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Tanja Holzinger:

Die Tenzone in der neueren deutschen Literatur

Eingang 

Punkt 1 – 4 

Punkt 5 – 5.1.4 

Punkt 5.2 – 5.5 

Punkt 6 – 6.1.6 

Punkt 6.2 

Punkt 7 + 8 

Literatur 

 

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7 fulgura.de + 8 Schlussbemerkung


7 fulgura. de – Heimstatt der Tenzone heute
7.1 Website, Meiendorfer Drucke, Wohlleben und Rarisch

An verschiedenen Stellen dieser Arbeit werden Beispiele zur Analyse bestimmter Phänomene herangezogen, die auf der Internetseite fulgura.de veröffentlicht sind. Da tatsächlich die meisten modernen Beispiele, die ich hier behandle, eben aus den Federn dieser Autoren und deren Leser stammen und es sich wohl auch um die produktivste Gruppe von Tenzonendichtern im deutschsprachigen Raum handelt, lohnt es, fulgura.de etwas genauer vorzustellen.

Gründer und Betreiber der Seite ist Robert Wohlleben. Der 1937 geborene Verleger, Autor, Setzer und Übersetzer [197] betreibt seit 1997 beziehungsweise 1999 unter diesem Namen die Internetpräsenz fulgura.de, die er selbst als „labyrinthisches Netzgelände“ bezeichnet. Tatsächlich macht gerade dieser teilweise etwas verworrene Aufbau der Seite einen Teil ihres Reizes aus, da sich immer wieder neue Möglichkeiten ergeben, einem Pfad zu folgen und Texte zu entdecken. Die Seite widmet sich vorwiegend dem Sonett und somit auch den in Sonetten verfassten Tenzonen. Besonders hervorzuheben ist, dass dort nicht nur die Tenzonen selbst veröffentlicht sind, sondern auch Kommentare zu einzelnen Texten von den Autoren selbst oder ihren „Mitstreitern“ sowie ein Arbeitsgespräch beziehungsweise eine textbezogene und poetologische Diskussion in Briefform zwischen Klaus M. Rarisch und Daniel Goral.[198] Dies ermöglicht einen Einblick in die Arbeitsweise der dort veröffentlichenden Autoren und lässt Schlüsse über ihre poetologischen Standpunkte zu, was für die Analyse der Tenzonen äußerst hilfreich war, weshalb ich auch immer wieder auf diese Kommentare zurückgegriffen habe.

Wohllebens Engagement für das Sonett und die Tenzone zeigt sich aber nicht nur in der Gestaltung dieser Internetseite, sondern auch durch seinen Verlag, bei dem er die Meiendorfer Drucke herausbringt, die er selbst als „Container für Sonette“ bezeichnet. Dort wurden auch die beiden „Langtenzonen“ Hieb- und Stichfest [199] und Um die Wurst – Sonette zur Lage [200] veröffentlicht. An diesen beiden längeren Streitgedichten sowie den anderen Tenzonen auf fulgura.de ist Klaus M. Rarisch beteiligt, weshalb auch ihm in meinen Augen eine wichtige Rolle bei der Erhaltung und Verbreitung der Tenzonendichtung zukommt.

7.2 Tenzonen bei fulgura.de – formale und inhaltliche Übersicht

Da der Kreis um fulgura.de und die Meiendorfer Drucke eben eine wichtige Stellung bei der modernen Tenzonendichtung einnimmt, lohnt es sich, einen kurzen Überblick über die dort veröffentlichten dialogischen Sonette – denn bei allen Tenzonen und Antwortgedichten dort handelt es sich um Sonette – zu geben. Wie schon erwähnt, folgen die meisten der Texte nicht dem Prinzip der Reimübernahme. Tatsächlich sind die Mauerlos-Tenzone und die Leben-Tenzone die einzigen Ausnahmen, bei denen mehr als vereinzelte Reime wieder aufgegriffen werden.[201]

Bei den formal freieren Sonett-Dialogen bestehen sechs aus einem Ursprungssonett und mindestens zwei Antworten. Die Tenzonen Hieb- und Stichfest und Um die Wurst stechen ob ihrer Textmenge noch einmal heraus. Auffällig ist außerdem, dass – mit Ausnahme von Hieb- und Stichfest – an allen Tenzonen mehr als zwei Personen beteiligt sind. Außerdem finden sich noch vereinzelt Texte, zu denen jeweils nur ein Antwort-Sonett geschrieben wurde.

Eine thematische Tendenz in den Tenzonen auszumachen, ist nicht möglich. Sie behandeln sowohl Fragen, die das Leben betreffen (wie die Leben-Tenzone oder auch die Ich-Tenzone), greifen Themen von mehr oder weniger öffentlichem Interesse scherzhaft auf, wie die Wahl zum Wort des Jahres in Um die Wurst, können gesellschaftskritisch sein wie die Mauerlos-Tenzone oder poetologische Fragen behandeln wie Hieb- und Stichfest. Insgesamt zeigt sich also, dass die Gattung heute thematisch sowie formal offen ist. Der Bezug zum mittelalterlichen Partimen, wie er noch im 19. Jahrhundert zum Beispiel bei den Tenzonen des Tunnels über der Spree bestand, ist allerdings verlorengegangen, da die Tenzonen weder abgesprochen sind, noch ein Wettkampfszenario aufgebaut wird oder eine Schiedsrichterinstanz vorgesehen ist. (Eine Ausnahme findet sich in den Schluss-Sonetten der Tenzone Hieb- und stichfest, in denen ausdrücklich an die mittelalterliche Tradition erinnert wird.[202])

7.3 Einzelinterpretation: Hieb- und Stichfest – eine poetologische Tenzone

Nachdem sämtliche besprochenen Tenzonen in dieser Arbeit nur auf bestimmte auffällige Aspekte hin untersucht wurden, wird im Folgenden in einer ausführlicheren Einzelinterpretation auf eine Tenzone aus dem fulgura-Kreis näher eingegangen. Dadurch werden einige Grundprinzipien der Gattung noch einmal im Kontext eines einzelnen Streitgedichts aufgearbeitet. Die Auswahl dieser Tenzone hängt vor allem mit ihrem Thema zusammen. Hieb- und Stichfest [203] von Lothar Klünner und Klaus M. Rarisch ist als poetologisches Streitgedicht über die Sonettform in Sonettform zu werten.

