Arno Holz und der Ferne Osten In der Wiener »Zeit« vom 22. Oktober 1898 befaßte sich Franz Servaes im Artikel »Impressionistische Lyrik« ausführlicher mit den Gedichten des ersten Phantasushefts von Arno Holz, im Frühjahr des Jahres erschienen. Servaes akzeptierte dabei das, was Holz in seiner »Selbstanzeige« der Publikation am 30. April des Jahres in Maximilian Hardens »Zukunft« zu Absicht und Verfahren erklärt hatte, kam also gar nicht erst dazu, wie andre Walt Whitmans »Leaves of Grass« als Einflußquelle anzunehmen. Demgegenüber brachte Servaes an, daß für Arno Holz und seine Werkstattgruppe »die chinesische Lyrik, wie sie Judith Walter in ihrem Livre de jade [ ] gesammelt hat, insbesondere Li-Tai-Pe«, »von Bedeutung« war. Das scheint Servaes von Paul Ernst gehabt zu haben. Holz schrieb ihm jedenfalls gleich unterm 26. Oktober: »Die Daten, die Ernst Ihnen gab, stimmten sämmtlich nicht!« Seine Richtigstellung (die ihm mit Sicherheit mancher wieder mal nicht abnehmen wird, mit der Begründung: On general principles, Im opposed to it): »das Livre de Jade [ ] lernte ich kennen, erst nachdem der Phantasus gedruckt vorlag.« [1] Was sich später in Paul Ernsts Erinnerungen findet, daß nämlich diese Sammlung alter chinesischer Gedichte außer auf ihn »auch auf Arno Holz eingewirkt« habe, [2] läßt sich vielleicht so sagen, nur eben nicht fürs erste Phantasusheft. Mehr als für Literatur des Fernen Ostens interessierte sich Holz damals zunächst für Kunst von dort, Skulpturen, Malerei, Druckgraphik, auch Kunstgewerbe. Zumindest aber der Name Li-Tai-Pe [3] hatte ihm etwas gesagt: Damit läßt er die in der »Jugend« erschienene Vorform seines fernöstlich requisitierten Gedichts »Auf einem vergoldeten Blumenschiff« enden: Auf einem vergoldeten Blumenschiff Für den Abdruck im ersten Phantasusheft nahm er den chinesischen Dichter wieder heraus, ersetzte die drei Schlußzeilen durch drei neue: Aus fernem Süd Chinesische Lyrik war damals durch französische Übersetzungen bekannt geworden. Mit ihrer von Wolfgang Bauer in Kindlers Neuem Literatur-Lexikon für Li taibo vermerkten »kunstvollen Schlichtheit« muß sie gerade für jemanden wie Arno Holz in seinem Streben nach »natürlicher« Einfachheit interessant gewesen sein. Tatsächlich hat er sie hochinteressiert aufgenommen. Reinhard Piper erinnert sich an einen Besuch bei Holz in der zweiten Junihälfte 1898, als das erste Phantasusheft bereits vorlag: Ich traf ihn bei der Lektüre einer französischen Übersetzung chinesischer Lyrik. Das Buch war 1862 in Paris erschienen und führte den Titel »Poésies de lépoque des Thang (VIIe IXe siècles de notre ère), traduites du Chinois pour la première fois par le marquis dHervey-Saint-Denys.« Es enthielt vor allem Gedichte von Litaipe und Thufu. Holz war davon begeistert und erklärte in seinem Überschwang, dagegen gehalten sei das Goethesche »Über allen Gipfeln ist Ruh« geradezu ein Bombast. Er gab mir das Buch mit, und ich schrieb mir manches daraus ab. [6] Demnach geriet der Name Li-Tai-Pe in die Gedichtveröffentlichung von Mitte Januar 1898, bevor sich Holz dem »Überschwang« nach zu urteilen erstmals wirklich mit dem Dichter befaßte. Pipers Erinnerung unterstützt Holzens Auskunft zu seiner Begegnung mit chinesischer Lyrik. Beim damals längst aufgeblühten Interesse an Fernöstlichkeiten kann es gut angehn, daß sich der Name Li-Tai-Pe durch Gespräche und durch Lektüre eingeprägt hatte mit Sicherheit mindestens durch Otto Julius Bierbaums »Musen-Almanach auf das Jahr 1893«, in dem Arno Holz mit neun Gedichten vertreten ist: In den »Musenalmanach« ist Richard