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Tanja Holzinger:

Die Tenzone in der neueren deutschen Literatur

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Punkt 1 – 4 

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Punkt 5.2 – 5.5 

Punkt 6 – 6.1.6 

Punkt 6.2 

Punkt 7 + 8 

Literatur 

 

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6.2


6.2 Tenzonen in Sonett-Form
6.2.1 Sonette ohne Reimübernahme

Wenn ein Streit, eine Diskussion oder Unterhaltung in Gedichten heute an bestimmte Formmerkmale gebunden ist, so wird meist das Sonett verwendet. Ein Großteil dieser Tenzonen weist sonst kaum formale Kriterien auf, die streng in allen Einzeltexten eingehalten werden, weshalb ungereimte Tenzonen in Sonettform dominieren.[158] Für eine formale Analyse sind diese Texte nicht besonders interessant. Jedoch ist es unabdingbar, nach einem Erklärungsansatz für ihr gesteigertes Vorkommen zu suchen. Nicht zuletzt scheint mir die meist inhaltliche Motivation, aus der heraus diese Tenzonen entstehen, eine Begründung zu bieten. Sie sind den ungeplanten Tenzonen zuzurechnen, werden also meist aus dem Wunsch, einer Gedichtaussage zu widersprechen, geschrieben.[159] Außerdem ist die Dynamik dieser relativ frei verfassten Tenzonen nicht zu unterschätzen, da es leichter scheint, ohne spezielle Vorgaben auf einen Text zu antworten. Die in den „Meiendorfer Drucken“ erschienene Tenzone Um die Wurst [160] liefert dafür ein eindrückliches Beispiel. Sie besteht aus 73 Streitsonetten, einem Prolog und sieben weiteren Einreden. Dies zeigt, wie produktiv die Gattung ist, gerade wenn auf formale Einschränkungen verzichtet wird. Interessanter sind trotzdem die Streitgedichte in Sonettform, bei denen die Beteiligten nicht nur eine bestimmte Gedichtart verwenden, sondern das spielerische und das dialogische Element der Gattung durch die Übernahme formaler Kriterien, besonders des Reims, betonen, weshalb im formalen Analyseteil der Sonettform mehr Raum als den formal freieren Tenzonen zugestanden wird.[161]

6.2.2 Exkurs: Bouts-rimés und die Nähe zur Tenzone

„Tenzonen sind die Bouts-rimés unserer Zeit“, konstatiert Greber in ihrer Arbeit Textile Texte.[162] Diese Aussage rührt nicht zuletzt von der relativ weit gefassten Definition der Gattung her, die sie aufstellt. Denn sie schließt nicht nur das eigentliche Gesellschaftsspiel ein, das ab dem 17. Jahrhundert vor allem in Frankreich gepflegt wurde [163], sondern zum Beispiel auch Antwortgedichte, die die Reime des Vorlagengedichtes aufnehmen.[164] Wegen dieser Nähe soll auch hier kurz auf die Bouts-rimés, speziell als Gesellschaftsspiel, eingegangen werden.

Bouts-rimés in ihrer Grundform sind also als Gedichte zu verstehen, die auf vorgegebene Reime verfertigt werden. Den Ursprung nimmt die Gattung im französischen Barock, wird dann aber auch in Deutschland als Gesellschaftsspiel gepflegt. Dazu finden sich Verweise aus verschiedenen Epochen. Liede erwähnt ihre Verbreitung im Barock und auch Greber weist in diesem Zusammenhang auf Harsdörffers Frauenzimmergesprächspiele hin.[165] Auch im Biedermeier gab es diese Form des Gesellschaftsspiels,[166] und selbst über Goethe, der niemals Tenzonen verfasste oder selbst nach vorgegebenen Reimen dichtete, ist eine Episode bekannt, in der er seinen Begleitern Reime aufgab, nach denen ein Gedicht verfasst werden sollte.[167] Weiterhin finden sich kleine Erzählungen über das Spiel mit bouts rimés, beispielsweise in den Memoiren Castellis.[168]