7.3.1 Entstehung

„Zwischen Lothar Klünner und Klaus M. Rarisch entspann sich 1995 ein keineswegs zimperliches Streitgespräch in Sonetten über Wert, Leistung und Zeitgemäßheit des Sonetts.“[204] Das ist die knappe, aber dennoch treffende Beschreibung der 21 Sonette umfassenden Tenzone zwischen Rarisch und Klünner bei fulgura.de. Aus einem kleinen Bericht Lothar Klünners erfährt man, wie es zu diesem Sonettaustausch kam: Klünner verfasste als Reaktion auf von Herbert Laschet angekündigte Sonett-Lesungen das Gedicht Den Sonettisten, in welchem er – ironischerweise in Form eines Sonetts – seinen Standpunkt gegenüber der in seinen Augen überkommenen Form deutlich macht. Laschet leitete den Text an den Sonettisten Klaus M. Rarisch weiter, der in einem Antwortsonett seine entgegengesetzte Auffassung vertrat. Daraufhin entwickelte sich ein Schlagabtausch, der zumindest meist das Sonett in der heutigen Zeit zum Gegenstand hat.[205]

Am Ende der auch gedruckt vorliegenden Tenzone findet sich außerdem noch eine Coda, in der alle Gedichte aufgenommen sind, mit denen sich andere Dichter in dieses Streitgespräch eingemischt haben. Diese Einwürfe sollen an dieser Stelle zwar erwähnt werden, finden aber bei der Betrachtung keine weitere Beachtung.[206]

7.3.2 Argumentationsstruktur

Um einen Überblick über die 21 Streitsonette zu geben, werde ich zuerst die grobe Argumentationsstruktur nachzeichnen. Erst auf dieser Grundlage ist es sinnvoll, auf gestalterische Besonderheiten näher einzugehen. Im Zuge der inhaltlichen Analyse werde ich mein Augenmerk im Besonderen auf die poetologischen Ansichten der Dichter über das Sonett lenken. Interessante Formmerkmale und Metaphorik werden hier noch nicht tiefergehend besprochen.

Im ersten Sonett der Tenzone macht Klünner deutlich, dass er das Sonett für eine überkommene Form hält, die nicht mehr in die heutige Zeit passt. Diese Behauptung stützt er mit dem Argument der Kopflastigkeit der Form, weshalb sie nicht geeignet sei, tatsächlich etwas Gehaltvolles zu transportieren. Diese deutliche Ablehnung des Sonetts erinnert an den Sonettenstreit des 18. Jahrhunderts, als die Versuche von Verehrern Bürgers, das Sonett wiederzubeleben, polemisch kritisiert wurden.[207] Weiterhin spricht Klünner den heutigen Sonettisten in gewisser Weise die Befähigung ab, besonders eindringliche Sonette zu schreiben, indem er konstatiert: Kein Orpheus nimmt an diesem Spiel mehr teil. (I, V.11). Diese doppelte Anspielung greift zum einen auf die griechische Mythologie zurück, in der Orpheus’ Gesang übernatürliche Kräfte besitzt, zum anderen wird damit an Rilke und seine Sonette an Orpheus erinnert, deren Qualität Klünner wohl höher schätzt als die der zeitgenössischen Sonette.

In Rarischs Entgegnung, die ebenfalls den Titel Den Sonettisten (II) trägt, greift dieser den Vorwurf auf, dass das Sonett nicht in die heutige Zeit passe. Dass er auf den Geschmack der Zeit keinen Wert legt, zeigt er, indem er Günter Grass als Schützenkönig der Zeitgenossen bezeichnet.[208] Das Sonett als Form steht für ihn über jeder Modeerscheinung in der Literatur, was im Schlusscouplet dieses Gedichts deutlich wird: Gleichviel, mit wem die Welt sich grad beschäftigt – / es gilt die Kraft nur, die sich selbst bekräftigt. (II, V.13 f.)

Den Seitenhieb gegen Grass zieht Klünner in den Quartetten des folgenden Sonetts ins Lächerliche. Er betont, dass Rarisch immer wieder dieselben Angriffe starte, die jedoch vollkommen nutzlos seien. In den Terzetten dann wirft er Rarisch vor, dass diesem die Inspiration fehle und er sich immer wiederhole. Von einem solchen Dichter und seiner Trotzmoral mit ihrem Bodensatze (III, V.14) könne er nicht erfahren, wie man sich von Modeerscheinungen lossage.

Im nächsten Sonett wendet sich Rarisch Den Sonettkritikern (IV) zu. Ihnen wird vorgeworfen, das weite Feld des Sonetts nicht ausreichend zu kennen und immer dieselbe Kritik anzubringen, und zwar, dass sich nichts Neues in den Sonetten findet. Sie schrieben nur, um Erfolg beim Publikum zu haben. Wer sich aber nicht anbiedere, bleibe als Dichter unbeachtet.

Klünner dagegen weist daraufhin den Vorwurf der Ruhmsucht zurück und lenkt den Blick wieder auf das Sonett als Lyrikgattung. Er nennt die Form an sich museal und heuchlerisch (V, V.11), sie ist in seinen Augen also überkommen und nicht mehr zeitgemäß. Statt sie weiter zu pflegen, ruft er dazu auf, sie neu zu fassen (Vgl. V, V.13). Er spricht sich also für eine neue Beschäftigung mit und Veränderung an der Form aus, statt sie nach alten Regeln zu bearbeiten. Poetologisch bewegt sich dies in die Richtung des „ingenieusen Formgebrauchs“, wie ihn Dirk Schindelbeck erklärt. Schindelbeck teilt die Möglichkeiten, mit dem Sonett umzugehen, auf. Er spricht von „konservativem“ Formgebrauch, der vor allem auf die Erfüllung der Form nach dem petrarca-schlegelschen Modell abzielt [209], von „kritischem“ Formgebrauch, also das Sonett als Medium, um am Sonett Kritik zu üben [210], und vom „ingenieusen“ Formgebrauch, bei dem die Freiheit des Autors gegenüber der Form innerhalb bestimmter Gattungsgrenzen deutlich wird.[211] Klünners Sonette in dieser Tenzone wären nach Schindelbeck teilweise als kritisch, teilweise – auch wenn man die eben erklärte Forderung Klünners berücksichtigt – als „ingeniös“ einzustufen.