Dehmels »Chinesisches Trinklied. Nach Li-tai-po« übernommen, im Anhang »Übersetzungen« an erster Stelle placiert. [7] Die erste Strophe: Der Herr Wirth hier Kinder, der Wirth hat Wein! Mit ihrer gereimten, insgesamt 45-zeiligen Ausführlichkeit war diese Probe aber nun gewiß keine Anregung für Holzens Bemühen um reimlose Knappheit. So wäre dann der Name Li-Tai-Pe in der Vorform des Blumenschiffgedichts nicht mehr als ein Tupfer Lokalkolorit gewesen. Spätestens dann wohl 1905 wird Li-tai-pe abermals berufen vorausgesetzt, daß der Name in der für dies Jahr von Karl Geisendörfer gefundenen, [8] mir nicht bekannten Erstveröffentlichung eines in den Phantasusausgaben ab 1916 enthaltenen Gedichts bereits vorkam. [9] In der Nachlaßfassung mit der Überschrift »Neunzehnhunderteins in meiner Hinterhauskamurke«. Beginn in der Fassung von 1916: |
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Gegen Ende des Gedichts wird Georg Stolzenbergs Vertonung des Holzschen Gedichts »Über die Welt hin ziehen die Wolken« geboten: |
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Ich war überreizt. Holz suchte mich zu beruhigen, und um mir zu zeigen, wie gut er es mit mir meine, schenkte er mir ein Buch mit reizenden japanischen Stoff- und Tapetenmustern, das ihm selbst sehr wertvoll war. [11] Mehr aus bebilderten und sonstigen Berichten über die fernen Regionen denn aus Literatur von dort dürften mithin geschöpft sein: die Papierlaternen auf dem Blumenschiff, die buddhistisch-indisch anmutende Szenerie zu Anfang des Gedichts »Fern auf der Insel Nurapu«, [12] die womöglich chinesische Tempelkulisse in »Nachts um meinen Tempelhain«, [13] der Holzschneider Utamaro im Dachkammergedicht, [14] der »Fluss Fu« in »Drei Tage lang« und der Berg in »Ueber den Gipfel des Fuyi-no-nama«. [15] Das Drachenmotiv des letzteren Gedichts, viertes im zweiten Phantasusheft, scheint auf einem japanischen Rollbild zu beruhen, das Arno Holz in Wiedergabe gesehen hat oder gar es gab einen Handel mit solcherlei im Original: Ueber den Gipfel des Fuyi-no-yama, »Alter Goldgrund-Kakemono« lautet nämlich die Überschrift der Großversion des Gedichts in der Nachlaßfassung des Phantasus. [16]. Ab der Insel-Ausgabe von 1916 (S. 103 f.) ist es statt des Bogens eine Armbrust, deren starre Halterung des Bügels ebenfalls aus Ebenholz, im ersten Band der Werkausgabe von 1924/25 (S. 335-341) wie auch in der Nachlaßausgabe zu Elfenbein veredelt. Von selbst oder vielleicht durch einen Hinweis kam Holz drauf, daß die Kombination von Ebenholzbogen und Bambusbügel doch etwas irritierend ist. Von Robert Reß postalisch darauf hingewiesen und ermöglicht durch den Theatererfolg des von Arno Holz und seinem Freund Oskar Jerschke gemeinsam verfaßten Bühnenstücks »Traumulus«, kaufte sich Holz 1905 einen japanischen Bronzekranich, wie aus dem Archivarsvermerk zu einer an den Freund Paul Dorff gerichteten Postkarte vom 20. 4. 1908 hervorgeht. Die Skulptur fand ihren Platz in Holzens Tragödie »Sonnenfinsternis«, Erstausgabe 1908: Unter den Requisiten, die Holz fürs Atelier des Protagonisten, des Malers Hollrieder, vorsieht, sind ein »kunstvoll gearbeitetes, japanisches Wandschränkchen«, zwei »hohe, altchinesische Vasen« und ein »großer, bunt emaillierter Bronzekranich«. [17] In der Skizze zur Bühneneinrichtung im Regieplan für die von Leopold Jeßner in Hamburg am Thalia-Theater inszenierte Uraufführung der »Sonnenfinsternis«, 16. September 1913, sind Holzens Anweisungen einigermaßen eingelöst. [18] An etwa der vorgesehenen Stelle ist ein »Schränkchen« eingezeichnet, im Kommentar »Wandschränkchen R. Zum Oeffnen, darin verschiedene kleine Fläschchen und Pulverschachteln«. »Zwei japanische Vasen und ein bunt emaillierter Bronzekranich, verschiedene Bilder und Skizzen, eine Kiste mit Zigarren (1 richtig) und Feuerzeug« sind allerdings in einem »Regal a. d. S., L.