenden geschrieben werden soll. Ein anschauliches Beispiel kann über die Verfahrensweise dieser Dichtungsart Aufschluss geben:

 

Dieses (sagte Strefon) ist von der Sonne Jahrlauf abgesehen. Ich seze entgegen / einen Aufzug von der abtheilung des Tages und der Nacht: dergestalt, daß der Morgen etwas von der Erde / der Mittag etwas aus dem Wasser / der Abend etwas aus der Luft / die Mitternacht etwas aus dem Feuer / auf vorwesende Hochzeit verehre. Ich bedinge auch absonderlich / daß meine Reimendungen / wie zuvor / jedoch soviel ohne zwang thunlich / sollen behalten werden.[141]

Das Thema wird in diesem Fall sehr eng abgesteckt. Nicht nur die Tageszeiten sollen behandelt werden, sondern sie sind noch dazu mit einem Element zu verknüpfen. Außerdem wird Wert darauf gelegt, dass die vorgegebenen Reime vom Antwortenden übernommen werden. Diese Gedichte wurden also nach vorher festgelegten, recht strengen Regeln verfasst. die Formausfüllung scheint mindestens ebenso wichtig wie der behandelte Gegenstand.

6.1.2 Sängerstreit

Bei dem mit Sängerstreit [142] überschriebene Streitgedicht zwischen Uhland und Rückert aus dem Jahr 1816 ist besonders anzumerken, dass es sich durch die vorangestellte dilemmatische Themenvorgabe stark an die Tradition des Partimens anlehnt:

 

Sänger, sprecht mir einen Spruch!
Sagt mir, was ist mindre Not:
Der Geliebten Treuebruch,
Oder der Geliebten Tod? (Sängerstreit, V.1-4 – vorangestellte Frage [143])

Das Dilemma ist einfach zu erklären: Weder der Treuebruch der Geliebten noch ihr Tod ist wünschenswert; bei der ersten Alternative lebt sie zwar noch, liebt den Dichter aber nicht mehr, bei Letzterem verhält es sich umgekehrt, die Liebe findet im Leben zumindest kein Ende. In diesem spielerischen Wettstreit wird nicht die eigene Meinung vertreten, sondern gemäß den Regeln eine der beiden Möglichkeiten verteidigt. Die Frage aus dem Themenkreis „Liebe“ nimmt ebenso wie die Art der Themenstellung Bezug auf das provenzalische Partimen.

Abweichend hiervon ist die Art, wie debattiert wird, denn Rückert und Uhland wechseln sich nicht, wie im mittelalterlichen Streitgedicht üblich, strophenweise ab. Stattdessen beginnt Uhland, dem die Parteinahme für den Tod der Geliebten zugefallen ist, diese Alternative in vier gleichförmig gebauten Strophen, worauf Rückert in derselben Form mit vier weiteren Strophen antwortet.

Die verwendete Strophe ist die Dezime, bestehend aus zehn vierhebigen trochäischen Versen mit dem Reimschema abbaaccddc. Interessant ist vor allem die Reimgestaltung im Sängerstreit, denn die Reime der Fragestellung Spruch/-bruch und Not/Tod werden von beiden Dichtern wieder aufgegriffen. Jeweils der c-Reim jeder Strophe entspricht einem der Reime aus dem Dilemma; Uhland verwendet in Strophe eins und drei den Reim auf Spruch und reimt in Strophe zwei und vier auf Not, während Rückert die Reime in genau umgekehrter Anordnung aufnimmt. Diese Reimanordnung war noch vor Beginn der Tenzone abgesprochen.[144] Es entsprechen sich also nicht alle Reime, aber dafür die programmatischen, mit denen das Thema eingeführt wurde. Dadurch liegt ein besonderes Gewicht auf diesen Reimwörtern, was inhaltlich leicht zu erklären ist, da die Fragestellung so in jeder Strophe nicht nur durch den Klang, sondern auch durch die Wiederholung der Reimworte des Dilemmas präsent bleibt. Aus dieser Reimwiederholung resultiert auch das Wiederkehren der Schlüsselwörter der Fragestellung Treuebruch, Tod und Not, sowie die Verwendung von Spruch in unterschiedlichen Kontexten.[145] Auffällig ist außerdem das Reimwort Leichentuch (Uhland I, V.6; Rückert II, V.7), das zwar mit der einen Alternative Treuebruch reimt, aber die andere, den Tod, beschreibt.

