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Robert Wohlleben:

Sonett – funktioniert die Form?

 

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3. Sonette entdecken



Sonette sind mir wohl schon in der Schulzeit begegnet. Ich meine, im Unterricht wurden keine behandelt. Außerhalb des Unterrichts könnte ich an Rilkesche Sonettoide geraten sein (sichere Erinnerung ist jedenfalls, daß damals sein «Cornet» bei ein paar literarisch Interessierten kursierte). In der Schule stockte die Literaturvermittlung doch mehr bei Werner Bergengruen, Edzard Schaper, Agnes Miegel und Stefan Andres, doch außerhalb kamen auch expressionistische Dichter in den Blick. 1954, zu Ende eines fünfwöchigen Englandaufenthalts, bekam ich von Colin Francis Hunns, dem englischen Austauschschüler, die «Complete Works of Shakespeare» geschenkt, Dünndruckausgabe. In den Sonetten las ich mich fest und setzte auch zu zwei oder drei Übertragungsversuchen an. Nr. 34 war dabei:

 

Why didst thou promise such a beauteous day,
And make me travel forth without my cloak,
To let base clouds o’ertake me in my way,
Hiding thy bravery in their rotten smoke?
’Tis not enough that through the cloud you break
To dry the rain on my storm-beaten face,
For no man well of such a salve can speak
That heals the wound, and cures not the disgrace:
Nor can thy shame give physic to my grief;
Though thou repent, yet I have still the loss;
Th’ offender’s sorrow lends but weak relief
To him that bears the strong offence’s cross.
   Ah, but those tears are pearl which thy love sheds,
   And they are rich, and ransom all ill deeds.

Eine Lesart wäre, hier eine verletzte Liebe zu sehen, die in Auflehnung gegen erniedrigende Kränkung sich zur Absage sammelt, um Wert und Würde zu wahren. Dann aber mit einem geradezu kaufmännischen Rechentrick es bewerkstelligt, dennoch zu Kreuze zu kriechen. Zwischen den denunziatorischen ersten drei Strophen und dem Freispruch im abschließenden Verspaar, dem epigrammhaften «heroic couplet», geschieht etwas wie eine Gehirnwäsche. Die schmerzhafte Dramatik, die sie fürs Subjekt gehabt haben muß, ist in den Tränen-Perlen zu ahnen: Grammatisch bleibt offen, wessen Tränen die Liebe des Gegenübers zum Fließen bringt. So sind vielleicht eigene Tränen projektiv oder gar abspaltend dem oder der Angesprochenen angelastet. – So wörtlich möchte ichs nehmen und ganz absehen von etwa hineinspielenden oder gar zugrunde liegenden Konventionalitäten.

[Die Tränen als Perlen gehören wohl noch etwas bedacht, da «pearl» ohne Endung und ohne Artikel erscheint. So mags Adjektiv sein und die Form der Tränen mit Perlen vergleichen … die damit wenigstens im Bild wären.]

Nummer 34 ist formal ein typisches Shakespeare-Sonett. In dieser auf Henry Howard, Earl of Surrey (?1517–1547), zurückgehenden englischen Form des Sonetts folgt auf drei vierzeilige Strophen mit jeweils eigenen Reimen abschließend das epigrammhafte Verspaar mit wiederum neuem Reim.

Meine damalige Annäherung ist perdü. Erst in jüngerer Zeit habe ich mich erneut darangemacht:

 

Schuld und Sühne

Die Wetterzeichen hast du toll getrickst:
Zu leicht bekleidet bin ich losgegangen,
nur daß du schwere Wetterwände schickst,
dein Glanz ist schon in wüstem Qualm verfangen.

Du brichst umsonst durch deine Wolkenpest,
mein sturmverwüstetes Gesicht zu pflegen.
Was Kratzer heilt, doch Kränkung trostlos läßt …
so’n Mittel kannst du dir in Sauer legen.

Mich hats erwischt, kommst du auch angesoßt.
Tu bloß nicht so! Ich bleib doch der Gelackte:
Den Täter reut’s … was ist denn das für Trost
für einen, dem er roh ein Kreuz aufpackte?

Ach! Perlen sind’s, was deine Liebe weint,
ihr Wert kauft frei, was längst gerichtet scheint.

Als ich das Sonett 1954 erstmals las, bin ich allerdings wohl kaum so weit gegangen, mir per Mitteilungsanalyse eine Erklärung zurechtzulegen. Es hat mich schlicht angerührt … was immer damit nun bezeichnet ist.