Wichtig ist dieser kleine Exkurs bezüglich der Tenzone, um auf die Ähnlichkeiten zwischen diesem Spiel und den Texten hinzuweisen, die in dieser Arbeit besprochen werden, die bei Greber sogar zu einer Gleichsetzung führen bzw. dazu, dass einige dieser Dichterwettstreite wohl auch unter dem Begriff Bouts-rimés subsumiert werden könnten. Eine interessante Gemeinsamkeit ist das Sonett als bevorzugte Form. Schon im ältesten Lexikon-Eintrag, den Greber zitiert, wird das Sonett als Beispielform für das Verfassen von Bouts-rimés genannt.[169] Auch Kemp erwähnt die Bouts-rimés als Gesellschaftsspiel und weist darauf hin, dass sie häufig in Sonettform verfasst wurden.[170] Zuletzt sollte auch nicht übersehen werden, dass dieses literarische Gesellschaftsspiel auch heute noch gepflegt wird, so findet sich beispielsweise in einem Sonett-Forum im Internet eine Rubrik „Spielkram: Sonette nach aufgegebenen Endreimen“.[171] Das Prinzip ist, dass derjenige, der ein Sonett nach vorgegebenen Endreimen verfasst hat, die nächste Aufgabe stellen, also neue Endreime vorgeben darf.

Weiterhin darf nicht außer Acht gelassen werden, welche Funktionen laut Grebers weiter Gattungsdefinition die Bouts-rimés erfüllen [172], denn auch diese lassen sich in den hier behandelten Texten wiederfinden. Auf das Spielerische und den Wettkampfcharakter vieler Tenzonen – seien sie nun als Sonette oder in anderen Formen verfasst – wurde schon und wird noch mehrfach hingewiesen. Eine andere Funktion ist nach Greber die Parodieabsicht. Besonders deutlich wird diese in den Fußball-Sonetten Faßbenders auf Rilkes Sonette an Orpheus.[173] Außerdem dienen die Bouts-rimés Greber zufolge der Normierung und Tradierung einer Gattung. Bezogen auf das Sonett ist hier vor allem die Tenzone Hieb- und stichfest von Klaus M. Rarisch und Lothar Klünner zu nennen, die in einem der folgenden Kapitel noch ausführlich als poetologische Tenzone besprochen werden wird.[174] In ihr diskutieren die Streitenden zum einen in Sonetten, die entsprechend dem Petrarca-Schlegel-Schema streng normiert erscheinen, zum anderen in sehr freien Formen des Sonetts. Streitgedichte wie diese können also sowohl zur Tradierung eines alten Musters beitragen, als auch die Möglichkeiten der Normbrechung und dadurch vielleicht Normveränderung oder gar -verlust im Sinne einer offenen Gattungspoetik aufzeigen.[175]

Am auffälligsten ist aber das Kriterium der Reime. Bouts rimés sind aufgegebene Reime, nach denen ein Gedicht verfasst wird. Dies kann auch auf Grundlage eines anderen Gedichts geschehen, wie beispielsweise das von Liede gegebene Beispiel aus dem Barock von Satz und Gegensatz zeigt. Dabei entstehen zwei Gedichte, ein Satz und der Gegensatz, der die Reime des Satzes aufgreift und sein genaues Gegenteil ausdrücken soll.[176] Dieses Beispiel für Bouts-rimés ist einigen der hier vorgestellten Tenzonen in seiner Machart so ähnlich, dass es kaum möglich scheint, eine Trennlinie zu ziehen, weshalb die Erweiterung des Gattungsbegriffs von Bouts-rimés durch Greber einleuchtet. Denn die Tenzonen, bei denen die Reime des ursprünglichen Gedichts direkt übernommen werden, funktionieren auf ganz ähnliche Weise. Allerdings ist gerade bei den modernen Tenzonen dieser Art zu beobachten, dass sie eher antwortend funktionieren und weniger darauf ausgelegt sind, das genaue Gegenteil auszusagen. Trotzdem ist die Nähe so groß, dass sie diesen kleinen Exkurs rechtfertigt, bevor im Folgenden Tenzonen in Sonettform besprochen werden, bei denen die Reime des vorangegangenen Textes aufgegriffen werden.

6.2.3 Sonett-Tenzonen mit Reimübernahme

Betrachtet man die Tenzonen, bei denen der Antwortende Reime des Ausgangstextes aufgreift, werden einige Unterschiede in der Art und Weise der Reimübernahme deutlich. Einige Beispiele, welche Rolle der Reim bei Dichterwettstreiten und -dialogen spielen kann, wurden schon im Kapitel über die nicht in Sonettform verfassten Tenzonen analysiert. An dieser Stelle behandle ich moderne Tenzonen aus den letzten Jahren, die aus Sonetten bestehen und bei denen der Reim und seine Weiterverwendung von Text zu Text zu den wichtigsten gestalterischen Mitteln gehört. Als Beispiele dienen hierbei Tenzonen aus dem Kreis um fulgura.de und aus dem Sonett-Forum.[177]

