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Robert Wohlleben:

Sonett – funktioniert die Form?

 

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Der Umgang mit Klaus M. Rarisch – wir liefen uns kurz vor 1970 über den Weg – hat sicher entscheidend dahin gewirkt, daß mir Gedichte zunehmend und inzwischen fast ausschließlich in Sonettform sich fügen. Vor strophischer und gereimter Lyrik war mir nie bange. Benn und Rühmkorf/Riegel als meine frühen Lyrikheiligen bewahrten schon davor. Eine Neigung zur sogenannten Chevy-Chase-Strophe ist mir lieb:

 

Bon jour, Signor! – Sie hier, Mefrouw?
Wie fühlen wir uns jetzt?
Ganz unten pulst im Hautverhau,
was oben Wörter wetzt.

Doch es ging auch ohne Reim und Strophe:

 

Abends
der Große Himmel
von Curaçao bis Persiko.
Aber besoffen
bin ich von Dir.

(Ein Gedichtlein, das weitläuftig über die Dörfer ging und außer im Brigitte-Kalender und in Schullesebüchern auch in der Werbung strandete. Vielleicht ist es doch allzu griffig geraten.)

Meiner schlechthinnigen Überzeugung nach sind Strophe und Reim heut so lebendig wie eh und je und dank unsrer Mediengesellschaft in weit höherem Maße allgegenwärtig denn je. Also vertraut. Ich überspringe die Beatles und die Stones. «As the sun went down and the music did play / On Black Diamond Bay» höre ich von Bob Dylan, «So welcome to the free for all / The smash and grab, the freeloaders ball / Where everything is here for us / If we scream, shout, make a fuss» in «Great Expectations» von New Model Army und «God is a tender pervert / and the angels are voyeurs / Watching us forever, / their vision never blurs» in «The Angels Are Voyeurs» von Momus. Selbst die Holterdiepolter-Logorrhöe des Rap, die mir nichts sagt, spielt mit dem Reim … wenn er da auch meist arg und gefährlich durch die Kurven rutscht.

Ich bin mit Bebop, Boogie und Blues großgeworden. Nach meinem Eindruck habe ich weithin meine Sonette fürs Ohr geschrieben, daß von fern ein Singen anklingt. Und tu’s wohl noch. Ich kann das nur so ungefähr sagen, weil mir kein entsprechender Vorsatz bewußt ist. Das steuert sich sicherlich über die Suche nach Reimen – ohne Reimlexikon – und das Spiel mit der strophischen Taktung, beides von der Formregel geboten. Anscheinend wird dadurch die allmähliche Verfertigung des Gesamtklangs gestimmt, so daß sich – über Metrum und Reimschema hinaus – Textschwingung und Worttöne verstärkend auflagern. Im Nachhinein erkennbar ist dann manch rhetorisches Ornament im Wortmaterial, wie das Spiel mit gleichen Anfangsbuchstaben in der Alliteration, Binnenreim, Anklänge per Assonanz, Abstimmung von Vokalen und Konsonanten. Was so Klangpflege heißt.

Mit Pete Seeger im Ohr mag ich auf die Idee verfallen sein, ein «Klinggedicht» – alte Übersetzung von «Sonett» – könnt auch politischer Stellungnahme Klang verleihen:

 

Auf die hamburger Rekrutenvereidigung im Sommer 1966

Wie Krieg vor Augen: Dort nicht-meine Birke
berennt des Mondaggressors Dunstlunette,
verreckt in Giftlicht. Schrecknis heckt die Stätte:
Viel Rauch von Krieg dringt her vom Fremdbezirke.

Ein Hauch von Krieg auch hier: Am Himmel schweifen
letale Jets, ein Schütz übt Ziele sehen:
Soll nicht die tote Sprache Schuld verstehen,
soll lernen: Leben nehmen, Tod ergreifen.

Gelächter! Fahnenflattern soll das strenge
Geschäft von Mord und Widermord maskieren,
als wär nicht Bosheit tief drin eingewunden.

Und welche sind, die drängen zum Gepränge.
Im Stechschritt wüster Logik paradieren
die zynisch aufgeputzten Moribunden.