Dieses Streitgedicht inhaltlich zu analysieren und auf die Argumente der beiden Dichter einzugehen, ist hier nicht der Ort. Lediglich einige Auffälligkeiten sollen angesprochen werden. Uhland spricht in den Versen eins bis vier der ersten beiden Strophen erst den Treuebruch an, also die Alternative, die Rückert zu verteidigen hat, und vergleicht diese dann mit dem Tod der Geliebten. Auch in der dritten Strophe vergleicht er beide Frauen, die treuebrüchige und die verstorbene, miteinander. Er argumentiert also nicht nur für seine Alternative, sondern gleichzeitig auch gegen die andere. In der vierten Strophe dann spricht er Rückert direkt an, indem er ihm für seine Kunst schmeichelt, sich aber siegessicher wähnt, da er auf der richtigen Seite stehe:

 

Der du Kampf mir angesonnen,
Wie du sonst mich überfliegst,
Hoff nicht, daß du heute siegst!
Wahrheit hat voraus gewonnen. (Uhland IV, V.1-4)

Der Antwortteil Rückerts greift diese persönliche Ansprache auf und erklärt, dass er den schwierigeren Teil übernehmen müsse, da er selbst der Meinung sei, dass der Tod der Geliebten die bessere Alternative sei. Er muss sich aber, gemäß der Spielregeln, für die andere einsetzen:

 

Gegner, doppelt überlegen,
Ausgerüstet mit zwiefalter
Waff als Dichter und Sachwalter;
Wenn ich dir mich stell entgegen,
Nenn ich’s um so mehr verwegen,
Als, wie du mir selbst gedroht,
Dir als Anwalt dar sich bot,
Gute Sach, und mir die schlechte;
Daß mir bangt, wie ich verfechte
Falschheit gegen Treu im Tod, […] (Rückert I, V.1-10)

Dies zeigt noch einmal die Nähe zum mittelalterlichen Partimen auf. Nicht die eigene Meinung gilt, sondern die Verteidigung eines unpersönlichen Gegenstands. Auch die lobende Anrede verdeutlicht den freundschaftlich spielerischen Charakter dieses Sängerstreits, der nicht von persönlichen Animositäten begleitet wird.

Hinzuweisen ist außerdem auf die Schlussverse der beiden Gedichte. In diesen wird der in der Themenstellung geforderte „Spruch“ pointiert formuliert: Falschheit kränket mehr denn Tod! (Uhland IV, V.10) steht Drum: Eh’r falsch als tot! mein Spruch. (Rückert IV, V.10) gegenüber. Eine Entscheidung oder eine Begründung des Unentschieden findet sich nicht. Die Argumente stehen sich gegenüber, ohne zu einem Ergebnis zu führen. Allerdings greift Rückert das Thema 1836 in einem Gedicht noch einmal auf und verweist darauf, dass es besser sei, die Wahrheit, welche Alternative die schlimmere sei, nicht zu kennen.[146]

6.1.3 Gespräch und Gegenstück

Ebenso ergebnislos, aber im Aufbau sehr verschieden vom Sängerstreit, ist der lyrische Dialog zwischen Uhland und Rückert in den Gedichten Gespräch und Gegenstück.[147] In Gespräch fingiert Ludwig Uhland einen Dialog. Auf als wörtliche Rede gekennzeichnete Aussagen wird mit einer widerlegenden Entgegnung geantwortet. Als anschauliches Beispiel kann die erste Strophe dienen:

 

„Und immer nur vom alten Recht?
Wie du so störrig bist!“
Ich bin des Alten treuer Knecht
Weil es ein Gutes [148] ist. (Gespräch I, V.1-4)

Rückert greift nun wiederum den jeweils dritten und vierten Vers jeder Strophe als Aussage auf und antwortet auf diese mit einer weiteren Erwiderung. So werden also die Verse drei und vier jeder Strophe bei Uhland zu den ersten beiden Versen der entsprechenden Strophe bei Rückert. Die erste Strophe des Gegenstücks lautet:

 

„Ich bin des Alten treuer Knecht,
Weil es ein Gutes ist.“
Das Gute bessern ist ein Recht,
Das nur ein Knecht vergißt. (Gegenstück I, V.1-4)

Mit den Versen, die aus jeder Strophe in Rückerts Antwort zitiert werden, wird auch der Kreuzreim übernommen. Auch die metrische Gestaltung seiner Verse passt Rückert der Uhlands an. Es wechseln vierhebige mit dreihebigen jambischen Versen.

Auf den Inhalt dieses Dialogs soll an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden. Allerdings ist zu erwähnen, dass auf die verschiedenen vorangestellten Verse jeweils mit Entgegnungen recht sentenzhafter Form geantwortet wird. Trotzdem handelt es sich hier nicht wie beim Sängerstreit um einen fingierten Wettkampf. Claudia Wiener weist auf den ernsten politischen Hintergrund dieses Streits hin. Das konservative Moment, auf dem Uhlands Gespräch aufbaut, zeigt ihn als Befürworter der alten landständischen Verfassung. Diese wollte der württembergische Minister Karl August von Wagenheim zu einem Zwei-Kammern-System umstrukturieren, durch das die Stellung des Monarchen gestärkt werden sollte. Gegen diesen modernen Umstrukturierungsversuch argumentiert Uhland hier, es handelt sich also um einen fingierten Dialog zwischen einem Vertreter des modernen Zwei-Kammer-Systems und einem Verteidiger der landständischen Ordnung.[149]

Rückert dagegen ist Anhänger der Politik von Wagenheims. Laut Wiener trägt sein Selbstverständnis als Spruchdichter nach mittelalterlicher Tradition dazu bei, dass er eine verteidigende Haltung für seinen „Herrn“, den württembergischen Minister, einnimmt, wodurch das Gegenstück zu Uhlands Gespräch entstand.[150] Wie Wiener feststellt, werden hier keine sachlichen politischen Argumente ausgetauscht, sondern es herrschen emotional besetzte Begriffe wie Menschheit, Volk und Herz vor.[151] Dieser Umstand und auch, dass die Dichter sich hier, ganz im Gegensatz zum Sängerstreit nicht persönlich ansprechen, zeigt deutlich den Unterschied auf, zwischen geplanten, spielerischen Partimen wie dem Sängerstreit und der echten Tenzone, bei der die ernsthafte Verteidigung eines Standpunkts im Mittelpunkt steht.

6.1.4 Ein schönes Fräulein …

Wiederum einen ganz anderen Charakter besitzt ein gemeinsames Gedicht Rückerts und Uhlands, das Richard Maria Werner als „Wettgesang“ bezeichnet.[152] Den Wettgesang ordnet Werner zwischen dem Widerspruch und der Tenzone ein.[153] Zu den Tenzonen ist dieses Gedicht Werner zufolge nicht zu rechnen, da die Reimreihenfolge frei gewählt ist.[154] Einschränkend ist hierzu aber anzumerken, dass sich die Reime in den wechselseitig gedichteten Strophen zwar nicht aufeinander beziehen, das Reimschema aber festgelegt ist. Jede Strophe besteht aus drei aufeinander reimenden Versen und einem ungereimten vierten Vers.

Dieser vierte Vers ist für die Ausgestaltung dieses spielerischen Wettgesangs besonders wichtig, da in ihm dem antwortenden Dichter eine Frage gestellt wird oder ein anderer Anstoß zum Weiterschreiben gegeben wird. Er hebt sich also durch den Aufforderungscharakter sowie durch seine formale Gestaltung von den anderen, eher erzählenden beziehungsweise antwortenden Versen ab. Denn neben seiner Stellung als Waise fällt er durch seine Kürze auf. Während die ersten drei Verse jeder Strophe in fünfhebigen Jamben verfasst sind, weist der jeweils vierte Vers nur zwei Hebungen auf. Zur Verdeutlichung des Ausgeführten können die ersten beiden Strophen des Wettgesangs dienen:

 

U:

Ein schönes Fräulein schreibt an einem Brief,
Es zittert ihr die Hand, sie seufzet tief;
Nun, Sänger, der zum Wettgesang mich rief!
Was schreibt sie, was?