6.2.3.1 Direkte Übernahme aller Reime

Die Art, die dabei den Bouts-rimés am nächsten steht, ja sogar unter diesen Gattungsbegriff fallen kann, sind Tenzonen, bei denen die Reime des Ausgangstextes direkt, also in derselben Anordnung und ohne Abweichung, übernommen werden. Formal gesehen entsprechen diese Streitgedichte der Tradition der mittelalterlichen italienischen Tenzone.[178]

Ein interessantes Beispiel hierfür ist die Mauerlos-Tenzone [179], die sich aus dem Sonett Mauerlos von Klaus M. Rarisch durch Antworten von Albrecht Barford, einem Anonymus und Robert Wohlleben ergab. Der Ursprungstext lautet folgendermaßen:

 

Mauerlos

Kennst du das Land, wo alle Biblio-
thekare von der Bücherleiter fallen?
Wo Rufe „Feuer her!“ wie Donner hallen
(es brüllt die Feuerwehr unìsono),

wo ausgeländert wird der letzte Zoo,
um Blondes nur beamticht zu bestallen.
Wo’s schicklich, zu Silvester nur zu knallen
(Raketen detonieren anderswo).

Kennst du das Land, das mauerlos geteilte?
Wo Langeweile niemals lange weilte,
weil ständig allseits neuer Aufschwung droht?

Kennst du das Land, das trauerlos gestylte?
Wo man das Recht zu Haben nur ergeilte?
Du ahnst: Das ist der Nibelungen Not.

Schon der erste Vers dieses Sonetts lässt durch den auffälligen gebrochenen Reim ein gewisses auf den Reimen liegendes Gewicht erkennen. Auch die Entlehnungen aus dem Italienischen (Mauerlos I, V.4) beziehungsweise dem Englischen (I, V.12) unterstützen diese Annahme.

Barford greift nicht nur die Eingangsfrage auf, indem er sein Sonett Mauerlos II mit der Antwort Ich kenn das Land (II, V.1) beginnen lässt, sondern übernimmt auch alle Reime Rarischs. Dabei wiederholt er keines der Reimwörter Rarischs bis auf stallen (II, V.7), das im Ausgangstext in der Form bestallen (I, V.6) vorkommt. Wie Wohlleben in seinem Kommentar zu der Tenzone anmerkt, greift der Anonymus ebenfalls sowohl Thema als auch Reime der andern beiden Texte auf, ohne dabei ein Reimwort zu wiederholen.[180] Wohlleben selbst steuert noch ein viertes Sonett bei, in dem er auch versucht, die Reime beizubehalten, die Reimwörter aber zu vermeiden. Dies gelingt ihm auch beinahe. Schnell wird hier deutlich, dass vor allem dieses „Spiel“ mit den Reimen, wie es Wohlleben auch bezeichnet, im Mittelpunkt dieser Tenzone steht. Vor allem Wohllebens Beitrag, der sich nicht mehr auf den Inhalt der anderen Sonette bezieht, zeigt dies.

Aus diesem Grund bietet es sich an, die Reime der Gedichte genauer zu betrachten. Dabei finden sich drei gebrochene Reime, jeweils einer in jedem der ersten drei Sonette. Interessanterweise zeigt es sich, dass Barford und der Anonymus beim Übernehmen der Reime sogar so weit gehen, dass sie den gebrochenen Reim an derselben Stelle platzieren wie Rarisch im ersten Sonett. Barford reimt auf Froh- / sinn (II, V1 f.), der anonyme Dichter auf ro- / ten (III, V1 f.). Einen solchen gebrochenen Reim verwendet Wohlleben nicht.

Auffällig sind im Weiteren die Entlehnungen aus Fremdsprachen und dem dialektalen Sprachgebrauch. So werden die Wörter Tableau (II, V.8), entzwo (III, V.4), en gros (III, V.8), Behemoth (III, V.14), Chaillot (IV, V.1), Margot (IV, V.4), morceau (IV, V.5) und Navers Soot (IV, V.14) als Reimwörter benutzt. Auch andere, ungewöhnliche oder seltene Wortverwendungen [181] weisen auf die Reimsuche hin und zeigen das spielerische Element in dieser Tenzone, das durch die Reimübernahme deutlich hervorsticht, obwohl die ersten beiden Beiträge einen kritischen Inhalt zu politischen und gesellschaftlichen Themen transportieren.