« insofern fehlplaciert, als ein von Holz für diese Stelle verlangtes »schöngeschnitztes altgotisches Regal, das von der Einfachheit des Übrigen auffallend absticht«, dazu dienen soll, daß »La bella Cenci« darauf »das Thema des zweiten Satzes von dem Schubertschen D-Moll-Quartett« spielt, schon »auf einem Harmonium gespielt«, fürs Publikum wohl außer Sicht zu hören, bevor sich der Vorhang hebt. Weil der Platz fürs Musikinstrument Regal, die kleine tragbare Orgel, von der Regie ans von Holz nicht vorgesehene Möbelstück Regal vergeben ist, sieht der Regieplan ersatzweise vor: »Harmonium M., L., Aufgeschlagene Noten«. Vasen und Kranich offenbar regalgerecht geschrumpft. Sicherlich von Holzens Bronzekranich inspiriert die vom Zigarettenraucher zweckentfremdete Vogelskulptur im zuerst im Insel-Phantasus veröffentlichten Gedicht mit der in der Nachlaßausgabe dazugegebenen Überschrift »Fünfminutenphantasie Anläßlich Einer Vorzüglichen Muratti«: An den dünnen Beinen meines Bronzereihers Diese Holzsche Vorliebe für fernöstliche Kunst und Kunstfertigkeit prägt auch die Requisitierung des Schauplatzes für den 2. Akt seiner Tragödie »Ignorabimus«, Erstausgabe 1913: das »Chinesische Zimmer« in einer herrschaftlichen Villa, die als Schauplätze der andren vier Akte einen »Gartensaal«, einen »Musiksaal«, eine »Rokokobibliothek« und das »Zimmer Mariannes« bietet. Bestimmt nicht leicht für die Requisite: »Perlenvorhang [ ], den ein grünliches, grimmig aufgerecktes, grotesk stilisiertes Löwenungeheuer ziert«; Türen umrahmt »von [ ] Schnitzwerk, dessen ehemalige Buntheit phantastisch vergoldete Pflanzenornamentik [ ] diskret verblaßt ist«; »auf einem ebenfalls chinesischen Teppich [ ] ein bronzener, tausendgliedriger Drachen [ ], gezügelt vom bärtigen Herrscher der Meere«; »mit allerhand auserlesenem, östlichem Bricabrac gefüllte Schränke und Vitrinen«. [20] Insbesondere mit seinem »Schüler« Rolf Wolfgang Martens scheint Holz das Interesse an japanischen Bildwerken geteilt zu haben. Gehörte Martens laut Auflistung in der Frühfassung des Dachkammergedichts zu den »Menschen, die Goya und Utamaro lieben«, [21] mußten Martens wirds zu würdigen gewußt haben in der Letztfassung noch sieben weitere Japaner dazu: »Masanobu, / Motonobu, Moronubo, / Morikuni, / Yeitoku, Sanraku, / Utanosuke und Utamaro«. [22] Goya blieb nach wie vor einziger Europäer im Aufgebot der Bildkünstler. Wie aus einem unter dem 26. 5. 1912 an den Schriftsteller und Journalisten Wolfgang Schumann gerichteten Brief hervorgeht, setzte Arno Holz sein Faible für japanische Bildwerke gar in eigne Praxis um, möglicherweise für die 1913 beim Reißner-Verlag in Angriff genommene, dann aber von Holz abgebrochene Phantasus-Ausgabe: [23] Zu Weihnachten beabsichtige ich ebenfalls als Teil des Phantasus in facsimilierter Handschrift, Groß-Folio, in tausend und zwei Versen, Auflage tausendundzwei Exemplare, Das tausendundzweite Märchen rauszugeben. Vor einigen Tagen machte es mir Spaß, nach japanischen Motiven, das Titelblatt dazu zu entwerfen. Zum mindesten dieses darauf dürfen Sie bereits gespannt sein wird berauschend werden! [24] Bei den andren Mitgliedern des Regiments Sassenbach spielt Fernostmotivik nahezu keine Rolle. In einer spaßhaften Zukunftsphantasie von Rolf Wolfgang Martens bringt es Holzens 1894 geborener Sohn