 
Meiendorfer Beitrag Nr. 1

Ich war schlicht empört über das PR-Theater «Rekrutengelöbnis» auf dem Hamburger Rathausmarkt. Vermutlich hatte bei mir die «Reeducation» angeschlagen. Und davor schon das kindheitliche Bangen davor, in die HJ zu müssen (mit zehn Jahren wär ich fürs «Jungvolk» drangewesen), das Prä-Militär, das oft, mit Landsknechtstrommeln vorweg, höchst zackig an unserm Haus vorbeimarschierte. *) Das Gedicht bot sich mir an als Textelement im ersten Blatt der «Meiendorfer Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes», damals von Jens Cords, Frank Böhm und mir gestartet. Doch «irgendwie» war der Agitprop-Effekt gleich null. Mit dem bald darauf ins Blatt Numero 6 eingebauten Alexandrinersonett «Avco» gings ebenso. Ging um Hubschrauberturbinen für den Vietnam-Krieg. Hinterher erst – ich bin da argloser Spätzünder – wunderte ich mich über den Besuch eines angeblichen Behördenangestellten (Wirtschafts- und Ordnungsamt, soweit ich mich erinnere) mit schlecht sitzender grauer Garderobe samt Hut und sonderbaren Fragen. Er vergaß einen angekauten Bleistift behördlicher Anmutung bei mir. Nicht als Andenken bewahrt.

Als abermals gewagter und wackliger Gedanke von der Seite her stellt sich hier die Erinnerung an Paul Surins Erzählung vom Kalenderidioten in Michel Tourniers Roman «Les Météores» ein, deutsch als «Zwillingssterne» gelesen: Der im Heim Sainte-Brigitte untergebrachte Junge braucht tags die komplizierte Musik des großen Jacquard-Webstuhls in der Textilfabrik Pierres Sonnantes, nachts das in sein Zimmer dringende rot-weiß-grüne Lichterspiel der drei Leuchttürme an der Arguenon-Bucht, damit sein Bewußtsein nicht im Entsetzen vor Unerwartetem ohne Struktur verloren geht. Die komplexen Rhythmen mit ihrer Monotonie steter Wiederkehr steuern seinen Zugriff auf kalendarische Daten, mit denen er sie hypertroph überlagert hat. Vielleicht ähnlich ist für Lyrik eine überkommene «Rhythmusmaschine» ständig am Laufen und verlockt bis zwingt dazu, ihren Vorgaben Sprachmaterial aufzumodulieren. Und das mag dann von Fall zu Fall Wirkung erzeugen wie beim weinenden Knaben vor dem aus geheimnisvollem Mechanismus heraus tönenden Orchestrion in Hans Henny Jahnns «Perrudja».

 

Siebenschläfer

Wenn Du mir mit spitzen Fingern
Falter von den Brauen nimmst,
wenn die Regen-Dinghis schlingern,
weil Du gern durch Milch-Glas schwimmst,

wenn Du meine Stirn beschriftest
mit so kleiner Terz von Moos,
wenn Du schließlich atemlos,
weil Du’s gern tust, nachtwärts driftest,

nenn ich Dich mit kleinen Scherben,
buntem, hartem Glasdekor,
tief in Dein Oktaven-Ohr

Kauri-Muscheln einzukerben,
fang ich Dich – Du triebst sonst weit! –
fang ich Dich in Regenzeit. **)

Zum Formalen dieses Sonetts von 1960: Das Reimschema entspricht dem sogenannten sonnet licencieux, das sich Gleichheit des Reiminventars in den beiden Quartetten spart. Abweichend von der oft benutzten fünfhebigen Sonettzeile mit Auftakt, sind die Zeilen hier auftaktlos und haben nur vier Hebungen. Tatsächlich Vorsatz war, ein Gedicht in nur einem Satz zu schreiben. Beispielgeber war Klopstock mit einer kleinen Ode. Ihm auch abgeschaut das mehrfache Einsetzen des Nebensatzes in den Quartetten und am Schluß der Satzabbruch durch einen Einschub und erst danach die vollständige Formulierung. Aber das in den Quartetten gehäuft vorkommende kurze i, das am Schluß wieder auftaucht, und der prononciert im zweimaligen «weil» angebrachte Diphthong ei, der bis ins abschließende Reimwort durchs Gedicht wandert, sind mir erst sehr viel später mal aufgefallen. Wobei ich nicht auf Anhieb sagen könnte (und auch gar nicht möchte), was das denn nun bedeuten soll …?