Genau dieser ernste Grundton und seine Verbindung mit den auffälligen Reimen waren wohl der Grund für die Antwort des Anonymus. Der Untertitel seines Beitrags lautet: Parodisches zu 2 trüben Sonetten. Die parodistische Absicht rückt dieses Gedicht besonders in die Nähe der Bouts-rimés, wenn man noch einmal auf die von Greber aufgestellten Funktionen der Gattung zurückgreift, zu denen auch die Parodieabsicht zählt.[182]

6.2.3.2 Terzett-Reime als Quartett-Reime

Neben dieser direkten Art, alle Reime zu übernehmen, gibt es auch noch andere Möglichkeiten, die vom Ausgangstext vorgegebenen Reime zu verarbeiten. Nach einem sehr dynamischen Grundprinzip, bei dem von der direkten Reimübernahme abgewichen, aber trotzdem großen Wert auf die Übernahme von Reimen gelegt wird, ist die Tenzone Das ganze Bild zwischen ZaunköniG und Don Quixote aufgebaut, die im Internetportal Sonett-Forum veröffentlicht ist.[183] Es lohnt, das Schema genauer zu untersuchen, da die Verkettung der einzelnen Reime die inhaltliche Zusammengehörigkeit der Texte auf formaler Ebene umsetzt. Außerdem ist das dynamische Element dieser Form der Reimübernahme nicht zu unterschätzen, da sie es ermöglicht, trotz einer gewissen Formstrenge und Reimwiederholung, die Diskussion viel länger zu führen, ohne dass das Problem der Reimwiederholung zu inhaltlicher und gestalterischer Gleichförmigkeit führt. Diese Tenzone besteht insgesamt aus sieben beziehungsweise neun Texten [184]; eine Ausweitung der Mauerlos-Tenzone, die im vorangegangenen Kapitel besprochen wurde und auf direkter Reimübernahme aller Reime beruht, wäre wohl kaum auf eine solche Anzahl von Texten machbar gewesen, ohne dass sich Reimwörter und Inhalte wiederholt hätten.

Der Ausgangstext Das ganze Bild von Don Quixote enthält in den Terzetten zwei Reime nach dem Schema cdc dcd. Diese greift ZaunköniG in den Quartetten seiner Antwort wieder auf, wobei er sie in der Reihenfolge dccd dccd anordnet. Die Terzette des zweiten Sonetts bestehen wiederum aus zwei Reimen, die in derselben Weise angeordnet sind wie die des ersten Sonetts, also fgf gfg. Zur Verdeutlichung des Grundmusters sollen die beiden ersten Sonette der Tenzone dienen:

 

Das ganze Bild

Nicht bergend ist der Raum der Nacht, nicht mild.
Die Dunkelheit, in der die Träume schwammen,
zerreißt und windet sich in jähen Flammen,
und nur das Lachen schützt uns noch als Schild.

Wir wissen, daß wir aus dem Nebel stammen,
und fragend folgen wir dem blauen Wild.
Bleibt wirres Stückwerk das zerbrochne Bild?
Doch endlich fügt sich Stein um Stein zusammen.

Und dann der Tag. In seinem grellen Licht
verwehen haltlos die geahnten Spuren.
Die Sonne raubt der Seele ihre Sicht.

Das ganze Bild – der Weg, den wir erfuhren,
der Flammentraum, der Ewigkeit verspricht –
all das zerbricht im Stundenschlag der Uhren.


Re: Das ganze Bild

So vieles bricht im Stundenschlag der Uhren:
Es wird vom Tag verschüttet, Schicht um Schicht,
und nur in Assoziationen spricht,
was wir im Unbewußten einst erfuhren.

Mit wachen Sinnen ahnen wir noch Spuren,
die dunkel in uns schlummern, fern dem Licht.
Die Kunst eröffnet eine neue Sicht
auf Archetypen, fremde Kreaturen.

Bunt glänzt, was bruchstückhaft dem Traum entstieg
und streut sich in den Tag als reife Saat.
Bald fügt sich Stück um Stück das Mosaik;

Es scheint zu passen, doch man sieht die Naht.
Die Kunst, vom Traum beseelt, bleibt hier Replik,
doch selbst in dieser schimmert manch Karat.

Im darauf folgenden Sonett gibt es eine Abweichung von diesem Reimschema. Statt des f-Reims greift Don Quixote noch einmal den c-Reim auf, wodurch sich dieser als verbindendes Element durch die ersten drei Texte zieht. Aus welchem Grund es zu dieser Abweichung kommt, ist nicht ganz klar ersichtlich. Interessanterweise verwendet ZaunköniG den Reim, den Don Quixote nicht übernimmt, noch einmal im vierten Text der Tenzone, und zwar wieder in den Terzetten. Diese Terzette stellen eine weitere kleine Abweichung dar, da sie drei statt zwei Reime enthalten. Verfolgt man das Reimmuster schematisch weiter, ergibt sich hier das Schema klf klf. Don Quixote übernimmt im folgenden Gedicht Tanz der Zeit (V) alle drei von ZaunköniG vorgegebenen Reime, zwei davon in den Quartetten, den k-Reim verwendet er in den Terzetten, wodurch auch dieser zum verbindenden Element zwischen drei Texten (IV, V, VI) wird. Ähnliches ergibt sich aus dem n-Reim, der zuerst von Don Quixote in Tanz der Zeit (V) verwendet wird. Diesen Reim benutzt ZaunköniG nicht nur in den Quartetten des nächsten Gedichts Dialektik nach Heisenberg (VI), sondern auch in dessen Terzetten, wodurch er wiederum im siebten Sonett von Don Quixote aufgegriffen wird.