Werner als Erwachsener zu akademischen Ehren, sein anderthalb Jahre jüngerer Bruder Walter schafft es bis nach Japan: Auf Grund der allgemeinen europäischen Amnestie, Martens projizierte und karikierte Hoffnungen bis Gewißheiten, wie sie junge Eltern gern für ihre Kinder entwickeln, in die Zukunft. Den Aufstieg zum »reichsten Antiquitätenhändler in Tokio« verdankt Bila dann sicher dem vom Vater gehegten Gefallen an fernöstlicher Kunst, die in der »Corona« um Arno Holz einigen Gesprächsstoff geboten haben dürfte. Beim Holzschüler Robert Reß ein Japan als Locus amoenus: Fern unter Blüten vergraben Ein Freund von Arno Holz, Hans Heilmann, übertrug Gedichte aus dem »Livre de jade« und den »Poésies de lépoque des Thang« nach den französischen Versionen ins Deutsche. Sie gingen ein in die von Heilmann eingeleitete und annotierte Sammlung »Chinesische Lyrik vom zwölften Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart«, auf Holzens Empfehlung hin 1905 von Reinhard Piper herausgebracht. Ob sich Heilmann bereits vor dem Erscheinen des zweiten Phantasushefts mit den chinesischen Dichtern befaßte und sich womöglich mit Holz darüber austauschte, weiß ich nicht. Jahre nach den beiden Phantasusheften bearbeitete Arno Holz die Heilmannsche Version eines Gedichts von Li-Tai-Pe, um das Ergebnis in der Phantasus-Folioausgabe von 1916 zu verwenden, mit 223 Wörtern den 114 Heilmanns gegenüber fast doppelt so umfangreich. Da hatte längst die ausfächernde, amplifizierende Methode zur Texterzeugung eingesetzt, führte zu 340 Wörtern in der Ausgabe letzter Hand, zu 454 schließlich in der Nachlaßfassung. [27] Die Bearbeitung der Heilmannschen Vorlage ist Einsprengsel im Extremfall einer Gedichterweiterung: Aus fünfzehn Zeilen im zweiten Phantasusheft, beginnend »Gottseidank! // Die Hausthür ist zu«, [28] wurden schließlich rund 460 Druckseiten der Nachlaßfassung, erst dort mit der Überschrift »Das Tausendundzweite Märchen«. In der Ausgabe von 1925 wie auch in der von 1962 füllt dies Großgedicht den ganzen zweiten Band. Es geht darin um eine weiträumige Gedankenreise. Sämtliche Fassungen beginnen und enden »erzählt mir eine Geschichte« mit denselben Worten. Außer mit Li-Tai-Pe füllte Arno Holz dort mit weiteren Persönlichkeiten auf: Geschichtsschreiber Sze-ma-kwang, dem japanischen Künstler Kōrin, Alexander dem Großen, Archimedes, Cäsar, Albertus Magnus, Kopernikus, Rubens, Mozart. Im Aufsatz zum Tiergartengedicht hielt Hans Dieter Zimmermann Heilmanns Lösung und Holzens Adaptation in der Version von 1916 nebeneinander. [29] Was sich bei Holz an Wortkaskaden ergibt, gefällt ihm nicht. Zimmermann sieht »protzige Wortemacherei«. Nun gut, solche Abständigkeit dem Großphantasus gegenüber hat Tradition. Schon 1917 monierte Hans Benzmann: »Ein Gedicht soll doch kein Lexikon sein.« [30] Gerhard Schulz sah 1968 »Zerstörung der lyrischen Substanz durch eine Häufung des Details«. [31] In einer 1970 vom SFB-Hörfunk ausgestrahlten Sendung hieß es über den Großphantasus: »monströse Totgeburt«. [32] Dies läßt sich natürlich auch ganz anders sehen, wie etwa der literarische Praktiker Alfred Döblin es tat: Wir werden am besten verstehen, was in diesen Mammutgebilden, den strömenden Rhythmen, vorliegt, wenn wir uns an die moderne Malerei erinnern, an die nicht gegenständliche, die sogenannte abstrakte. Ich nenne den Namen Kandinski. An Hand einer Zeile der Heilmannschen Übertragung eine kurze Andeutung zum Holzschen Ausbauverfahren. Der chinesische Dichter erzählt anfangs, daß er nach einem Saufexzeß vor der Tür seines Hauses einschläft. Dann bei Heilmann: Wieder erwachend schlage ich die Augen auf. [34] Arno Holz phantasierte und fühlte sich detailliert in die Situation hinein, Version im Druck von 1916: |