Das folgende Sonett Rarischs ist in seiner Argumentation dreigeteilt. In den Quartetten greift er den von Klünner verwendeten Begriff des Kunstgewerbes (V, V.10; VI, V.1 f.) auf und verwahrt sich gegen das Bild des Künstlers als Handwerker, indem er auf die Meistersinger zu sprechen kommt und deren Werken das Künstlerische abspricht. Er stellt damit klar, dass es ihm beim Sonettieren nicht um die reine Formausfüllung geht, wie es bei den Liedern der Meistersinger der Fall war, denn bei den Dichterwettkämpfen der Meistersinger wurde vor allem das regelgerechte Erfüllen der Form bewertet; auf inhaltliche Elemente oder dergleichen wurde weniger Wert gelegt.[212] Im ersten Terzett wiederholt Rarisch noch einmal, dass Kunst, die nicht mit der Mode geht, unbeachtet bleibe, und preist das Sonett im zweiten Terzett schließlich als Gral (VI, V.14). Der Formstrenge entziehe sich nur derjenige, der sie nicht umsetzen könne: Ein Schwächling nur dem Zwang der Form entflieht. (VI, V.12).

Daraufhin entgegnet Klünner noch einmal mit seiner Formauffassung. Er dreht das Argument Rarischs um, indem er die Formstrenge zum Gerüst für die Dichter macht, die sie als Halt brauchen. Eine strenge Form sei aber nur Einschränkung für den persönlichen Ausdruck. Dass Klünner einen freien Umgang mit der Sonett-Form vorzieht, wird noch einmal im letzten Vers deutlich: Transformation [213] heißt letztlich unser Ziel. (VII, V.14).

Dieses von Klünner formulierte Ziel greift Rarisch gleich doppelt an. Er erklärt zum einen: Den Dichtern liegen Ziel und Zwecke fern. (VIII, V.14). Hier klingt ein l’art pour l’art-Gedanke an, Dichtung erscheint als Selbstzweck. Indem Rarisch verallgemeinernd Dichter schreibt, statt die Aussage auf sich persönlich zu beziehen, spricht er Klünner das Dichtersein ab. Zum anderen macht er sich über Klünners Ziel, die Form zu transformieren, lustig, denn nur wer die Form nicht beherrsche, fühle Zwang und sei versucht, sie zu verändern.

In der Erwiderung geht Klünner wieder auf den Zwang der 14 Zeilen ein und bemerkt ironisch, dass Sonettisten ja behaupteten, den Zwang nicht zu fühlen. Im Weiteren kritisiert er die Inhalte, die meist Allgemeinplätze, Lob und Schmähungen enthielten und niveaulos seien; ein Sonett mit einem anspruchsvollen Inhalt sei eher ein Glückstreffer.

Rarisch verkehrt die Kritik Klünners daraufhin ins Ironische. Zentrale Aussage des Sonetts Einem nicht zu Verdreschenden (X) ist aber, dass nur derjenige, der die Form wirklich beherrsche, diese auch sprengen, verändern könne: Wer das Gewicht / der Form nicht trägt, sprengt weder Schloss noch Riegel. (X, V.7 f.).

Im folgenden Sonett erklärt Klünner, missverstanden worden zu sein. Das Sonettieren ist für ihn keine beseelte Poesie, er spielt mit der Form, benutzt sie zum Spaß. Mit Dichtung hat das manchmal Ähnlichkeit (XI, V.14), erklärt er. In diesem Gedicht und der Antwort Rarischs darauf wird ein großer Unterschied in der Einstellung der beiden Dichter besonders deutlich. Das spaßhafte, gelegentliche Sonettieren Klünners steht der ernsthaften Arbeit mit der Form beim Sonettisten Rarisch gegenüber. Für Rarisch ist das Schreiben von Sonetten nicht nur eine Nebenbeschäftigung, der man von Zeit zu Zeit einmal nachgeht. Wohl deshalb entgegnet er scharf im Sonett Einem Bogenmeister (XII), dass Klünner ihn nichts über das Wesen der Poesie lehren könne, und schließt mit einer Veränderung des Klünnerschen Schlussverses: Mit Dichtung hat das [Sonettieren] mehr als Ähnlichkeit. (XII, V.14).

Klünner greift im nächsten Gedicht verschiedene, auch für das Sonett bevorzugte Versarten auf und konstatiert daraufhin, dass das Sonett im 20. Jahrhundert ganz frei (XIII, V.9) sei. Normative Regelfestschreibungen sind seiner Meinung nach also nicht mehr zeitgemäß. Die Einstellung Rarischs dazu erscheint ihm pedantisch und deshalb nicht beachtenswert.

Im nächsten Sonett erwidert Rarisch, dass auch der Todesgesang eines Schwans nur dadurch berührend wirke, dass er einem bestimmten Gesetz folge. Ohne dies würde er niemanden erreichen. Auch darauf entgegnet Klünner mit der Argumentation, dass der „Schwan“ der Vergangenheit angehöre: Er war – / wir sind [214] (XV, V.13,14).

Die nächsten beiden Sonette sind hauptsächlich Formspielerei. Keiner der Autoren argumentiert an dieser Stelle, es wirkt eher wie der Versuch, sich gegenseitig zu überbieten. Aus poetologischer Sicht sind die Inhalte dieser Texte zu vernachlässigen. In der Formanalyse wird allerdings auf sie einzugehen sein.

Ähnlich verhält es sich mit den folgenden beiden Gedichten. Sie enthalten in der Hauptsache persönliche Angriffe. In seinem Schlusssonett erinnert Klünner an die Herkunft der Tenzonen-Tradition aus der Zeit der Trobadors (XX, V.9). Den Unterschied zwischen den Wettkämpfen der Trobadors und der Tenzone zwischen ihm und Rarisch sieht er vor allem darin, dass es in ihrem Fall keinen gekrönten Sieger der Tenzone geben werde (XX, V.10-13). Auch Rarisch greift dieses Motiv in seinem Schlusssonett auf und ernennt den Leser zum Schiedsrichter, der den Streit entscheiden solle: So hört das letzte Wort des Angeklagten, / bevor ihr Leser brecht den Richterstab: (XXI, V10 f.). Wie im Kapitel über die Geschichte der Tenzone erwähnt, war es im Mittelalter nicht unüblich, eine Autoritätsperson wie den Herrscher oder die umworbene Dame als Schiedsrichter für einen Sängerwettstreit anzurufen. Doch gehört wurden die Urteile dann wahrscheinlich nur selten.[215] Auch in diesem Fall bleibt die Sonettdiskussion wohl unentschieden.