Insgesamt sind also nicht nur jeweils zwei Sonette über ihre Reime miteinander verbunden, wie das entworfene Grundschema nahe legt. Der c-Reim verkettet die Sonette I, II und III, der f-Reim die Sonette II, IV und V, der n-Reim V, VI und VII. Die Verwendung der Reime zeigt also schon, wie stark die einzelnen Gedichte der Tenzone aufeinander bezogen sind. Noch deutlicher wird dies dadurch, dass auch viele Reimwörter übernommen sind und häufig dazu gebraucht werden, die Aussagen, die im vorausgegangenen Sonett mit diesen Reimwörtern geäußert werden, aufzugreifen, zu relativieren oder ihnen zu widersprechen. Vor allem die ersten beiden Sonette sind dafür beispielhaft, weshalb ich sie auf dieses Kriterium hin kurz analysieren werde.

In den Quartetten des ersten Sonetts der Reihe, Das ganze Bild (I), geht es darum, dass das lyrische Wir einer wichtigen, das Leben und die Welt betreffenden Erkenntnis – man könnte grob sagen, der Sinnfrage – im Traum unterbewusst nahe kommt. Die Terzette verhalten sich dazu entgegengesetzt, indem sie den Tag als Gegensatz zum nächtlichen, unbewussten Traum thematisieren. Der Beginn des ersten Terzetts macht dies deutlich: Und dann der Tag. In seinem grellen licht / verwehen haltlos die geahnten Spuren. (I, V.9 f.). Im Antwortsonett von ZaunköniG wird diese Aussage unter Zuhilfenahme der Reimwörter relativiert: Mit wachen Sinnen ahnen wir noch Spuren, / die dunkel in uns schlummern, fern dem Licht. (II, V.5 f.). Die Spuren werden in der Antwort also nicht als verloren, sondern zumindest als noch erahnbar dargestellt, und zwar durch die Kunst erahnbar: Die Kunst eröffnet eine neue Sicht […] (II, V.7). Auch dieser Vers beinhaltet ein Reimwort aus dem ersten Sonett und kann als direkte Antwort darauf gelesen werden: Die Sonne raubt der Seele ihre Sicht. (I, V.11). Gegen das, was das lyrische Wir von der Erkenntnis fernhält, wird etwas gesetzt, das es der Erkenntnis näher bringt. Auch der Schlussvers des ersten Sonetts wird durch den Anfangsvers des zweiten Textes direkt aufgegriffen. Er wird beinah wörtlich übernommen, lediglich wird all das zerbricht (I, V.14) durch So vieles bricht (II, V.1) ersetzt. Diese kleinen Änderungen tragen dazu bei, dass die Aussage aus dem Ausgangstext abgeschwächt wird und eine Gegenargumentation möglich wird.

Auch in anderen Sonetten dieser Tenzone werden Reimwörter intentional wiederverwendet. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zur Mauerlos-Tenzone, deren auffälligstes Merkmal eben die Vermeidung der Reimwortwiederholung ist. Obwohl die Reime hier also auch eine sehr wichtige Rolle spielen, kann festgestellt werden, dass das Vorantreiben des Dialogs in der Bild-Tenzone verglichen mit der Mauerlos-Tenzone Priorität hat und die Bezüge zwischen den Texten noch stärker inhaltlicher Natur sind.

6.2.3.3 Lockere Mischform – Die Tenzone Leben

In den vorangegangenen Analysen wurden zwei relativ strenge Formen der Reimübernahme besprochen. Dass das Spiel mit den Reimen ein wichtiges Element in Tenzonen sein kann, ohne dass dabei feste Regeln beachtet werden, zeigt die Tenzone Neues Leben.[185] Auch hier wird die Zusammengehörigkeit der Texte nicht zuletzt über die Verwendung der Reime angezeigt. Geht man allerdings nur von den Reimen aus, muss man die Tenzone zweiteilen und das dritte Sonett, Leben von Daniel Goral, ausklammern, da dieses keinen Reim mit einem der anderen Sonette gemeinsam hat. Natürlich kann der Inhalt durch ein solches Verfahren nicht nachvollziehbar bleiben, doch da es hier im Besonderen um die verwendeten Reimstrukturen gehen soll, werde ich den Inhalt der Tenzone außen vor lassen, um die formal aufeinander bezogenen Texte als Reimbeispiele zu analysieren.

