Literaturort Berlin: |
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Holz war zeitlebens ebenso reich an Talent und Fleiß wie arm am Beutel, sprich an literarischen Erfolgen. Er arbeitete täglich mindestens zehn Stunden am Schreibtisch. Für sein »Buch der Zeit«, das 1885 die deutsche Großstadtlyrik begründete, erhielt er ein Honorar von 25 Mark von dem Züricher Verlag, der sich über die politischen Bedenken der deutschen Editionshäuser hinwegsetzte und das Werk zu veröffentlichen wagte. Nach zehn Jahren waren von der Erstauflage, die den Namen des Dichters dennoch bekannt gemacht hatte, ganze 60 Exemplare verkauft worden. Zwar ging seine (später auch erfolgreich verfilmte) Tragikomödie »Traumulus« seit der Spielzeit 1904/05 über alle großen deutschen Bühnen, aber was er bis dahin verdient hatte, belief sich auf 100 Mark pro Jahr, wie sein Freund Robert Reß feststellte. Ohne die finanzielle Unterstützung durch Bewunderer und Angehörige wäre Holz, der keinen bürgerlichen Beruf ausübte und dem eine Gottfried Bennsche »Doppelexistenz« wesensfremd war, zweifellos verhungert. Die letzten neunzehn Jahre seines Lebens arbeitete er tagsüber, wegen seiner extremen Lärmempfindlichkeit, nicht aber, wie es hämische Literaturwissenschaftler behaupteten, um sich märtyrerhaft zur Spitzwegfigur zu stilisieren und auf das Mitleid des Publikums zu spekulieren, in der berühmt-berüchtigten Dachkammer in der Schöneberger Stübbenstraße 5. Kurz nach seinem Tod, am 18.11.1929, brachte der »Simplicissimus« eine Zeichnung von Th. Th. Heine, die die spartanische, nun verwaiste Dachkammer darstellte und zwei Besucher mit folgendem Dialog als Bildunterschrift zeigte: »Tragisch, daß er den Nobelpreis nicht erlebt hat, dann hätte alle Not ein Ende gehabt!« »Das hat sie ja so auch!« Diese Anspielung bezog sich auf die allgemeine Überzeugung der Zeitgenossen, daß Holz den Nobelpreis, für den er fünfmal vorgeschlagen wurde, 1929 endlich erhalten hätte, wenn er nicht kurz vorher gestorben wäre, denn nach den Statuten durfte der Preis nur an Lebende verliehen werden. So erhielt ihn als Ersatzkandidat Thomas Mann, der sich schon lange vorher über Arno Holz mokiert hatte und der nun vorsorgte: elf Tage vor dem Tod von Holz schrieb Thomas Mann just an jenen Gerhart Hauptmann, den er im »Zauberberg« persifliert hatte, einen pharisäerhaften Brief: »Da wir bei Preisen sind: was sagen Sie zu der weitverbreiteten Nachricht, daß dank der Propaganda einer Oberlehrer-Clique, die ihn vorgeschoben hat, Arno Holz den Nobelpreis erhalten soll? ... ich würde eine solche Preiskrönung absurd und skandalös finden ... Es wäre ein wirkliches Ärgernis, und man sollte wahrhaftig etwas dagegen tun.«
Gab es, außer dem Haß seiner Feinde und der üblichen Indolenz des Publikums, Gründe für den Mißerfolg von Holz? Sein literarisches Schicksal hatte sich bereits am 7. April 1890 entschieden. An diesem Tag wurde die Premiere seines gemeinsam mit Johannes Schlaf verfaßten Arme-Leute-Dramas aus dem Berliner Elendsmilieu »Die Familie Selicke« in der »Freien Bühne« zum Fiasko. Die Presse druckte Beschimpfungen wie: »Diese Thierlautkomödie ist für das Affentheater zu schlecht!