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Robert Wohlleben:

Sonett – funktioniert die Form?

 

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1.

Alter Schlauch?

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Form und Funktion

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Zur Sonettstruktur

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Sonett als Brief

9.

Gespräch in Sonetten: Tenzone

10.

Übertragungen

11.

Meiendorfer Drucke:
Container für Sonette

12.

Sonett im Internet + Schluß

2. Form und Funktion



Mein Rechtschreib-Duden versieht das Wort «Sonett» mit einer Minimal-Erläuterung: «eine Gedichtform». Anders als beim Wort «Gedicht», wo nichts erläutert wird, setzte die Redaktion Kenntnis der Bedeutung offenbar nicht unbedingt voraus. Das «Deutsche Wörterbuch» von Gerhard Wahrig erläutert das Gedicht als «Sprachkunstwerk in Versen» und geht beim Sonett ein bißchen weiter: «Gedicht aus zwei vier- u. zwei dreizeiligen Strophen [zu ital. sonare ‹klingen›]». Das kann ausreichen, Sonette mit ihren zwei Quartetten und zwei Terzetten oder einem Oktett und einem Sextett nach dem Druckbild als solche zu identifizieren. Handelt es sich dann um ein einigermaßen mustergerechtes Sonett, lassen sich weitere Regularitäten ablesen: gern regelmäßig alternierende, sämtlich reimende Zeilen mit fünf Hebungen, Reimschema mehr oder weniger streng. Das also wäre – auf minimale Kennzeichen reduziert – die Form des Sonetts.

Eigentlich noch nicht ausreichend für die aktive wie rezipierende Beschäftigung mit dieser Gedichtform, wie Klaus M. Rarisch mal angemerkt hat. Er verglich mit dem Schachspiel, wo bloße Kenntnis der Regeln längst noch nicht genügt, auch nur in Vereinsmeisterschaften zu bestehen oder die Raffinessen in den Zügen von Meisterpartien zu erkennen.

Wo von Form die Rede ist, darf ich das Diktum des amerikanischen Architekten und Hochhauspioniers Louis Henry Sullivan (1856–1924) ins Spiel bringen:

It is the pervading law of all things organic and inorganic, of all things physical and metaphysical, of all things human and all things superhuman, of all true manifestations of the head, of the heart, of the soul, that the life is recognizable in its expression, that form ever follows function. This is the law.

(«The Tall Office Building Artistically Considered», Lippincott’s Magazine, März 1896)

Auditorium Building, Chicago
Dankmar Adler & Louis Sullivan:
Auditorium Building, Chicago, 1887–89

Das Chicagoer Auditorium war Adlers und Sullivans erster Großauftrag. Ein Konsortium von Geschäftsleuten ließ das Gebäude zuvörderst als großes privates Opernhaus erbauen (4200 Plätze). Aus Wirtschaftlichkeitsgründen wurden ein Hotel (400 Zimmer) und ein Trakt mit 136 Büros eingegliedert, so daß ein Mehrzweckgebäude zu planen war.

Wobei Sullivan, nebenher gesagt, auf eine Erkenntnis des amerikanischen neoklassizistischen Bildhauers und transzendentalistischen Ästhetikers Horatio Greenough (1805–1852) zurückgeht, dem James Fenimore Cooper 1828 in Florenz durch Vermittlung von Aufträgen zu Portraitbüsten aus verzweifelter Lage half. Greenough traf dort auch mit Ralph Waldo Emerson zusammen und blieb mit ihm in Kontakt. Von dessen Freund William Henry Furness, einem unitarischen Geistlichen, ist überkommen, daß Emerson gar in der Form der Gatling Gun, des 1862 von Richard Jordan Gatling entwickelten Revolvergeschützes, «das in der Schlacht am James River 1864 mit Erfolg angewendet wurde», wie mein Meyer von 1907 beifällig anmerkt – daß er also in der Form der Gatling Gun «terrible beauty» erblickte, weil sie der Funktion der Massenvernichtung so wunderbar angepaßt war. Sullivan war Schüler des Furness-Sohns Frank, eines Architekten, und dürfte so an Greenoughs Thesen geraten sein.

Gatlings Revolver-Kanone

Gatling Gun
 

Ob sich auch die Form Sonett gemäß der These von Greenough und Sullivan einer Funktion fügt? Dazu wäre zu überlegen, welche oder was für eine Funktion das denn sein könnte. Ohne das ganze Feld wenigstens der deutschsprachigen Lyrik umzugraben, mit Abzählreimen, Gebetlein wie «Ich bin klein / mein Herz ist rein» und Gelegenheitsgedichten für Familienfeiern, Kirchenliedern, Bänkelsang und Balladen, Storms «Abseits» und Ringelnatzens Kuddel Daddeldu, Walther, Klopstock, Rühmkorf und Heißenbüttel samt vielerlei anderem bis hin zu Alexander, was ja alles irgendwie in einen Betracht gehören würde. Bei der Frage nach der Funktion schränke ich also ein auf Sonette, wie sie mir begegnet sind, begegnen und aufs Papier geraten. So verengt und verzweigt sich die Frage: Funktion für mich als Leser, als Autor und als Mikroverleger.

Ignorieren möchte ich den Satz «Form follows historical precedent», vom Hochhaus-Architekten Dankmar Adler (1844–1900), Sullivans Compagnon im Büro Adler and Sullivan Co., Chicago, ebenfalls 1896 zu Protokoll gegeben – da hatten sich die beiden längst überworfen. Im Hinblick aufs gut 750 Jahre alte Sonett könnte ja diese Einlassung auf den ersten Blick durchaus als ganz passend erscheinen, indem sie bequem ins Zopfigkeits-Vorurteil einzugemeinden wäre. Nach meiner Einschätzung würde sie jedoch allzu leicht dazu verleiten, zu vieles unter den Tisch fallen zu lassen, was sich im Spannungsfeld zwischen perpetuierender Form und stets neu einfließenden Mitteilungen und Stimuli ergeben hat, ergibt und gewiß ergeben wird.

 

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