Als ersten Teil dieser Tenzone kann man, wenn man die Reime als Grundlage nimmt, die ersten beiden Sonette interpretieren: Neues Leben (I) von Klaus M. Rarisch und Neues Leben II (II) von Robert Wohlleben. Zu diesen beiden Gedichten und dem hier nicht berücksichtigten dritten von Daniel Goral hat Rarisch einen Kommentar verfasst, der sich in großen Teilen den Reimen der ersten beiden Texte widmet, was die Bedeutung der Reime für die Tenzonendichtung unterstreicht.[186]

Betrachtet man die Terzette der beiden Gedichte, so ist die Nähe zu den Sonetten mit direkter Übernahme aller Reime auffällig. Wohlleben verwendet in seiner Antwort dieselben Reime wie Rarisch, ohne dabei ein Reimwort zu wiederholen [187], allerdings ordnet er sie anders an. Während Rarisch cde edc reimt (I, V.9-14), schreibt Wohlleben im Muster cde cde (II, V.9-14).

Interessanter noch ist der Umgang Wohllebens mit den Reimen in den Quartetten, da er sich zwar auch hier an das Prinzip der Reimübernahme anlehnt, dies aber versteckt tut. Den a-Reim aus Rarischs Sonetten greift er auf, indem er von den Verben in Rarischs Sonett, die auf -äumen enden, ausgeht und ebensolche verwendet, sie aber vom Plural in den Singular transponiert.[188] So ergeben sich folgende Klang- und Wortähnlichkeiten: auf erträumen (I, V.1), überschäumen (I, V.4), Bäumen (I, V.5) und Räumen (I, V.8) antwortet Wohlleben mit ausgeträumt (II, V.1), säumt (II, V.4), schäumt (II, V.5) und bäumt (II, V.8). Unauffälliger, aber wahrscheinlich auch beabsichtigt, ist der phonetische Bezug, den Wohlleben zwischen den b-Reimen Rarischs und seinen eigenen herstellt. Rarisch reimt auf „-inden“ (I, V.2, 3, 6, 7), Wohlleben auf „-anden“ (II, V. 2, 3, 6, 7), die Konsonanten sind also dieselben, lediglich der Vokal „i“ im ersten Sonett wird im zweiten zu „a“. Wohlleben zeigt also nicht nur durch den Titel seiner Antwort Neues Leben II und den Inhalt seines Gedichts an, dass er sich auf Rarischs Text bezieht, sondern unterstützt dies auch noch durch die Annäherung an den Ausgangstext auf klanglicher Ebene.

Als drittes folgt das Sonett Gorals, das hier nicht näher betrachtet wird. LEBEN – den verzagten, nicht jungen Männern (III) lauten Titel und Untertitel des Textes, dessen Antwortcharakter bezüglich der ersten beiden Sonette schon allein dadurch erkennbar wird. Allerdings verstärkt er ihn – wie schon erwähnt – nicht durch Reimähnlichkeiten. Auch der nächste Text, leben leben (IV) von Raphael Biehl, zeigt keine Reimentsprechung zu einem der vorangegangenen Sonette, wird aber selbst zum Ausgangspunkt einer neuen Reimverkettung.[189]

Das Reimschema Biehls, von dem die folgenden Texte beeinflusst werden, lautet folgendermaßen: abba abba cdc dcd. Betrachtet man zuerst die Reime der Quartette, so zeigt sich, dass Goral (V) und Marco Schmarander (VI) in den folgenden Sonetten den a-Reim auf „-ieren“ übernehmen. Dabei wird kein einziges Reimwort wiederholt. Wohlleben, dessen Sonett Neues Leben III (VII) die Tenzone abschließt, verwendet diesen Reim nicht. Das Aufgreifen des b-Reims erinnert an die Art, wie Wohlleben im ersten besprochenen Teil der Tenzone die Vokalsubstitution an Rarischs b-Reim vorgenommen hat. Biehl reimt in leben leben auf flüchten [190] (IV, V.2), woraufhin Goral „ü“ durch „i“ [191] ersetzt und somit eine unreine Reimentsprechung erhält. Schmarander weicht noch weiter vom Reim ab, indem er „e“ beziehungsweise „ä“ [192] als tragenden Vokal verwendet, bei Wohlleben bleibt nur noch die Lautfolge „chen“ [193] von Biehls ursprünglichem b-Reim erhalten. Eine gewisse, wenn auch gerade bei Wohlleben sehr weitläufige, Klangähnlichkeit verbindet also auch die b-Reime der vier Sonette.