Insgesamt wurde im kurzen inhaltlichen Abriss deutlich, dass sich hier zwei sehr unterschiedliche Auffassungen zur Poetik des Sonetts gegenüberstehen. Während Rarisch das Sonettieren als ernsthafte Kunstform hochhält, die sich an strengen Regeln orientieren soll, vertritt Klünner eine freiere Auffassung von der Form, die er vor allem als spielerischen Zeitvertreib versteht. Das Schreiben nach normativen Vorgaben scheint ihm unzeitgemäß.

7.3.3 Formale Analyse
7.3.3.1 Rarischs Sonett-Poetik

Der große Teil der Sonette dieser Tenzone ist sehr regelmäßig und auch regelgerecht gebaut. „Regelgerecht“ soll hier die Einstellung Rarischs zu dieser Gattung beschreiben. Tatjana Andrejuschkina, deren auf Russisch erschienenes Buch über das deutsche Sonett in Auszügen für fulgura.de übersetzt wurde [216], nennt diese Einstellung eine „scharfe“ und erklärt, Rarisch wolle die Tradition des klassischen Sonetts fortführen. Diese Aussagen decken sich mit der Argumentation für die Formstrenge des Sonetts, die ich in der inhaltlichen Zusammenfassung von Hieb- und stichfest nachgezeichnet habe. Genauer lassen sich die von Rarisch angestrebten Sonettregeln aus seinem kleinen Aufsatz Zur Poetik des Sonetts herauslesen, der im Anschluss an die besprochene Tenzone entstand.[217] Rarisch schreibt: „Selbstverständlich ist die formale Perfektion nicht alles, wohl aber die Voraussetzung für alles weitere.“[218] Zu dieser formalen Perfektion gehören für ihn reine Reime und ein alternierendes Metrum. Was die innere Sonettstruktur betrifft, so ist er Verfechter der dialektischen Struktur, die eine Zäsur zwischen den Quartetten und Terzetten setzt.[219] Sprachlich sollten Sonette ungezwungen wirken, Behelfe, wie beispielsweise nachgestellte Adjektive, erwecken laut Rarisch den Eindruck des Ungelenken.[220]

7.3.3.2 Versform

Untersucht man nun die Sonette formal, so finden sich in der Hauptsache Verse im jambischen Pentameter. Dies entspricht der Poetik Rarischs. Jedoch gibt es auch Abweichungen von diesem Grundschema. Gleich im ersten Sonett verwendet Klünner zweimal sechs Hebungen (I, V.1,5). Das ist an sich nicht weiter beachtenswert, wird aber dadurch interessant, dass er diesen „Formverstoß“ selbst in einem späteren Text thematisiert. Das Sonett Argument (XIII) trägt den Untertitel: betr. die sechshebigen Verse 1 und 5 in Sonett I. Dieses Gedicht ist dann auch das erste dieser Tenzone, das starke Abweichungen von der Grundform aufweist: es beginnt sechshebig, verjüngt sich dann bis zu Versen mit nur noch einer Hebung und steigt dann wieder bis zur Sechshebigkeit an.[221] Indem er unterschiedlichste Verse miteinander kombiniert und selbst auf seinen „Fehler“ im ersten Sonett anspielt, ironisiert Klünner das Beharren auf strengen normativen Vorgaben im Sonettbau. Dazu greift er auch noch einige Versarten inhaltlich auf, die regelpoetisch einige Zeit vorherrschend waren.

Anfangs schreibt er über Alexandriner: Alexandriner sind beim Gallier noch im Schwang (XIII, V.1). Der verwendete Vers kann auch tatsächlich als Alexandriner gelesen werden. Dieser war das bevorzugte Versmaß für französische Sonette sowie für deutsche Sonette der Barockdichter, die diesen Vers aus dem Französischen ins Deutsche übertragen haben. Zum Blankvers neigen eher wir Germanen (XIII, V.2) – der zweite Vers spricht vom jambischen Pentameter, der vor allem im Drama der Klassik Verwendung fand. Lässt man außen vor, dass der Blankvers eigentlich ein ungereimter Vers ist, wird mit dem fünfhebigen Jambus auch die Versart der romantischen und klassischen Sonetts beschrieben, an das sich auch Rarischs Dichtung anlehnt. Schließlich spricht Klünner im ersten Quartett noch vom Knittelvers der Meistersinger: indes im Knittelvers den Ahnen / der Meistersang gelang (XIII, V.3 f.). Der Knittelvers zeichnet sich durch Vierhebigkeit aus, so auch der dritte Vers in Klünners Argument. Klünner verknüpft hier also die inhaltliche Nennung von zeitweise vorherrschenden Versformen mit deren – zumindest angedeuteten – formaler Umsetzung.

Doch zeigt er im ersten Terzett, dass die Zeit festgelegter Versformen vorbei ist: Ganz frei / lebt das Sonett / im zwanzigsten Jahrhundert (XIII, V.9-11). Die Verse steigern sich von einer zu drei Hebungen, wodurch gezeigt wird, dass es in der heutigen Zeit keiner festen Regelung mehr bedarf. Wichtiger ist, dass das Sonett lebt (XIII, V.10). Dieses positiv konnotierte Verb steht dem Schwanengesang (XIII, V.7 f.) gegenüber, der als Todesbote [222] – vielleicht auch für das regelkonforme Sonett – deutbar ist.

Rarisch übernimmt im folgenden Sonett genau die Hebungsanzahl von Argument, verkehrt die Aussage des Textes aber ins Gegenteil. Darauf wiederum geht Klünner noch einen Schritt weiter, indem er alle Verse in Einem Melancholiker (XV) auf eine Hebung beschränkt. Auch diese Spielart greift Rarisch in seinem Antwortsonett Einem Seienden (XVI) auf. Klünner reduziert daraufhin noch weiter: das nächste Gedicht, Dem Halbtier (XVII), besteht aus monosyllabischen Versen. Erika Greber vergleicht Monosyllaba mit dem physikalischen Begriff des Atoms, der vor allem auf die Irreduzibilität dieser Einheit hinweist.[223] Klünner verkleinert die Sonettform also auf das absolute Mindestmaß, ohne dabei vollkommen auf einen bedeutungstragenden Inhalt zu verzichten. Sicherlich ist festzuhalten, dass die poetologische Aussage dieses Textes nicht im Inhalt, sondern eben in dieser extremen Formspielerei enthalten ist. Das Sonett ist für Klünner, wie er immer wieder aussagt, eine Textsorte, die zum Spielen anregt, weshalb sich auch hier ein stark spielerisches Element in eine Tenzone mit sonst recht ernsthaftem Inhalt findet.