Wieder erwachend, |
Da: der alte Teich. Beleg ist ihm Holzens Gedicht »Alter Garten« aus dem »Musen-Almanach auf das Jahr 1893«, ins erste Phantasusheft aufgenommen [37] und bis hin zur Nachlaßfassung kaum verändert, dort mit der Überschrift »Verglostende Dämmerung«. [38] Hier die Frühfassung: Kein Laut! Durch Reduzierung auf Holzens Teich- und Froschzeilen ergibt sich frappante Deckungsgleichheit: Der alte Tümpel vor mir schwarz wie Tinte
Doch was sagt es? Teiche und Frösche gabs in Japan wie ebenso in Berlin und Umgebung. Und Natur war Motivreservoir für Bashō wie für Holz. Hier eine der »naturnahen« Holzschen Impressionen aus dem Berliner Tiergarten, wieder Teiche, doch diesmal Enten: Auf das braune, vertrocknete Laub um die Tiergartenseeen Nur: Arno Holz konnte damals das Frosch-Haiku von Matsuo Bashō (1644 bis 1694) allerhöchstwahrscheinlich nicht kennen und hatte offensichtlich auch gar nicht daran gedacht, mit dem Gedicht »Alter Garten« japanisch-epigrammatische Kürze anzustreben. Ich meine, sicher sein zu können, daß mir der Name Bashō in allem, was mir von Arno Holz unterkam, nicht aufgefallen ist. Nicht Zelebrität genug wie Li-Tai-Pe oder einfach nicht in den Blick geraten? Der Blick in Pierers Konversations-Lexikon, Siebente Auflage, 7. Band von 1890, zeigt, daß die beteiligten Lexikographen die Namen japanischer lyrischer Dichter anscheinend als nicht so wichtig fürs wünschbare Allgemeinwissen erachteten. Lediglich ein Sjotet aus dem 15. Jahrhundert wird genannt. Der 3. Band (1889) verfuhr ähnlich knapp mit der chinesischen Lyrik, nennt nur die »beiden Dichterfürsten Tufu u. Litaipe«. Ausführlicher geht Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, im 10. Band von 1907 auf japanische Poesie ein, was wohl auf ein inzwischen gewachsenes Interesse daran deutet. Bashō wird dort als »hervorragendster Vertreter« der Haiku-Dichtung genannt, belegt mit einem Beitrag von B. H. Chamberlain in den Transactions of the Asiatic Society of Japan, 1902. Von diesem Basil Hall Chamberlain erschien 1880 die Anthologie »The Classical Poetry of the Japanese«, ganz ohne Bashō. Holzens Japaninteresse scheint ja in erster Linie an die dortige bildende Kunst gebunden gewesen zu sein. O. E. Hasso Becker hatte Mitte der dreißiger Jahre das Gedenkzimmer in der Stübbenstraße besucht, [41] er bemerkte im Bestand der Holzschen Handbibliothek nicht näher spezifizierte »Vier Bände der Literaturen des Ostens«, einer von 1901 bis 1920 erschienenen vielbändigen, sehr weiträumig ausgreifenden Buchreihe. Erst der 1920 erschienene 10. Band, letzter Band der Reihe, ist der japanischen Literatur gewidmet. Von Arno Holz angeschafft ? Zu spät jedenfalls für sein Teich-und-Frosch-Gedicht. Hans Dieter Zimmermann scheint insbesondere Veröffentlichungen von Herbert Fussy und Ingrid Schuster gefolgt zu sein, [42] die beide Holzens »Alten Garten« als von Bashōs Frosch-Haiku angeregt verstehen. In »Hototogisu ist keine Nachtigall«, einer komparatistischen Untersuchung zur deutschen Rezeption japanischer Lyrik, befaßt sich Andreas Wittbrodt mit diesem Gedicht, rückt dabei interpretatorische Mißverständnisse zurecht und hält der Annahme, es sei Adaptation von Bashōs Haiku, entgegen: »Die japanologische Vermittlung des Haiku jedenfalls setzte, soweit man sehen kann, erst acht Jahre nach der Publikation von Alter Garten ein, mit der Veröffentlichung von Astons History of Japanese Literature im Jahr 1899 sowie Chamberlains Aufsatz Bashō and the Japanese Poetical Epigram im Jahr 1902.