Doch nicht nur in den Quartetten zeigt sich das Dialogische der Tenzone anhand der Reime. Alle nach Biehl noch antwortenden Sonetteure greifen dessen c-Reim auf. Das nimmt nicht weiter wunder, da dieser Reim bei Biehl ein besonderes inhaltliches sowie klangliches Gewicht besitzt.

 

doch eben die erschließt das eden-streben:
statt sich mit träumen, göttern zu umzäunen,
befreit, genießerisch auf wegen schweben,

und sinnes-schäumend äther zu durchstreunen;
vom „sein“ erheben, und das leben leben
sich rein in weltlichen genüssen bräunen. (IV, V.9-14)

Inhaltlich wird in Vers 13 der Titel des Gedichts leben leben aufgegriffen und damit auch die Grundaussage des Textes festgelegt: Das Leben soll genossen werden. Lautlich hebt Biehl dies noch hervor, indem er mit auffälligen Binnenreimen und Assonanzen arbeitet, die dem Reim phonetisch sehr nahestehen.[194]

Dass Scharamander auch noch den Terzett-Reim Gorals, der nicht mit Biehls Reim übereinstimmt, aufgreift, zeigt nur, dass die Bezugnahme auf die Texte der jeweils anderen durch die Reime ein wichtiges Element in diesem Sonett-Zyklus ist, auch wenn sie auf keinem fest geregelten Schema beruht. Im Ganzen werden vor allem die Reime übernommen, die klanglich interessant sind, beispielsweise weil sie zu einer Fülle von Fremdwörtern als Reimwörter führen, wie der a-Reim des zweiten Teils [195], oder aber Reime, die inhaltlich wieder aufgegriffen werden, wie leben [196] aus Biehls Sonett (IV).