7.3.3.3 Das spielerische Element

Es wurde schon deutlich, dass es sich bei dieser poetologischen Tenzone um eine relativ ernsthafte Auseinandersetzung im lyrischen Gewand über das Sonett handelt. Dennoch begegnen dem Leser auch hier verschiedene spielerische Elemente, die den Dialog auflockern und auch auf gestalterischer Ebene interessanter machen. Anzumerken sind diese Stellen zum einen, weil sie die poetologischen Grundsätze der Streitenden teilweise unterstreichen, und zum anderen, da das Spielerische – wie in den Analysen anderer Tenzonen schon deutlich wurde – ein nicht zu vernachlässigendes Merkmal dieser Gattung darstellt.

Bei der Analyse einiger dieser Gestaltungsmittel bietet es sich aus oben angegebenen Grund an, nach den Autoren getrennt vorzugehen. Dabei heißt das nicht, dass die bei einem Autor aufgeführten Gestaltungsmerkmale bei dem anderen nicht vorkämen, sondern dass das jeweilige Merkmal von einem Autor qualitativ und quantitativ charakteristischer eingesetzt wird.

Das auffälligste Stilmittel Rarischs sind wohl die Reime. In seinem selbstreflexiven Aufsatz Über eigene Sonette. Betrachtungen eines Unzeitgemäßen [224] konstatiert Rarisch, dass das Sonett vor allem klingen müsse. Eines der wichtigsten Mittel zur Erfüllung dieses Ziels seien Binnenreime.[225] Inwieweit diese als „spielerisch“ gelten können, ist sicher streitbar; unzweifelhaft ist aber die Gestaltungsfreude, mit denen sie ganz besonders an Stellen, deren Aussage betont werden soll, eingesetzt werden. Ein besonders eindrückliches Beispiel findet sich gleich im ersten Antwortsonett Rarischs: […] die Witze, die er reißt, besitzen Geist.[226] (II, V.12). Jedes bedeutungstragende Wort des Verses ist in einen Binnenreim eingebunden. Der Klang der Konsonanten in den Reimwörtern sowie die relative Vokalhöhe unterstützen phonetisch die Schärfe der Aussage.

Ganz ähnlich funktioniert folgender Vers aus Dem Kunstgewerbler: […] und jene Gunst, die man der Kunst entzieht, […] (VI, V.10). Durch den Binnenreim wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die gereimten Begriffe gelenkt. dass sie miteinander reimen, stellt eine phonetische Verbindung zwischen ihnen her, die man auch leicht auf die semantische Ebene übertragen könnte. Genau dies wird aber durch das verwendete Verb und den nachfolgenden Konditionalsatz [227] umgekehrt.

Dass Klünner die Variationen in der Verslänge mit dem Text Argument (VIII) in diesem Streitgedicht initiierte, wurde schon erörtert. In diesem Sonett findet sich aber außerdem noch eine besondere Form des Reims, die in dieser Tenzone nur in den Sonetten vorkommt, deren Verse in der Silbenzahl vom festgelegten Grundschema abweichen, und zwar der gebrochene Reim. Unter gebrochenem Reim versteht man einen Endreim, bei dem die Versgrenze im Reimwort liegt. Klünner realisiert die Reimart zuerst, indem er ein Kompositum auf zwei Verse verteilt:

 

bis reine Rhythmik zwang
die Reimgalanen
zum Schwanen-
gesang. (XIII, V.5-8)

Auch diesen spielerischen Umgang mit dem Reim spitzt er noch weiter zu. Im Sonett Dem Halbtier trennt er nicht mehr Komposita nach ihrer semantischen Wortgrenze, sondern rein nach der Silbengrenze:

 

Zwo-
mal
Mo-
ral? (XVII/1-4)

Zwar steht Rarisch auch hier Klünner in nichts nach, er geht auf diese Spielart genauso ein wie auf die variierten Verslängen, doch sind beide Elemente hier auf Klünner zurückzuführen. Diese Beobachtung wird in gewisser Weise auch dadurch unterstützt, dass Rarisch die monosyllabische Form nicht übernimmt, sondern in der Antwort auf Dem Halbtier wieder zur konventionellen Sonettform zurückkehrt.

Das Spielerische kommt noch an einigen anderen Stellen zum Tragen, doch soll nur noch eine Klang- und Wortspielerei Klünners herausgegriffen werden. Rarisch konstatiert in Einem Seienden: ich Tier / zahl barst (XVI, V.10 f.). Den eigentümlichen Superlativ barst greift Klünner in seinem Folgesonett auf, zum einen als direkte Übernahme und zum anderen, indem er den Vokal verändert und damit die Form von bersten in der zweiten Person Singular, birst (XVII, V.13), erhält. Eine witzige Note erhält dies vor allem dadurch, dass er dieses Verb noch einmal in Dem Mitspieler aufgreift: Wie rasch du barstest! […] (IXX, V.1). Durch diese phonetische Verschlingung zieht er die Superlativverwendung Rarischs ins Lächerliche und nutzt sie, um seinem Ansinnen, mit dem Sonett zu spielen, Ausdruck zu verleihen. Deutlich wird das nicht zuletzt in demselben Sonett, wenn Klünner mutmaßt: Vielleicht sind die Tiraden Schamgefauch, / weil ich dich jüngst zum Spiel konnt überlisten? (IXX, V.12 f.).

Das spielerische Element bleibt also auch in dieser Tenzone nicht außen vor, auch wenn man eine unterschiedliche Ausprägung bei den Sonettierenden feststellen kann. Während Rarischs Gestaltungsmittel in dieser Hinsicht zurückhaltender beziehungsweise eher als Reaktionen einzuschätzen sind und man seinen Texten eher Freude an der Ausgestaltung anmerkt als am Spiel, treibt Klünner die spielerischen Form- und Sprachvariationen viel stärker voran.

7.3.4 Elemente der Dialogizität

Bei der Analyse einer Tenzone darf ein weiterer, sehr wichtiger Punkt nicht unbeachtet bleiben, nämlich die Dialogizität der Texte. Deshalb werde ich im Folgenden klären, mit welchen Mitteln sich die Sonette jeweils aufeinander beziehen, was ihre Dialogstruktur ausmacht. Dabei wird den einzelnen Argumenten weniger Beachtung geschenkt, da diese im kurzen inhaltlichen Abriss schon Erwähnung gefunden haben. Stattdessen werde ich auffällige sprachliche Mittel, Bildsprache und formale Kriterien analysieren, die den Dialog-Charakter der Tenzone verdeutlichen, wenn sie nicht schon in den vorangegangenen Kapiteln behandelt wurden.