« [43] Beide Autoren bieten Bashōs Frosch-Haiku in englischer Übertragung. Dies Bedenken betrifft auch Arno Holzens zeitweiligen literarischen Kompagnon Paul Ernst, in dessen Gedichtband »Polymeter«, 1898 kurz nach dem ersten Phantasusheft erschienen, [44] Herbert Fussy keineswegs als einziger die »ersten selbständigen deutschen Haiku« zu finden meinte. [45] Gedacht ist dabei an ein paar kurze »impressionistische« Notate dieser Art, hier auch zum Teich passend: Eine Wasserrose, Vielleicht während Ernsts Arbeit an seinem »Leutnantsgedicht« entstanden? Dieses war bewußte Parallele zu einem Motiv in Holzens Thiergartengedicht. An Anthologien japanischer Dichtung mit vielleicht gewisser Breitenwirkung erschienen 1884 »Altjapanische Frühlingslieder« von Rudolf Lange und zu spät für das Holzsche Teichgedicht 1894 die »Dichtergrüße aus dem Osten« von Karl Florenz. Beide ohne Bashō, denn Lange hatte für seine Übersetzungen die Sammlung Kokinwakashu aus dem 10. Jahrhundert benutzt, Florenz japanische Gedichtsammlungen aus dem 7. und 8. Jahrhundert. Sollte es frühere Veröffentlichungen von Haiku-Übertragungen gegeben haben, wären diese wohl »in nur schwer zugängliche Publikationsmedien eingeschreint«, wie vom Japanologen Robert F. Wittkamp in Bezug auf Veröffentlichungen des auch mit japanischer Literatur befaßten Sinologen August Pfitzmaier (18081887) angemerkt. [47] Ihnen fehlte, wenn es sie denn gab, auf jeden Fall die Breitenwirkung. So bleibt also die Feststellung: Eine »Empfänglichkeit für Naturschönheiten«, wie sie der Große Meyer als eine der »Haupteigentümlichkeiten des Volksgeistes« in der japanischen Dichtung walten sieht, [48] brachte halt auch etwa 250 Jahre nach Bashō und weit entfernt in Berlin Arno Holz dazu, Teich und Frosch in ein Gedicht eingehen zu lassen, mitsamt dem zugehörigen Wassergeräusch. Anfangs ist der Sprachstil auf Nichtgeheures angelegt. Per Changeant der sprachlichen Register sorgen dann die lautmalerische Interjektion »plitsch!« ein bißchen nach Wilhelm Buschens vom bösen Kaspar Schlich ins Wasser geworfenen, von daher onomatopoetisch »Plisch und Plum« genannten Hunde von 1882 klingend, von Zimmermann als Kalauer gewertet und der wie kindliche Zungenschlag beim Faunskopf, der »runtergekullert« ist, für ironische Brechungen. Zimmermann nicht genehme Störung auch durchs synästhetische »Verrröcheln« fürs Schwinden des letzten Abendscheins am Himmel, halbwegs expressionistisch anmutend. In Richtung Synästhesie auch die Wahrnehmung der vom Frosch erzeugten konzentrischen Wellen: in der Dunkelheit nicht gesehen, aber »gefühlt«. Was den »Kalauer« angeht, wäre er dem ähnlich lautmalenden Frosch in der deutschen Version des von Alan Watts englisch wiedergegebenen Frosch-Haiku von Bashō ebenso anzukreiden: Uralter Teich. Die englische Interjektion »plop« sieht hier aus wie aus der Fassung des Engländers Alan Watts übernommen. »Mein« Kleiner Muret-Sanders gibt als deutsche Äquivalente »plumps!, platsch!« an. Der Rechtschreibungsduden verzeichnet erst ab irgendwann nach der 23. Auflage von 2004 das umgangssprachliche Verb »ploppen« mit der Bedeutung »ein leicht knallendes Geräusch erzeugen«, wie in der 26. Auflage zu finden haben »plop« und »ploppen« aus der Comicwelt her den Weg zu uns gefunden? Alles Onomatopoetika, für die es meinem Empfinden nach eher einen Frosch in Ochsenfroschformat brauchte. Holzens »plitsch!