«; und es half nichts, daß Theodor Fontane in der »Vossischen Zeitung« feststellte: »Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiete haben, daneben verschwindet«. Denn Gerhart Hauptmann war dem Duo Holz/Schlaf um ein entscheidendes halbes Jahr zuvorgekommen, mit dem Premierenskandel seines Bühnenerstlings »Vor Sonnenaufgang« am 20. Oktober 1889. Übrigens war des Stück Holz und Schlaf (bzw. deren Pseudonym »Bjarne P. Holmsen«) zugeeignet; der Titel stammte sogar von Holz, der Hauptmann mit Rat und Tat geholfen hatte. Das Publikum der »Freien Bühne« hatte an der Provokation durch Hauptmann genug, ließ Holz und Schlaf fallen, wünschte fortan Ausgewogeneres zu sehen und wurde von Hauptmanns nächsten Stücken dementsprechend bedient. Holz mußte sich verbittert zurückziehen und gestand, den Kampf verloren zu haben: »Nach Aufführung der »Familie Selicke« waren alle unsere materiellen Mittel erschöpft und neben uns operierte Hauptmann mit, wie ich schätze, vielleicht einem Minimum von 150 000 Mark bar. Aus diesem Vergleich ergab sich als notwendig: Hauptmann mußte durchkommen, ganz gleich wann, er konnte es ja aushalten, er hatte 99 Chancen gegen eine, wir aber umgekehrt eine gegen 99.« Holz hatte immer unter dem mißverständlichen, von ihm abgelehnten Schlagwort »Naturalismus« zu leiden. Was er künstlerisch wollte, war keine Milieutreue im Sinne von Hauptmann oder Heinrich Zille, sondern die weitestmögliche Annäherung an die umfassende, sowohl die äußere Umwelt als auch die entsprechenden Empfindungen des Menschen, seine seelische Innenwelt einschließende Natur. In seinem theoretischen Werk von 1890 »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« formulierte er es quasi mathematisch: »Kunst = Natur minus x«, wobei die Größe »minus x« für die Unzulänglichkeit der sukzessive zu perfektionierenden künstlerischen Mittel steht. Die poetische Version seiner Grundüberzeugung lieferte Holz u.a. in der selbstporträthaften Rolle als »Herr Mitte Dreißig« in seiner großen Literatur-, Politik- und Weltanschauungssatire »Die Blechschmiede« mit dem Vers: »Kunst ist Sehnsucht, nie gestillt«. In der »Blechschmiede«, zuerst 1902 erschienen, setzt sich Holz nicht nur mit seinen Lyriker-Kollegen auseinander, vor allem mit seinem Antipoden Stefan George, sondern auch mit den dominierenden Ideologien der Zeit und deren Repräsentanten, nicht zuletzt, notgedrungen leicht verschlüsselt, mit Kaiser Wilhelm II. und dem Wilhelminismus [1]. Dabei entwickelt er die avanciertesten Techniken. So besteht der nach Timbuktu verlegte Mittelachsen-Monolog des »Niepepiep« als Satire auf Wilhelm und dessen »Siegesallee« im Berliner Tiergarten im wesentlichen aus einer Zitat-Montage der Hofberichterstattung zur Feier von Kaisers Geburtstag des »Berliner Lokal-Anzeigers«- vom 27. und 28.1.1898. Da Holz in der »Blechschmiede« quasi radiophone Mittel vorwegnahm, konnte eine 1979 produzierte Hörspielbearbeitung des Werkes zu einem der größten Erfolge in der Rundfunkgeschichte werden. [2] Das Hauptwerk von Holz, der »Phantasus«, an dem er sein halbes Leben lang arbeitete und von dem er immer neue, erweiterte und perfektionierte Versionen vorlegte, bietet in der Urfassung von 1898/99 hundert eher impressionistische Kurzgedichte in zwei dünnen Heften und besteht in der 1961/62 veröffentlichten Nachlaßfassung aus drei Bänden mit 1591 Druckseiten im Großformat. Es handelt sich um ein kosmisch-allumfassendes Nonplusultra-Poem, das technisch dem in