 


R:


Mein Herz gedenket dein ohn’ Unterlaß,
Du dessen ich, seit ich mich selbst besaß,
In keinem Augenblicke je vergaß.
Wem schreibt sie so?[155]

Wie schon im Sängerstreit Uhlands und Rückerts wird auch hier deutlich in der ersten Strophe darauf hingewiesen, dass es sich um einen geplanten Wettstreit handelt. Dadurch, ebenso wie durch die inhaltliche Gestaltung des Textes, wird der spielerische, gesellige Charakter dieses lyrischen Dialogs besonders herausgestrichen. Während Uhland in seinen Strophen darauf hinarbeitet, dass der Geliebte den Brief auch erhalte, versucht Rückert mit allerlei Einfällen, der Geschichte eine andere Wendung zu geben. Es ist ein Spiel mit gegenseitigen freundschaftlichen Herausforderungen, kein Streit über fiktive oder reale Meinungen, und damit auch streng genommen keine Tenzone nach der Charakterisierung, die bis jetzt vorgenommen wurde. Doch die starke Dialogizität, die Verwendung einer gemeinsamen Form und der spielerische Wettkampfcharakter bezogen auf den Ausgang der Geschichte rücken das Gedicht in den Blick dieser Tradition, weshalb dieses Gesprächsspiel auch in die Tenzonendichtung im weiteren Sinne eingeordnet werden kann.

6.1.5 Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – Tenzone zwischen Fontane und Lepel [156]

Dieser Formausgestaltung stehen Texte gegenüber, bei welchen mehr Gewicht auf der Verteidigung des jeweils gewählten Gegenstands liegt. Ein Beispiel hierfür ist eine der wenigen gedruckten Tenzonen aus der Produktion des Tunnels über der Spree. Abwechselnd verteidigen hier Theodor Fontane und Bernhard von Lepel Schweigen und Sprechen gegeneinander. Dabei sind die formalen Entsprechungen eher gering. Alle Strophen entsprechen sich im Aufbau. Sie bestehen aus jeweils acht Versen, sind in vierhebigen Jamben verfasst und kreuzgereimt. Reime des Vorredners kehren nur selten wieder und dann meist, weil ein inhaltlich wichtiges Schlagwort, das auch Reimwort ist, wieder aufgegriffen wird.

Interessant ist an diesem Text vor allem, wie nah er sich an die mittelalterlichen Partimen anlehnt. Beide Dichter verteidigen ein abstraktes Ideal. Dabei greifen sie jeweils die Argumente des anderen auf, sprechen sich gegenseitig an, bleiben aber argumentativ auf einer recht unpersönlichen Ebene. Dies unterscheidet Reden ist Silber, Schweigen ist Gold beispielsweise vom Sängerstreit zwischen Uhland und Rückert, bei dem Rückert die ihm zugewiesene Position zwar verteidigt, aber die Schwäche der Position von Anfang an einräumt. Doch auch der formale Unterschied ist bemerkenswert, denn die Dichter wechseln sich Strophe für Strophe ab, wodurch die Argumentation vorangetrieben wird, da jeder direkt auf das vom anderen Vorgetragene antworten kann.

6.1.6 Fazit

Insgesamt zeigen die Analysen, dass die Tradition des Dialoggedichts in unterschiedlichster formaler wie inhaltlicher Art über Jahrhunderte hinweg gepflegt wurde. In dieser Besprechung werden nur recht berühmte Beispiele behandelt, die hauptsächlich aus dem 19. Jahrhundert stammen. Doch soll darüber nicht vergessen werden, dass sich der Dialog in Gedichtform auch heute noch großer Beliebtheit erfreut. Zahlreiche Internetforen für Laiendichter geben davon ein beredtes Beispiel mit Rubriken, in denen mit Gedichten spielerisch gestritten und diskutiert wird.[157] Doch sind die hier behandelten Texte vor allem wegen ihrer festgelegten Form interessant. Auf welche Art und Weise das lyrische Gespräch geführt werden sollte, war eine ausgemachte Sache. Dies zeigt sich an dem zwar jeweils unterschiedlichen, aber eben doch formal stringenten Redewechseln.