« hätte allemal besser gepaßt, die sozusagen in der Intensität geminderte, nicht ganz so mundaufsperrende Hälfte des Doppels »plitsch, platsch«. Entsprechend ließe sich fürs Englische ans entschieden wässerige »splash« denken oder auf einen kleineren Frosch bezogen gar à la Arno Holz an die erste Hälfte von »splish splash«. Robert F. Wittkamp zitiert Anna von Rottauschers Frosch-Haiku-Übertragung von 1939: Ein stiller, öder Teich, ein träumerisches Ried. Zur Geräuschentwicklung merkt er an: »Man stelle sich nur vor, mit welcher Geschwindigkeit der arme Frosch kleine Kreise ziehen muß, damit es rauscht!« [46] ein Hochgeschwindigkeitsfrosch also, zudem vielleicht ein ziemlich gewaltiger. Ebenso rauschend schon die von Wittbrodt im Abschnitt zum »Alten Garten« [42] zitierte, 1909 veröffentlichte Übertragung von Karl Florenz: Ein stiller, öder Teich Seit noch kindheitlichem Schmökern im väterlichen Bücherschrank mir im Gedächtnis und sich »natürlich« sofort meldend, das Rauschen durchaus plausibel: Es rauscht in den Schachtelhalmen, Einen Ostasiatischen Ochsenfrosch gibt es, doch er kommt oder falls heutzutage vielleicht doch als Neozoon, dann wenigstens damals wohl nicht in Japan vor. Bashōs Frosch dürfte kleiner gewesen sein. In »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«, einem von Géza S. Dombrády ins Deutsche übersetzten Reisetagebuch Bashōs, kommt in einem der eingestreuten Haiku tatsächlich ein Ochsenfrosch vor: Komm heraus, Der Übersetzer merkt allerdings auf der Seite gegenüber an: »Mit Ochsenfrosch (hikigaeru, bufo vulgaris) ist eigentlich eine Krötenart gemeint.« [50] In jedem Fall reizt die Interjektion »plitsch« im Gedicht von Arno Holz ein bißchen zum Lachen wobei ich nicht umhin kann, mir vorzustellen, daß auch Bashō bei seiner sprachlichen Kondensierung dieses Minimalgeräusches leicht gelächelt hat. Und wenn ich Wittkamp folge, [51] ist so ein Lächeln durch weit mehr als gerade nur so eine winzige »Naturschönheit« verursacht, bezieht sich intertextuell auf das, was topisch in japanische Literatur eingewachsen war und den Großen Meyer dazu brachte, dies tendenziell irrig also den »Haupteigentümlichkeiten des Volksgeistes« zuzurechnen. Wittkamp: »Manche Haiku von Bashō stellen einen phänomenalen Bruch mit dem gesamten Kanon dar.« Das gelte »auch für sein Frosch-Haiku«. Und: »Gerade seine frühen Haiku sind so stark mit der klassischen Literatur verbunden, dass eine Einzelübersetzung ins Deutsche unmöglich ist, ohne gleichzeitig einen Berg von Kommentaren und Hinweisen zu liefern, die dem Leser der damaligen Zeit bekannt waren.« Holzens »Alter Garten« könnte übrigens durchaus eine Weile vor dem Erscheinen im »Modernen Musenalmanach« entstanden sein, denn schon in der ersten Hälfte der 1880er Jahre experimentierte Holz mit dem für seine Phantasusgedichte von 1898/99 propagierten »natürlichen Rhythmus«. So nahm er das laut Hans W. Fischer [52] 1886 verfaßte Gedicht »Nacht« in die 1892 erschienene zweite Auflage seines »Buchs der Zeit« auf, [53] ließ dann das erste Phantasusheft damit beginnen. [54] Hans Dieter Zimmermann vergleicht Bashōs und Holzens Teichgedichte, wobei es ihm nicht darum gehe, daß Holz »am japanischen Haiku gemessen und dann verworfen« werde. Dennoch paßt ihm die janze Richtung nicht: Und was bei Holz immer wieder auffällt: seine Wichtigtuerei, die auch in diesem Gedicht in den getadelten Stellen zum Ausdruck kommt, seine Redseligkeit, manchmal auch sein Bramarbasieren. Da hat er etwas von der Großspurigkeit des Berliners des Kaiserreichs. Da fehlt eben jene poetische Bescheidenheit des japanischen Dichters, der in seinem Gedicht verschwindet, ganz und gar. [55] Abschließend kommt Zimmermann zum