7.3.4.1 Überschriften und Wortwahl

Ein Gestaltungsmittel, das unmissverständlich zeigt, dass hier eine Diskussion in Gedichtform geführt wird, sind die verwendeten Überschriften, da in diesen meist eine Art Widmung enthalten ist. Im Dativ wird angegeben, an wen sich das folgende Gedicht richtet. Klünners Auftaktsonett hat den Titel Den Sonettisten. Dieses noch unbestimmte Ansprechen richtet sich noch nicht an eine Person, lässt sich aber wohl als persönliche Ansprache an alle verstehen, die sich eben dieser Personengruppe zugehörig fühlen. So auch Klaus M. Rarisch, der mit einem ebenso betitelten Sonett antwortet. Die Verwendung desselben Titels ist als intertextueller Bezug auf Klünners Gedicht zu verstehen und verdeutlicht, dass es sich um eine direkte Antwort darauf handelt. Das folgende Sonett Klünners ist das erste des Streitgedichts, dessen Überschrift sich persönlich an den Gegenpart wendet: Dem Sonettisten (III) – damit ist unzweifelhaft Rarisch angesprochen. Rarisch verallgemeinert mit dem nächsten Titel noch einmal, indem er Den Sonettkritikern (IV) schreibt. Vom 5. bis einschließlich 12. Sonett und vom 15. bis zum 19. Sonett enthalten alle Überschriften eine Art Widmung, die jeweils aus einer Anspielung auf das vorangegangene Sonett besteht. So heißt das sechste Gedicht beispielsweise Dem Kunstgewerbler, womit Rarisch darauf eingeht, dass Klünner das Sonett im fünften Sonett ein renaissancene[s] Kunstgewerbe (V, V.10) nennt.

Die Überschriften sind hier also ein nicht zu vernachlässigendes Zeichen der Dialogizität. Durch ihre Bezugnahme auf die Texte des jeweils anderen vermitteln die Dichter, dass sie aufeinander, auf die Texte des anderen direkt, reagieren.

Ein ähnliches Mittel, um eine Zusammengehörigkeit zwischen den Sonetten herzustellen, ist die Übernahme von einzelnen Wörtern. Da diese aber meist in einen größeren Kontext wie beispielsweise Metaphern eingebunden sind oder eine besondere Funktion als Reimwörter übernehmen, sollen diese an gesonderter Stelle näher betrachtet werden.

7.3.4.2 Reime

In der Tenzone Hieb- und stichfest wird nicht mit einem festen Grundgerüst von zu übernehmenden Reimen gearbeitet. Selbst das Reimschema variiert.[228] Dies ist nicht zuletzt mit der Entstehung des Gedichtstreits zu erklären. Die Diskussion entspann sich ausgehend von einem kritischen Sonett, es handelt sich nicht um ein geplantes Gedichteduell, es gibt keine vorher festgelegten Regeln über die Form.

Trotzdem finden sich einige Reime, die übernommen werden. Auffällig ist, dass bis auf den schon angesprochenen Fall der Verwendung von barst (XVI, V.11; XVII, V.9) und eine weitere Ausnahme [229] grundsätzlich Rarisch derjenige ist, der ein Reimwort seines Gegenübers aufnimmt und verarbeitet. Dies ist meist der Fall, wenn auf den Wörtern ein besonderes semantisches Gewicht liegt beziehungsweise sie verwendet werden, um die Argumentation des anderen aufzugreifen und zu entkräften. Nur zwei Beispiele sollen betrachtet werden. Klünner reimt in den Terzetten des fünften Sonetts, Dem Igelspeier, folgendermaßen:

 

Was hat das denn mit dem Sonett zu tun,
mit jenem renaissancenen Kunstgewerbe?
Die Form ward museal und heuchlerisch.

Kollegen, lassen wir die Toten ruhn! (V, V.9-12)

Rarisch antwortet in Dem Kunstgewerbler:

 

Was hat das Schreiben denn mit Kunst zu tun,
wenn man es als Gewerbe will betreiben?
Der Schuster soll bei seinem Leisten bleiben,
soll ledern uns bestiefeln und beschuhn!

Laß doch Hans Sachs und seine Meister ruhn […] (VI, V.1-5)

Die Reimwörter tun und ruhn werden direkt übernommen, allerdings in einen anderen Zusammenhang gebracht. Während Klünner fragt, was Rarischs Argumente denn mit dem Thema der Tenzone zu tun hätten, fragt dieser im Gegenzug, was Klünners Auffassung, Kunst mit Handwerk gleichzusetzen, überhaupt mit dem Schreiben zu tun habe. Während Klünner vorschlägt, das Sonett als tote Form ruhen zu lassen, ruft Rarisch dazu auf, die Meistersinger – und im übertragenen Sinne die Kunstauffassung, die er Klünner unterstellt, ruhen zu lassen.

Noch auffälliger ist eine Reimübernahme aus Argument (XIII) in Der Schwan (XIV), da hier nicht nur die Reime identisch übernommen werden, sondern auch an der selben Stelle eingesetzt werden wie im Bezugstext:

 

Ganz frei
lebt das Sonett
im zwanzigsten Jahrhundert.

Und mir ist’s völlig einerlei,
was ein Pendant daran zu nörgeln hätt. (XIII, V.9-12)

Rarisch verwendet die Reime frei und einerlei in ähnlicher Weise, entwertet die Aussage Klünners aber mit einem Gegenargument:

 

Wär frei
das dunkle Singen
vom eigenen Gesetz,

so bliebe es uns einerlei
und könnte keine Seele je bezwingen, […] (XIV, V.9-12)

Regel- und Formfreiheit werden also in beiden Gedichten unterschiedlich konnotiert. Während Klünner konstatiert, dass das Sonett die strenge Regelhaftigkeit überlebt hat, legt Rarisch diese der Wirkung des dunkle[n] Singen[s] (XIV, V.10) zugrunde. Während Klünner feststellt, dass ihm die formalistische Kritik diesbezüglich nicht erreiche, vermutet Rarisch, dass Dichtung ohne ein ihr zugrunde liegendes Gesetz den Rezipienten nicht erreichen könne. Auch einerlei wird also in einem deutlich verschiedenen Kontext verwendet. Während in beiden Fällen bei Klünner Aussagen vorherrschen, verkehrt Rarisch diese in gewisser Weise zu Möglichkeiten, deren Funktionieren er aber negiert.