Ähnlich wässerig in der Motivik, ebenfalls ein Liebesgedicht (auch wenns vielleicht nicht so aussieht) und ganz «klassisch» in Versform und Reimschema ist das gut drei Jahrzehnte später entstandene Sonett

 

Törn

Der Tag geht an mit Halsen: Schlag um Schlag
verschlingt der Kurs sich in die Archipele,
daß keins der Eilande im Logbuch fehle:
die Länge, Breite, wie’s zum Winde lag …

An Deck das Tauwerk, Ladung laut Vertrag.
Zu leicht im Kiele, krängt nun die Kraweele.
Ins Bilgenwasser leckt des Schiffes Seele.
Wahrschau und Kopp weg! Sie geht über Stag!

Die Dünung wälzt sich her im steten Treck,
in Schwall und Gischt zertrennt der Bug die Fluten.
Kielwasser hetzt zum Himmel hinterm Heck.

Der Törn durchzackt die Karte über Eck.
Zenit und Nadir flackern durchs Vermuten
und vage Azimute ins Besteck.

Wie ich das Gedicht nun so ansehe, fällt mir auf, daß ich mit dem Fortsegeln nach Tagesanbruch in die Nähe des alten Tagelied-Musters geraten bin, ohne das im Sinn gehabt oder es gar darauf angelegt zu haben. Etwas wie «Wachet auf, ruft uns die Stimme / Der Wächter sehr hoch auf der Zinnen» kommt zwar nicht vor, doch ist ja entsprechend der Weckruf für die Tageswache hinzuzudenken: «Reise, reise!» (oder vielleicht: «Der Seemann legt die Socken klar, / die Waschfrau von Laboe ist da!»).

Zum Satzbau ist hier nichts Besonderes anzumerken. Zum Rhythmus nur, daß er einmal synkopisch «gestört» ist: durch «Kielwasser» … was dem zur Sprache gebrachten Geschehen entsprechen mag. Mehr Befunde ergeben sich zur «Klangpflege». Alliterationen kommen vor («Kiel – krängen – Kraweele», «hetzt zum Himmel hinterm Heck»). Ein paar Vokalwiederholungen, besonders a und u. Am auffallendsten scheint der Umgang mit dem Laut -k- zu sein: Gleich im Wort «Tag» und der darauf binnenreimenden Wendung «Schlag um Schlag» tritt er am Wortende auf, setzt sich in Kurs, keins, Kiel, krängt, Kopp, Karte an den Anfang und ist bis hin zum Besteck als letztem Wort wiederholt Endkonsonant. Doch auch zu diesem wollen mir keine kabbalistischen Korollarien einfallen … außer daß er womöglich dezent das Ersticken bei ausbleibender Luft andeutet.

Und stutzen tat ich doch sehr, als ich kürzlich beim Blättern im Don Quixote im Schlußterzett eines der eingeschalteten Sonette die eben beschriebene Meerfahrt ohne ordentliche Orientierung vorausformuliert fand, als Nachtmeerfahrt in petrarkistisch passender Metaphorik:

 

Ich weiß, ich sterbe, dies ist mir geblieben,
Glaubst du es nicht, muß ich so eh’r vergehen,
Wie du mich, Harte, wohl magst sterben sehen,
Doch nicht bereun, daß dir geweiht mein Lieben.

Bin ich in jener Schattenwelt dort drüben,
Wo alle Freuden, Leben, Ruhm verwehen,
Dann sieh im offnen Busen Zeugnis stehen,
Dein schönes Angesicht ihm eingeschrieben.

Dies Heiligtum will ich mir treu bewahren
Für jenen Weg, auf den mich treibt mein Sinn,
Den deine Grausamkeit noch treuer stählet.

Wie muß mein Schiff bei dunklem Himmel fahren
Durch fremd gefahrenvolle Meere hin,
Wo Kompaß mir und Stern und Hafen fehlet.