Urteil: So mache ich Holz nicht zum Vorwurf, daß er keine chinesischen Gedichte geschrieben hat. Ich mache ihm zum Vorwurf, daß er keine besseren Gedichte schrieb, also Gedichte, in denen er mit weniger Worten mehr gesagt hätte. Das hätte er bei den Chinesen und Japanern lernen können: eine gewisse Sparsamkeit in der Wortwahl. [56] Sparsamkeit in der Wortwahl, wie von Zimmermann geschätzt, hatte Holz ja zur Genüge in seinen beiden Phantasusheften demonstriert. Dementsprechend stellte Gerhard Schulz, der ebenfalls mit Holzens Großformen nichts anfangen kann, [57] den Zyklus von 1898/99 weit über die späteren Ausformungen: »So sind die frühen Phantasus-Gedichte eigentlich das Vollendetste, was Holz als Lyriker geschaffen hat.« [58] An den Großphantasus als deutlich erkennbares Alterswerk ist jedoch mit andrem Instrumentarium heranzugehn. Ich machs mir einfach und zitiere dazu aus meiner Besprechung der Tonaufnahme »Der längste Satz der Weltliteratur. Aus dem Phantasus. Gesprochen von Klaus M. Rarisch«, S Press Tonband von 1973: Als ob tatsächlich die Erstfassung des »Phantasus« mit den späteren Fassungen zu vergleichen wäre! Die genauere Beschäftigung mit dem Holzschen Werk ergibt vielmehr, daß es in zwei grundverschiedenen Phasen entstanden ist. Die erste Phase ging ungefähr mit Holzens viertem Lebensjahrzehnt zu Ende; gegen Ende dieser Phase legte er Erst-»Phantasus« (1898/99) und »Dafnis« (1903) vor. Das Arbeitsprinzip auf eine grobe Formel gebracht, ging es Holz darum, Sachverhalte und Bilder zum passenden Wort kommen zu lassen, mehr oder weniger Kurzformen waren das Ergebnis. Im fünften Lebensjahrzehnt vollzieht sich jedoch unter großen Schwierigkeiten eine tiefgreifende Umorientierung, nach deren Abschluß nun die Wörter zu den Bildern kommen, und sind sie nicht willig, mit Gewalt d. h. zur Not mit Wörterbüchern u. dgl. dorthin getrieben werden, und zwar auch gleich in hellen Haufen. 1912 beginnt Holz erneut mit der Arbeit am »Phantasus« und bleibt bis zu seinem Tode dabei. Die hundert Gedichte der Erstfassung sind für den nun entstehenden neuen »Phantasus« aber meist nicht mehr als ein dünner motivischer Rahmen, der völlig neu mit Wortmaterial ausgefüllt wird. [59] Die 1905 begonnene Arbeit an der umfangreichen Tragödie »Sonnenfinsternis« 1908 zuerst im Druck erschienen markiert bei Arno Holz die Wende zum Alterswerk, gipfelnd in den Großgedichten des Phantasus. [60] Die burleske »Blechschmiede« nicht zu vergessen. Er wurde zum Außenseiter. Das hatte er schon früh geahnt, schrieb 1903 an Maximilian Harden von der »Erkenntniß, die mir mit jedem Jahre mehr aufgegangen ist, daß sich mit Kunst im allersublimsten Edelsinne auf Zeitgenossen nicht wirken läßt«. Die gemeinsam mit dem Freund Oskar Jerschke verfaßten, auf Bühnenerfolg zielenden Theaterstücke »Traumulus« tatsächlich eine Zeitlang viel gespielt würden ihm die Möglichkeit sichern, »nach vielleicht 10 oder meinetwegen 20 Jahren meinen einen Phantasus unterzubringen, in dem ich jene Kunst geben will, die auf Zeitgenossenschaft verzichtet«. [61] Konsequent im Sinne seines Wahlspruchs »Lex mihi Ars«. [62] Entsprechend witzelte Holz mal bitter über eine Phantasusausgabe in dreizehn Exemplaren: zwölf für die Freunde, eins für die Masse. oooOooo (Illustration aus Hans Steiners lithographischen Randzeichnungen zu Arno Holz: Deutsches Dichterjubiläum. Berlin-Wilmersdorf: Werkverlag 1923. »Fünfzig Exemplare, als besondere Ausgabe sind handkoloriert und von Autor und Künstler signiert.«) |
Rechte bei Robert Wohlleben |
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