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Anmerkungen

[158] Vgl. dazu die formale Aufschlüsselung der Tenzonenproduktion der Autoren um fulgura.de in Kap. 7.2 dieser Arbeit.
[159] Vgl. hierzu Kap. 5.4 dieser Arbeit.
[160] Koeppel, Matthias/Rarisch, Klaus M. u.a.: Um die Wurst. Sonette zur Lage. Hamburg 2006.
[161] Auf die Analyse einer speziellen Tenzone verzichte ich an dieser Stelle mit Hinweis auf die ausführliche Einzelinterpretation der Tenzone Hieb- und stichfest in Kap. 7.3 dieser Arbeit.
[162] Greber: Textile Texte. S. 377. Grebers Habilitationsschrift stellt die ausführlichste Arbeit zu diesem Thema dar. Ihre Schreibkonvention, nach der bouts rimés vorgeschriebene Endreime und Bouts-rimés die daraus entstehenden Gedichte bezeichnen, wurde für diese Arbeit übernommen. Vgl. Greber: Textile Texte. S. 385.
[163] Liede: Spiel. S. 173.
[164] Greber: Textile Texte. S. 387.
[165] Liede: Spiel. S. 174; Greber: Textile Texte. S. 388.
[166] Herin, Christoph: Biedermeier. In: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Walter Hinderer. 2. Aufl. Würzburg 2001. S. 279-307. Hier: S. 284.
[167] Liede: Spiel S. 175.
[168] Castelli, Ignaz Franz: Memoiren meines Lebens, hg. v. Josef Bindtner, Bd. 2. München 1914. S. 204.
[169] Greber zitiert Hamann, J. G.: Poetisches Lexicon. 1716. S. 81.: „Bouts-rimés ist eine Art von Gedichten, welche die Frantzosen ausgekünstelt haben. Sie schreiben jemand eine gewisse Anzahl Reimen auf ein Blatt. Je närrischer diese sind, je besser ist es. Solche muss nun ein in der Poesie Erfahrener mit Versen ausfüllen, also daß ein gewisser Verstand herauskommt. Z.E. dieses wären Reime zu einem Sonett: reißen-rund-Mund-Preußen / schmeißen-kund-Hund-Meißen / Büchse-Stand-Strand / Füchse-Wache-Drache, die einer, der zu viel Geduld hat, ausfüllen kann.“
[170] Kemp: Sonett. Bd. 2. S. 73.
[171] http://www.sonett-archiv.com/forum/showthread.php?tid=293: Sonette nach aufgegebenem Endreim.
[172] Greber: Textile Texte. S. 405
[173] Vgl. Kap. 5.1.2 dieser Arbeit.
[174] Vgl. dazu Kap. 7.3 dieser Arbeit. Zwar handelt es sich bei dieser Tenzone um keine, die ein strenges Schema der Reimwiederholung erfüllt und ist deshalb eindeutig viel weiter von den bouts-rimés entfernt, als Tenzonen, die dieses Kriterium erfüllen. Trotzdem halte ich diese Aussage für übertragbar, da der gemeinschaftliche Charakter beider Gattungen Tradierung und Normierung befördern.
[175] Das interessante Thema der Gattungsdiskussion, speziell beim Sonett, kann hier leider nicht behandelt werden.
[176] Liede: Spiel. S. 174.
[177] http://www.fulgura.de (dieses Internetportal für Sonette werde ich im Folgenden noch etwas genauer vorstellen. Vgl. dazu Kap. 7 dieser Arbeit.); Sonett-Forum: http://www.sonett-archiv.com/forum/index.php.
[178] Vgl. dazu Kap. 3.2 dieser Arbeit.
[179] Rarisch/Barford u.a.: Mauerlos-Tenzone.
[180] Wohlleben, Robert: Ohne Titel. https://www.fulgura.de/etc/kapitel2.htm. Letzter Aufruf am 8.9.2009.
[181] Bspw. „die Kante steilte“ (III, V.10); „auch stallen / dort Bullen lebenslang im Pferch.“ (II, V.7 f.).
[182] Greber: Textile Texte. S. 405; Vgl. Kap. 6.2.2 dieser Arbeit.
[183] Don Quixote/ZaunköniG: Das ganze Bild. http://www.sonett-archiv.com/forum/showthread.php?tid=284. Letzter Aufruf am 20.9.2018. Als Autorennamen wurden die Pseudonyme, unter denen die Autoren im Sonett-Forum schreiben, übernommen.
[184] Die unterschiedliche Zählung, die ich hier vornehme, rührt daher, dass an die sieben Sonette, die ich hier analysiere, zehn Monate später noch zwei weitere angefügt wurden. Diese werden in der Analyse nicht berücksichtigt, da der Autor, der sich an diesem Punkt einschaltet, nicht in Form eines Sonetts antwortet und die formale Zusammengehörigkeit der Texte deshalb nicht mehr besteht.
[185] Rarisch, Klaus M./Wohlleben, Robert u.a.: Leben-Tenzone. https://www.fulgura.de/sonett/leben1.htm. Letzter Aufruf am 20.9.2018.
[186] Rarisch, Klaus M.: Kommentar zur Tenzone Leben. https://www.fulgura.de/sonett/leben-a.htm. Letzter Aufruf am 23.7.2009.
[187] Vgl. auch Rarisch: Kommentar.
[188] Vgl. auch Rarisch: Kommentar.
[189] Ich beginne mit der Reimkennzeichnung hier wieder bei „a“, da ich den ersten über Reime verbundenen Teil der Tenzone und den zweiten, der hier beginnt, gesondert voneinander betrachte.
[190] Die anderen Reimwörter lauten züchten (IV, V.3), früchten (IV, V.6) und süchten (IV, V.7).
[191] Die von Goral verwendeten Reimwörter lauten belichten (V, V.2), verrichten (V, V.3), Hintergrundberichten (V, V.6) und verzichten (V, V.7).
[192] Schmaranders Reimwörter lauten fechten (VI, V.2), rechten (VI, V.3), brächten (VI, V.6) und ächten (VI, V.7).
[193] Wohllebens Reimwörter lauten Knochen (VII, V.2), ungerochen (VII, V.3), gestochen (VII, V.6) und Pochen (VII, V.7).
[194] Siehe dazu die von mir im Text hervorgehobenen Wörter. Die Binnenreime, die mit dem d-Reim korrespondieren finden hier keine Beachtung, weil sie in den folgenden Sonetten nicht aufgegriffen werden.
[195] Die Reimwörter bei Biehl, Goral und Scharmander lauten in der Reihenfolge, wie sie in der Tenzone auftreten: residieren, existieren, blockieren, agieren, expandieren, soufflieren, simulieren, kampieren, alternieren, möblieren, marschieren und approbieren.
[196] Leben wird als Reimwort von Goral (V, V.9) sowie von Wohlleben (VII, V.13) wiederverwendet.
 

Eingang

Punkt 1 – 4

Punkt 5 – 5.1.4

Punkt 5.2 – 5.5

Punkt 6 – 6.1.6

Punkt 6.2

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Literatur


Rechte bei Tanja Holzinger