(Miguel de Cervantes Saavedra:
Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen
Don Quixote von la Mancha. 5. Buch, 3. Kapitel.
Übersetzt von Ludwig Tieck)

Das Sonett ist – in der eingeschalteten «Novelle vom grübelnden Fürwitzigen» – Lotario in den Mund gelegt und dient dem Zweck, im Sinne einer verschraubt komplottierten Liebesprobe die verheiratete Kamilla in der Liebe zu ihrem Mann Anselmo wankend zu machen. Kamilla ahnt wohl, wie es mit der seinerzeitigen Konvention der Sonettdichtung bestellt ist, und fragt bezüglich eines kurz zuvor mitgeteilten Sonetts gut petrarkistischer Observanz: «Ist es denn aber alles wahre Empfindung, was die verliebten Poeten sagen?» Welchen Zweifel der Sonett-Verfasser Lotario in gewisser Weise bestätigt: «Nicht deswegen, weil sie Poeten sind, […] sondern als Verliebte, die immer wahrhaft sind, und stets zu wenig sagen.»

Am Rande als handwerkliche Meckerei zur Tieckschen Fassung angemerkt: Die Reime «Lieben / drüben» und «stählet / fehlet» bedeuten kleine Verstöße gegen die Reimreinheit, sollen aber mal hingehn, weil vielleicht als Geschmackssache diskutierbar ***). Seit einer ganzen Weile würde ich auch Reime wie «lieben / geblieben» vermeiden, weil sie mir an den «rührenden» Reim zu rühren scheinen. Nu, diese recht puristische Maßgabe soll für mich gelten …

Ernstlich dagegen habe ich etwas an den syntaktischen Läsionen auszusetzen. Der Nebensatz «daß dir geweiht mein Lieben» ist um des Reimes willen verrenkt und verstümmelt. Tieck scheint sich der Lizenz gewiß gewesen zu sein, das finite Hilfsverb «ist» oder «war» unter den Tisch fallen zu lassen, weil das Literaturpublikum damals wohl gut an solcherlei Amputationen gewöhnt war und in dieser Gewöhntheit gehalten wurde. Eine weitere Gewaltsamkeit bietet der schlicht zwecks Reimgewinn verrenkte Nebensatz, in dem die Rede ist vom Weg, «auf den mich treibt mein Sinn». Ähnlich verfuhr Humboldt in der 7. Zeile seines im vorigen Abschnitt zitierten Sonetts: «Ich mehr das Sein als das Beginnen ehrte» †). Die beiden konnten und mochten das thun, denn anscheinend war diese Praxis damals für den sprachlichen Habitus des Poeten fast schon unverzichtbar und sieht bald so aus, als habe sie als Qualitätserweis funktioniert. Mir widerstreben solche Kunstgriffe. Mir sind Gedichte näher, die sich – bei aller Formbeachtung – in der Nähe eines alltags- oder auch hochsprachlichen Parlandos halten … Bildlichkeiten und Wortfindung werden dann wohl schon für die nötige «Poetizität» sorgen. Mich freuts eigentlich immer, wenn jemand beim Zuhören nicht so viel von Vers- und Reimschema eines vorgetragenen Sonetts mitkriegt: Da scheints dann gelungen!

Zurück. Mit meinem «Törn» hatte ich mich also in althergebrachte Seefahrtsmetaphorik begeben. Die Bildwelt ist aber auch zu verlockend. Aufs Sonett «Törn» hin wurde ich zwei- oder dreimal gefragt: «Segelst du?» Nein. Aber die Neigung dazu wäre vielleicht da, gespeist aus Lektüre in Kindheit und Jugend: «Der rote Freibeuter» von Cooper, Gorch Focks «Seefahrt ist not!», Jack Londons Jerry-Romane, Joseph Conrad, Forrester, das Totenschiff und mehr dergleichen. Und auch «Es kumpt ein schiff geladen» klingt von fern herüber.

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*) 

Nach dem Krieg erfuhr ich von meinem Vater, daß er vorgehabt habe, meinen Bruder und mich da rauszuhalten. Er meinte, das sei möglích gewesen.

**) 

Die Zeit, Nr. 25, 16. Juni 1964 (Strophierung in der Digitalisierungsarchivalie verloren, Übertragungsfehler in Vers 9: wenn statt nenn).

***) 

Kleine Bemerkung zur Reimreinheit.

†) 

Kleine Bemerkung zur Anordnung von Wörtern (in Arbeit).

 

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