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Robert Wohlleben:

Sonett – funktioniert die Form?

 

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8. Sonett als Brief



Eher selten hab ich Sonette geschrieben, die nicht sich an reale Personen richten. Das Sonett «Grenze», das Grabgedicht für Peter Jagenteufel, ist ein adressiertes … aus der mit fortschreitenden Jahren wachsenden Reihe der Abschiedsgedichte. Sonderbar ist mir «Sandversteck» für den sterbenden Dieter Gätjens, der sich immer mit Spaß Schüttelreime erfunden hatte, zum Beispiel «Klassische Aufnahme»: «Im Hintergrund vom Photo lagen / selbstvergessen Lotophagen.»

 

Sandversteck

Hoch aufgerichtet an der Wand vergehn
die Fensterkreuze in vertrackten Nonen.
Die Schattengötzen auf gelackten Thronen
sehn Gruß und Abschied elegant verwehn.

Sind Hand und Fuß mit Halt und Stand versehn,
vertappen rundvereist in nackten Zonen,
wo doch von Kursen die gezackten lohnen.
Wir können den verwehten Sand verstehn.

Der Weg von Tisch zu Bett ist gut vermessen,
wir werden beide nicht zersägen wollen,
solang ein Tuch noch Hieb und Stich verdeckt.

Weht bös! Da sei kein Helm und Mut vergessen.
Weht fort: Was wir noch hätten wägen sollen,
hält sich in uns für mich und Dich versteckt.

Abschiedsgedicht für Dieter Gätjens

Die Reime kommen als sogenannte reiche Reime daher, reimen also auf mehr als eine Tonsilbe, und sind überdies durchgehend «geschüttelt», wenn auch in den Quartetten leicht verwürfelt. Schüttelreim, den zu verwenden mir sonst nie einkommt, zwang sich in diesem Fall auf. Als sonderbar erscheint mir, daß der humoristische Effekt auszubleiben scheint, sonst doch so unlösbar an Schüttelreime geknüpft.

 

Auf Steinwerder / Photo: Marek Kandel
Photo: Marek Kandel

Doch mehrheitlich und wohl natürlich sind (nicht moribunde) Lebende angesprochen. Die insofern bei weitem nicht so einschneidenden Sonette beziehen sich motivisch auf diese oder jene Biographica aller möglichen Art und Sorte. Zwischen der Adressatin des schon zitierten Liebesgedichts «Törn» und mir geschah ein Über-Stag-Gehen. Das auf dem nicht mehr existierenden Anleger Steinwerder gegenüber den St. Pauli Landungsbrücken angesiedelte Sonett «Photo» ist anders verumständet. Mein Freund Thomas Schmidt (Guitarre), Heinz Erich Gödecke (Posaune), Adam Zabłocki (Querflöte) und ich hatten dort unterm Dach der offenen Wartehalle Texte und frei flottierende Musik zum Thema «Inseln» geboten. Im Moment der Schlußkadenz funkelte jenseits der Elbe das freitägliche Domfeuerwerk auf.

Marek Kandel schenkte mir später eine kleine Sammlung großformatiger Schwarzweißaufnahmen von der Veranstaltung. Von Hans-Michael Bock dazu die anerkennend süffisante Bemerkung: «Jazz-Kalender der fünfziger Jahre!» Folgendes für Marek Kandel geschrieben:

 

Photo

Was hat gemacht die Schatten um die Brauen?
Von wo gesammelt hat sich all die Nacht?
Was hat gebracht von fern die ganze Tracht
von Lichtern, viel zu fern, noch hinzuschauen …?

Wer ist gewesen, hier an diesem rauhen
Gewänd sich aufzureißen, wie er lacht
und auch wie nicht? Reflexe, abgemacht
im Abendgrauen, Morgengrauen, Grauen …

Die Blende … stimmt: Was fern ist, bleibt am Rande
verwischt in Graugetön und weißes Rauschen,
gekörnte Halos treibt der Hintergrund.