Anrührung ging auch aus insbesondere von Georg Heym. Mir ist fast so, als wären damals seine Berlin-Sonette im Spiel gewesen. Eins davon:

 

Berlin I

Beteerte Fässer rollten von den Schwellen
Der dunklen Speicher auf die hohen Kähne.
Die Schlepper zogen an. Des Rauches Mähne
Hing rußig nieder auf die öligen Wellen.

Zwei Dampfer kamen mit Musikkapellen.
Den Schornstein kappten sie am Brückenbogen.
Rauch, Ruß, Gestank lag auf den schmutzigen Wogen
Der Gerbereien mit den braunen Fellen.

In allen Brücken, drunter uns die Zille
Hindurchgebracht, ertönten die Signale
Gleichwie in Trommeln wachsend in der Stille.

Wir ließen los und trieben im Kanale
An Gärten langsam hin. In dem Idylle
Sahn wir der Riesenschlote Nachtfanale.

Die Spuren der expressionistischen Verlorenheiten im schon heißgelaufenen technischen Zeitalter sind jedenfalls unverlierbar. Als ich etwa zehn Jahre später ein paar Gedichte an die ZEIT schickte – die damals in jeder Ausgabe ein Gedicht veröffentlichte und keineswegs vor Sonetten zurückscheute, wie die dort erwachsene Tenzone «Die Dummheit liefert uns ans Messer» von Christoph Meckel und Volker von Törne erweist –, retournierte mir Dieter E. Zimmer das folgende mit dem Kommentar «perfekte Heym-Imitation»:

 

Gaswerk

Beim Gaswerk geht, am Wasser des Kanals,
das Sonnenbilder träumt und Ratten denkt,
zur Nacht ein Tier herum, den Fang verrenkt
und voll von all dem Rost zerfreßnen Stahls.

Mich narrt, was mich entsetzt: Was in mir ruht
und geierköpfig mir entgegentritt,
es hat, seit ihm ein Traum die Klauen schnitt,
das Rotgeleucht der Kokerei im Blut.

Am Grund der Kohlenhaldennächte wächst,
was schwarze Träume schafft, ein Feuerkraut.
Der Ort hat mich in schwarzes Fell gehext:

Der Kohlenwind häuft Berge auf im Rund,
im Gasometer wird ein Gift gebraut,
ein fremder Atem geht aus meinem Schlund.

O wei! wie fühlte ich mich mißverstanden. An Heym hatte ich bei meinem Sonett doch überhaupt nicht gedacht. Das war mir doch mehr eine Übung in der Handhabung Klopstockscher Meta- und Parenthesen. Und außerdem ging es schlicht um das konkrete Gaswerk Tiefstack, damals noch in Betrieb. Oft hatte ich einen Freund in seinem Bahnsteigkiosk der benachbarten S-Bahnstation besucht. In seinem kleinen Kabuff gingen wir außer Gedichten auch etwa das Tibetanische Totenbuch durch.

Nicht um nun bestimmte Formalien oder Traditionen zu erkunden, habe ich mich Gedichten genähert, sondern wegen der enthaltenen Chiffren mit ihrer Gravitation des Empfindens. Oft deutlicher und konziser erfaß- und begreifbar, als kämen sie in landläufiger Prosa daher. Also nicht fachliches oder gewerbliches Interesse hat mich gelenkt, sondern ich handelte wohl aus der unmittelbar erlebten Gewißheit heraus, über dies und jenes Gedicht an ein anderes Potential des Empfindens angeschlossen zu sein: Da kann – wie im Umgang mit Menschen – eigenes Empfinden sich wiederfinden, sich bestätigen oder zu neuen Abschattungen gestalten. Die Dimension Zeit ist aufgehoben: Ob der «Falke» dessen von Kürenberg, Gryphius’ Klagen über den nichtaushaltbaren Zustand der Welt oder Ernst-Jürgen Dreyers heutiger Ekel vor verordneter Mitmenschlichkeit … alles springt lebendig gegenwärtig auf, ob vor Jahrhunderten oder jetzt geschrieben. Gleichgültig auch, in welche Form gefaßt, denn «Poetizität» ist bunt und vielgestaltig.

Ich zôch mir einen valken    mêre danne ein jâr.

Menschliches Elende
Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen.

Gebet
Den Nächsten lieben sollst du, steht geschrieben.

vollständige Texte

 


Altona, im Dezember 2003
 

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