Über die Reime – genauer über die Verwendung derselben Reime in einigen Fällen in anderen, eher dem zuvor Geschriebenen widersprechenden Kontexten – wird ebenfalls die Dialogizität des Gedichtstreits verstärkt. Indem Schlagwörter, auf denen durch die Sonderstellung als Endreim ein besonderes Gewicht liegt, übernommen werden, kann die Argumentation des Gegenübers aufgegriffen und für die eigene Gegenargumentation genutzt werden.

7.3.4.3 Bildsprache

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Bildsprache in den vorliegenden Sonetten. Es finden sich einige auffällige Metaphern, die von beiden Dichtern verwendet werden. Auch dabei wird wird deutlich, dass sie meist aufgegriffen werden, um Gegenteiliges auszudrücken.

Eine der Hauptmetaphern in den ersten drei Sonetten ist die des Schießens und des Schützenvereins. Beide Dichter verwenden dieses Bild pejorativ, doch unterscheidet sich die Bezugnahme jeweils. Verbunden mit diesem Bildkomplex sind Literaturanspielungen. Kein Orpheus nimmt an diesem Spiel mehr teil (I, V.11) und […] Old Orpheus oder wie er heute heißt (II, V.10) erinnern, wie schon an anderer Stelle bemerkt, sowohl an die Figur aus der griechischen Mythologie, als auch an Rainer Maria Rilke und seine Sonette an Orpheus. Weiterhin spielt Rarisch auf Günter Grass an: […] und den zum Schützenkönig sich erkiest, / der Blech betrommelt und der Glas zerschreit (II, V.3 f.). Auch dieser Literaturbezug wird aufgenommen, indem Klünner mit derselben Bildsprache – nämlich der Verwendung von Blech und Gras (III, V.7) – antwortet.

In den folgenden Sonetten Den Sonettkritikern (IV) und Dem Igelspeier (V) ist eine Tiermetapher, die sich an das Märchen vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel anlehnt, vorherrschend. Anzunehmen ist, dass Rarisch mit dieser Tiermetapher auf Buckel meiner Katze (III, V.13) in Klünners vorangegangenem Sonett antwortet.

Das Thema Kunstgewerbe, das Klünner in Dem Igelspeier beginnt (V, V.10) und Rarisch daraufhin übernimmt, wurde schon an anderer Stelle angesprochen. Daran schließt dann Rarisch mit einer Gralsmetapher an (VI, V.14), die wiederum Klünner in Parzival, dem Reinen (VII) weiterverarbeitet.

Zu erläutern, wie beinah jede Metapher in diesem Sonettstreit aus einer anderen hervorgeht, würde zu weit führen. Allerdings wird an den wenigen Beispielen deutlich, dass die Streitenden auch in der Bildsprache die Texte des anderen aufnehmen und darauf reagieren.

Als Sonderform dieses dialogischen Elements kann der Einsatz von direkten oder indirekten, leicht abgewandelten, Zitaten gelten, da diese noch auffälliger sind und meist auch graphisch durch den Einsatz von Anführungszeichen gekennzeichnet sind. Direkte, gekennzeichnete Zitate findet man in den Sonetten Einem Dreschflegel und Einem nicht zu Verdreschenden. In Einem Dreschflegel zitiert Klünner im ersten Vers den letzten Vers des vorausgegangenen Gedichts: Den Dichtern liegen Ziel und Zwecke fern (VIII;V.14; IX, V.1). Im Gegenzug verwendet Rarisch einen Teil des letzten Verses aus Einem Dreschflegel dann für den ersten Vers in Einem nicht zu Verdreschenden: Da schau nur in den Spiegel! (IX, V.14; X, V.1).

Insgesamt wird also deutlich, dass sich in dieser Tenzone viele formale und inhaltliche Kriterien aufeinander beziehen, obwohl sie keinen vorher festgelegten Regeln folgt, sondern ungeplant durch den Anstoß des ersten Sonetts entstand. Diese Feststellung leitet nicht zuletzt zu der Frage über, wie dieses Streitgedicht in die Reihe der anderen besprochenen Texte und in Bezug auf den Ursprung der Gattung eingeordnet werden kann.

7.3.5 Einordnung der Tenzonenart

Hieb- und stichfest lässt sich ziemlich eindeutig als eine persönliche Tenzone einordnen. Schon die Entstehungsgeschichte deutet darauf hin. Auf eine Meinungsäußerung, die laut eigener Angabe tatsächlich Lothar Klünners Einstellung zum Sonett wiedergibt [230], antwortet Klaus M. Rarisch mit seiner persönlichen, Klünner entgegengesetzten Ansicht. Zwar geht es vor allem um ein sachliches, poetologisches Thema, doch verlagert sich der Streit auch an einigen Stellen ins Persönliche. Es finden sich Angriffe und Beleidigungen.

Das Streitgespräch war nicht geplant und fußte nicht auf bestimmten, festgelegten Regeln wie die sehr spielerischen Tenzonen, wie sie beispielsweise zwischen Rückert und Uhland oder im Tunnel über der Spree gepflegt wurden. Es handelt sich hier um einen Streit in der vollen Wortbedeutung. Trotzdem finden sich auch hier, wie in der formalen Analyse gezeigt wurde, einige vor allem sprach-spielerische Elemente, wie die Nachahmung der Form bei den Sonetten, die vom vorherrschenden Formgebrauch abweichen, die Häufung von Binnenreimen oder die Verwendung gebrochener Reime.

8 Zusammenfassende Schlussbemerkung

Die Ausführungen und Analysen, die ich in dieser Arbeit über die Tenzone vorgestellt habe, zeigen eines ganz deutlich: Die Geschichte der Tenzonendichtung endet nicht etwa, wie Hettche konstatiert, im 19. Jahrhundert mit dem literarischen Verein Tunnel über der Spree.[231] Im Gegenteil – die Gattung wird in all ihren Ausformungen aktuell in verschiedenen Kreisen gepflegt, sowohl von professionellen Autoren wie auch in diversen Laien-Internetforen. Freilich hat sie sich stetig verändert. Während vor allem im 19. Jahrhundert das Streitgedicht noch der Tradition des mittelalterlichen Partimen nahestand, wobei sich zwei oder auch drei Dichter in einem geplanten Wettkampf nach festgelegten Regeln um ein meist abstraktes Thema stritten, wird die Form heute eher zum persönlichen Gedankenaustausch verwendet.