der Mittelachsenzeile veranschaulichten natürlichen Sprechrhythmus folgt und akustisch rezipierber ist, weil die Sprache selbst im längsten Satzgebilde der Weltliteratur aus 3720 Zeilen auf 95 Seiten grammatisch korrekt konstruiert immer »klingt«. [3] Von einem. fotografisch flachen »Naturalismus« sind wie die exotischen auch die in Berlin lokalisierten Phantasus-Gedichte wegen der kosmischen Perspektive weit entfernt. Das Milieu, zuweilen auch das Zille-»Milljöh«, stimmt immer, aber Holz erschöpft sich nicht darin. So sitzt in Berlin N., vor der Nazerethkirche, ein alter Mann und bettelt, aber dieser zahnlose, verkommene, alkoholzerfressene Bettler ist »der liebe Gott«. Hätte Holz, wenn schon die Sprachgewalt seiner Lyrik den ungeübten Leser überfordern mag, nicht als Dramatiker im Kampf gegen Hauptmann schließlich doch reüssieren können? Die fünf Gemeinschaftsstücke mit Oskar Jerschke (1903-11, darunter »Traumulus«), zum Broterwerb als handfestes Bühnenfutter geschrieben, wurden von Holz nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen und zählten für ihn künstlerisch nicht. Sein Zyklus »Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen« war auf 25 Stücke angelegt, von denen er drei vollendete. Mit der Literatur- und Polit-Komödie »Sozialaristokraten« von 1896 wollte Holz das Glück erzwingen. Umso herber fiel dann die Enttäuschung der von ihm selbst veranstalteten Premiere am 15. Juni 1897 aus. Der blutjunge Max Reinhardt spielte mit, wollte aber später als Theaterpapst nicht mehr daran erinnert werden. Holz schilderte den Ablauf rückblickend auf 17 Phantasus-Seiten ebenso wahrheitsgetreu wie amüsant und anrührend: Riesenerfolg beim Publikum und gnadenloser Verriß des Starkritikers, späteren Burgtheaterdirektors und Hauptmann-Freundes Paul Schlenther, der das Stück als »Bierulk« abtat. In Wirklichkeit war es eine der wenigen bühnenwirksamen Komödien der deutschen Literatur mit einem zentralen Thema der Zeit: dem unglücklichen Verhältnis zwischen kleinbürgerlichen Literaten, den »lebensreformerischen« Halb-Bohemiens in Friedrichshagen, und der SPD nach dem Erfurter Parteitag. Allenfalls dieses Stück dürfte bekannt sein, weil Boy Gobert damit 1980 seinen Einstand als Intendant und Regisseur im Berliner Schloßparktheater gab; seine Inszenierung erlebte mehr als 70 Vorstellungen bei stets vollem Hause und erhielt Kritiken in 200 Zeitungen und Sendern. [4] Holz stellte darin einen mit unverdauten Nietzsche-Phrasen operierenden antisemitischen Parteikarrieristen dar und antizipierte prophetisch den eine ganze Generation später virulent werdenden Typus Goebbels. Die folgenden Tragödien des Dramenzyklus, »Sonnenfinsternis« (1908) [5] und »Ignorabimus« (1913), wurden in Berlin noch nie gespielt und nach unzulänglichen Inszenierungsversuchen in Hamburg und Düsseldorf für unaufführbar gehalten. Erst 1986, also 57 Jahre nach dem Tod des Dichters, wurde dieses Vorurteil im italienischen Prato glänzend, aber für die deutsche Bühnenroutine folgenlos widerlegt. Der Titel »Ignorabimus« (Wir werden es nie wissen) bezieht sich auf ein 1872 von dem berühmten Berliner Physiologen Emil du Bois-Reymond geprägtes Schlagwort, das einen heftigen und langandauernden Gelehrtenstreit um die Grenzen der naturwissenschaftlich-positivistischen Erkenntnisfähigkeit nach sich