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Anmerkungen

[135] Vgl. hierzu den Ursprung der Tenzone bei den provenzalischen Trobadors in Kap. 3.1 dieser Arbeit.
[136] Fontane/Lepel: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Dies.: Röschen oder Rose. In: Steinkrauss: Röschen.
[137] Vgl. dazu Kap. 5.3 dieser Arbeit.
[138] Die Ordensnamen der beiden Dichter, unter denen das Gedicht veröffentlicht wurde lauten Strefon (Harsdörffer) und Klajus (Klaj).
[139] Harsdörffer, Philipp/Klaj, Johann: Schäfergedicht. In: Pegnesis oder: der Pegnitz Blumengenoß-Schäfere Feldgedichte in neun Tagzeiten meist verfasset und hervorgegeben durch Floridan. Nürnberg 1673. S. 1-56.
[140] Harsdörffer/Klaj: Schäfergedicht. S. 37.
[141] Ebd. S. 48.
[142] Rückert, Friedrich/Uhland, Ludwig: Sängerstreit. In: Friedrich Rückert: Gedichte. Stuttgart 2005. S. 58-70.
[143] Die Themenstellung wird nicht in die Strophenzählung mit einbezogen, sondern gesondert behandelt.
[144] Vgl. Anhang. In: Rückert: Gedichte. S. 260.
[145] Es findet sich „Treueverspruch“ (Uhland I, V.10), „Richterspruch“ (Uhland III, V.6), „Spruch“ (Rückert IV, V.10) als Reimwörter; „Treuebruch“ wird viermal wiederholt (davon dreimal als Reimwort, einmal nur als „Bruch“); „Tod“ wird siebenmal (davon viermal als Reimwort), „Not“ dreimal wiederholt.
[146] Rückert: Aufnahme des vorhergehenden Gedichtes. Vgl. dazu Kap. 5.3.2 dieser Arbeit.
[147] Uhland, Ludwig: Gespräch. In: Rückert: Gedichte. S. 72 f.; Rückert, Friedrich: Gegenstück. In: Ebd. S. 73 f.
[148] Die Unterstreichungen wurden von mir vorgenommen; im Originaltext sind die unterstrichenen Wörter durch Kursivschreibung hervorgehoben.
[149] Wiener, Claudia: Auch Harfenlispel = Minnesang und sanftes Liebeskosen inmitten all dem Tosen. Die Auswirkungen von Rückerts Mittelalterbild auf sein Selbstverständnis als Dichter. In: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft 9 (1995). S. 7-32. Hier S. 10 f.
[150] Wiener: Harfenspiel. S. 10.
[151] Ebd. S. 13.
[152] Werner, Richard Maria: Lyrik und Lyriker. Hamburg/Leipzig 1890. S. 219. Eben hier findet sich auch der Text des Gedichts, das ohne Überschrift abgedruckt ist. S. 219 f.
[153] Beim Widerspruch bezieht sich der Dichter auf das Werk eines anderen und widerlegt oder bekämpft es. Werner: Lyrik. S. 216.
[154] Werner: Lyrik. S. 219.
[155] Zit. nach ebd.
[156] Fontane/Lepel: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
[157] Man findet sowohl offene Diskussionen in Reimform (beispielsweise ein Spiel unter dem Stichwort Reimefechten: http://www.dielyriker.de/zudenlyrikern/dielyriker/showthread. php?t=4395 [verschwunden] wie auch abgeschlossene Streitgedichte als Wettkampf (als Beispiel hierfür kann ein 20 Beiträge umfassendes Duell zwischen den Usern Abaddon und Archdrakon auf dem Dichterplanet angeführt werden: http://www.dichterplanet.com/dichter planet/index.php?page=Thread&threadID=11953&pageNo=1. Beiden Arten ist die Formoffenheit gemein, weshalb sie hier zwar erwähnt, nicht aber genauer betrachtet werden.
 

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