Doch nicht nur die thematische, auch die formale Gestaltung unterscheidet die heutigen von den älteren Tenzonen. Zwar gibt es verschiedene Ausformungen des Dichterwettstreits, aber die Tendenz der jüngeren Tenzonen zeigt eindeutig eine Vorliebe für das Sonett. Man kann also unterschiedliche Traditionsbezüge ausmachen. Während das 19. Jahrhundert besonders auf die Partimen referierte, erinnert die heutige Tenzonendichtung eher an das Prinzip des persönlichen Streitgedichts, speziell das italienischer Prägung, wie die Präferenz für das Sonett zeigt.

Die Gattung wurde von der Forschung bisher weitestgehend ignoriert; vor allem deshalb, weil ihr kaum literarischer Wert beigemessen wurde. Meine Analysen legen jedoch gerade bei vielen der neueren Tenzonen eine solche gestalterische Freude durch Reimverkettungen, Klangspielereien und ähnliches offen, dass dieses Urteil zumindest für die jüngste Tenzonenproduktion nicht aufrecht erhalten werden kann.

Doch auch als literatur-soziologisches Phänomen gebührt der Tenzone als Produkt literarischer Geselligkeit Aufmerksamkeit, weshalb es lohnend ist Themen und Entstehungshintergründe zu beleuchten. Gerade die ungeplanten Tenzonen geben Aufschluss darüber, welche Themen in literarischen Kreisen diskutiert werden, da sie nur entstehen, wenn ein Text zur Beantwortung oder zum Widerspruch reizt.

Diese Arbeit kann einen ersten groben Überblick über die Tenzonendichtung und auch ihr verwandte Phänomene geben, allerdings nur in Schlaglichtern und stark auf die jüngste Tenzonenproduktion fokussiert. Für eine ausführliche Aufarbeitung der Geschichte der Gattung wäre es nötig, das häufig ungedruckte Material, wie beispielsweise weitere Tenzonen aus dem Tunnel über der Spree oder anderen Dichtergesellschaften, zu sichten und auszuwerten, was im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war.

Zu Ende ist die Geschichte der Tenzone in der deutschsprachigen Literatur sicher noch nicht – es bleibt allerdings abzuwarten, ob und wann die Gattung wieder an Aktualität verliert und eine Phase beginnt, in der man wieder das vorläufige Ende der Tenzonen-Dichtung ausrufen kann.

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Anmerkungen

[197] Eine kurze Biografie von Wohlleben mit genaueren Angaben zu seinen Tätigkeitsfeldern findet sich auf www.fulgura.de/etc/kapitel2.htm.
[198] Kommentare zum Sonett „Vorsicht … Leben!“ von Daniel Goral. http://www.fulgura.de/sonett/leben5a.htm.
[199] Klünner/Rarisch: Hieb- und stichfest. Vgl. zu dieser Tenzone die Interpretation in Kap. 7.3 dieser Arbeit.
[200] Koeppel/Rarisch: Um die Wurst.
[201] Vgl. zu diesen Tenzonen Kap. 6.2.3.1 und 6.2.3.3 dieser Arbeit.
[202] Vgl. dazu nachfolgend im Kap. 7.3 dieser Arbeit.
[203] Klünner/Rarisch: Hieb- und stichfest.
[204] https://www.fulgura.de/extern/md/md40.html.
[205] Klünner, Lothar: Postscriptum. In: https://www.fulgura.de/extern/md/md40.html. Letzter Aufruf am 12.7.2009.
[206] Klünner/Rarisch: Hieb und stichfest.
[207] Relativ ausführlich stellt Welti den Verlauf des Streits über das Sonett dar. Welti, Heinrich: Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung. Leipzig 1884. S. 197-207.
[208] Rarischs Verhältnis zu Grass ist extrem negativ, was sich beispielsweise an Rarischs Streitschrift Günter Grass als Plagiator? zeigt.
[209] Schindelbeck, Dirk: Die Veränderung der Sonettstruktur von der deutsche Lyrik der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart. Frankfurt a. M. 1988. S. 47.
[210] Ebd. S. 46.
[211] Ebd. S. 57.
[212] Liede: Spiel. S. 58. Zur Poetik der Meistersinger vgl. auch: Nagel, Bert: Der deutsche Meistersang. Heidelberg 1952. S. 26-38.
[213] Hervorhebung im Original kursiv.
[214] Hervorhebungen im Original kursiv.
[215] Vgl. dazu Kap. 3.2 dieser Arbeit.
[216] Andrejuschkina, Tatjana: Entwicklungsstufen des deutschen Sonetts [übersetzter Titel]. Moskau 2006. Auszüge übersetzt von Boris Kontorowski: https://www.fulgura.de/autor/tatjana_a/dt_sonett.htm.
[217] Rarisch: Poetik.
[218] Ebd. S.52.
[219] Ebd. S.53.
[220] Ebd. S.53.
[221] Genaue Hebungszahl geordnet nach Versen: 6,5,4,3 3,2,1,1 1,2,3 4,5,6.
[222] Zur Schwanensymbolik vgl. Rösch, Gertrud Maria: Schwan. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar 2008. S. 336-337. Hier: S. 336.
[223] Greber: Textile Texte. S. 444.
[224] Rarisch, Klaus: Über eigene Sonette. Betrachtungen eines Unzeitgemäßen. In: Ders.: Die Geigerzähler hören auf zu ticken. 99 Sonette mit einem Selbstkommentar. Hamburg 1990.
[225] Rarisch: Über eigene Sonette. S. 112, 114.
[226] Hervorhebungen durch mich.
[227] Das erste Terzett lautet zusammenhängend: Dem Handwerk gönnen wir den goldnen Boden / und jene Gunst, die man der Kunst entzieht, / mißachtet sie das Karussell der Moden. (VI, V.9-11).
[228] Die Terzette sind in unterschiedlichster Form gereimt. Die Quartette bestehen meist aus zwei umarmenden Reimen. Davon abweichend verhalten sich die Reime in den Quartetten der Sonette, die nur einhebige bzw. monosyllabische Verse enthalten. Diese sind im Kreuzreim verfasst (XV, XVI, XVII).
[229] Klünner übernimmt das Reimwort Schwan aus Rarischs Der Schwan in sein Folgesonett Dem Melancholiker (XIV, V.1; XV, V.1).
[230] Klünner, Lothar: Postscriptum.
[231] Hettche: Tenzonendichtung. S. 35.
 

Eingang

Punkt 1 – 4

Punkt 5 – 5.1.4

Punkt 5.2 – 5.5

Punkt 6 – 6.1.6

Punkt 6.2

Punkt 7 + 8

Literatur


Rechte bei Tanja Holzinger