zog. [6] Holz griff das Problem auf und radikalisierte es gedanklich, indem er den Streit in die Familie des Gelehrten verlegte und der Scheinautorität des resignierten Positivisten einen professoralen Schwiegersohn entgegenstellte, der als Wissenschaftsrebell metaphysische Jenseitshoffnungen experimentell verifizieren will und, in seinem Absolutheitsstreben tragisch scheiternd, das Leben der eigenen Frau.durch spiritistisch-okkultistische Praktiken zerstört. Das Stück ist als Gegen-Faust konzipiert und sagt beiläufig den Ausbruch des Ersten Weltkrieges voraus. Es ist klassisch fünfaktig gebaut, spielt an einem einzigen Tag des Jahres 1912, wahrt die Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, analysiert die fatale Familienvorgeschichte zurück bis in die Großvätergeneration und kommt mit fünf Personen aus, deren Sprachduktus durch zahllose Regieanweisungen exakt festgelegt wird und die fast übermenschliche Rollenanforderungen an die Schauspieler stellen. Am 18. Mai 1986 wurde das Stück im »Teatro Fabbricone« in Prato, dem unbekannten toskanischen Hinterhof der Kunstmetropole Florenz, zum ersten Mal ungekürzt aufgeführt. [7] Der Regisseur Luca Ronconi, der dafür als Genie gefeiert wurde, hatte sechs Monate intensiver Probenarbeit und anderthalb Milliarden Lire an Produktionskosten investiert. Die Premiere dauerte einschließlich der vier Zwischenaktpausen genau zwölf Stunden, erntete begeisterten Publikumsapplaus sowie triumphale Kritiken der gesamten italienischen Presse und zog eine erfolgreiche Aufführungsserie bis zum Herbst 1986 nach sich. In Deutschland erschienen darüber ganze drei Besprechungen, darunter ein scharfer Verriß in der FAZ, deren Kritiker aber im Gegensatz zum Verfasser dieser Zeilen die Premiere gar nicht gesehen hatte und dies skandalöserweise verschwieg. Da das Stück in unvergleichlicher Tiefenschärfe Berlin zu einer Zeit thematisiert, als die Stadt noch eine wirkliche Metropole war, hätten unsere Kulturpolitiker das italienische Ensemble selbstverständlich zu einem Gastspiel nach Berlin einladen müssen, aber die sogenannten Verantwortungsträger lehnten diesen Vorschlag unter grotesken Vorwänden ab. Offenbar waren und sind die Toskana-Fraktionen der parlamentarischen Parteien im selben Maße kulinarisch orientiert wie kulturell desinteressiert. 1979 ignorierte die Senatskulturverwaltung sogar die Anregung, zum 50. Todestag des Dichters einen Kranz auf seinem Ehrengrab im Friedhof der Prominenten an der Heerstraße niederzulegen. Das Grab wurde im Krieg zerbombt und nach 1945 rekonstruiert; es ist heute leer. So ist die Inschrift der Grabplatte, die Schlußstrophe seines »Phantasus«, wörtlich in Erfüllung gegangen: »Mein / Staub verstob, / wie / ein Stern strahlt mein / Gedächtnis!« Sein Gedächtnis wird auch die bürokratische Mißachtung überstrahlen. Arno Holz hat einen Monolog aus dem »Ignorabimus« wörtlich als Gedicht in den »Phantasus« aufgenommen: »Unser bestes / Sehnen / schreit nach Gerechtigkeit!« Heute ist es die Sache nicht einer inkompetenten und arroganten Kulturadministration, dem Werk des Dichters endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dazu aufgerufen sind seine Leser. (Im TAGESSPIEGEL vom 3.12.1995 RW fügt Anmerkungen ein: Rechte bei Klaus M. Rarisch
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