Entfernung … immer gut: Sie fugt die blande
Pupille ein, wo Schatten sich vertauschen
im Restlicht her von Strom und Sternen und …

Und angesichts der Bedrängnis und des Erschreckens, die eine Zwölfjährige seitens beziehungsweise vor der Welt empfand, schrieb ich für sie:

 

Nachttäglich

Die Wände schwinden nachts zu Nebelwänden,
vibrieren sacht aus ungewissem Grund.
Das Mobiliar gibt nach, verfällt dem Schwund.
Die Hände tasten, ob sie Anhalt fänden.

Ein Tontier muht aus seinen Tongeländen
ixmal … das hängt sich im Gedächtnis wund.
Die Fenster lösen sich aus dem Verbund
des Raums. Da weiß der Blick nicht, wo zu enden.

Und tags im Lidschlag stehn Fassaden alle
im Licht versteint. Verrenkte Zweige läßt
das Auge los, schließt Rufe in Kristalle.

Tagtäglich neu aus harterstarrtem Nest
der Fall der Schwalbe in die Himmelsfalle.
Sie steckt als schwarzes Himmelszeichen fest.

für Lena

Ein drittes Adressiertes noch, geschrieben für den Freund Dieter Frisch, den ich um 1960 herum wenn nicht in der Teestube im Bauzentrum an der Esplanade, dann im Alstercafé zu treffen wußte, am alsterwärtigen Esplanadenende gelegen. Es wurde abgerissen und durch ein Beton- und Glas-Bürogebäude ersetzt. Außer Stahlbeton wird auch sogenannter Gasbeton im Spiel gewesen sein. Die im Sonett vorkommende Uhr habe ich allerdings nicht dort, sondern nach einem Gespräch mit Dieter Frisch im Café des Dammtorbahnhofs als Pfand hinterlassen müssen, um uns beide vorläufig auszulösen. Ich bekam sie zurück.

 

Alstercafé

Wo stramm noch spukt ein Samtkleid in Bordeaux,
entfernt und klein im Hirn verharrt Gemäuer.
Ein dürrer Ober brachte blaues Feuer.
Die Beute seiner Abkassierer-Droh-

gebärde fehlt noch heut: Der Paletot,
die Uhr, der Ausweis waren lieb und teuer …
und wir um keinen Deut belehrt- und schläuer.
In Fransen stand die Welt. Das bleibt auch so.

Wir sehn: Was sich die Welt als Wanst anfraß,
das goß sich in Beton mit Stahl und Gas.
Hier schließen Türen blind in einem fort.

Die Drehtür – Mahagoni, Messing, Glas –
rotierte mal nach dort, wo ich schon saß.
Nun mach schon: Drück B8 – Piaf – Mylord!

An mich selbst adressierte Sonette bilden inzwischen eine kleine Gruppe für sich. In allen sieben Meiendorfer Drucken mit meinen Sonetten steht eins am Schluß. Gedichte «Ad me ipsum» haben ja eine gewisse Tradition, von der ich jetzt nicht zu sagen wüßte, wann begonnen und von wem im einzelnen vertreten. Nur ein Beispiel jetzt. Es ist in den Meiendorfer Druck «Zug und Gegenzug» (Nr. 28) aufgenommen und läuft auf eine Schachpartie gegen mich selbst hinaus. (Dabei weigere ich mich schon seit Jahrzehnten, Schach zu spielen. Ich will die Aufregung nicht.)

 

Solitär

Wie ’s Amen in der Kirche dieser Clou:
Der Kreisel kippt mir von der Nasenspitze.
Ich kuck: Ein Ende haben all die Witze.
Ich pack die Siebensachen, schnür die Schuh.

Ich kauf mir keine Kuh, kein Kalb dazu.
Mein Geld gehört in Fensterbrettes Ritze:
Gut’ Nacht, Marie, es war sehr nett … ich flitze!!!
Dann heißt es: neues Spiel und neuer Schmu!

Mit Zug und Gegenzug gehts zum Entzücken:
Die Vierung Morgen, Mittag, Abend, Nacht
ist leicht zerpflückt, mit leicht verschmerzten Stücken

hab ich als Schwarz und Weiß das Spiel gemacht
und seh sich sachte auftun letzte Lücken.
Der Gegner ist am Zug. Und lacht. Und lacht.
 


Altona, im Dezember 2003
 

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