Robert Wohlleben
Daß sich endlich einmal eine Seite fast nur mit Sonetten beschäftigt, kann ich nur begrüßen und ich stelle fest, daß diese uralte Form, die heutzutage von sogenannten Lyrikern als «knöchern», «gemeißelt» und «nicht mehr zeitgemäß» bezeichnet wird, noch heute so up to date ist wie im Barock. Wer hier zitiert wird, weiß ich nicht. Das Vorurteil mag mitschwingen, wo Karl Riha sich mit dem verspielt denunziatorischen Titel «so zier so starr so form so streng» am Sonett reibt. Daß er es als Zielscheibe für seinen Spott wählt, läßt allerdings darauf schließen, daß er den Gegenstand nun gerade nicht als bagatellhaft Gleichgültiges wertet ... sonst hätte er es wohl bleiben lassen. Gern und mißverstanden zitiert wird dann wohl auch Robert Gernhardts hochironisches, dem Sonettverächter in den Mund gelegtes Sonett in Neusprech: Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs Sonette find ich sowas von beschissen, hat, heute noch son dumpfen Scheiß zu bauen; darüber, daß son abgefuckter Kacker Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert. (Robert Gernhardt Direkt mit dem Anwurf der Lebensferne konfrontiert sah sich auch mein Dichterkollege, Freund und Verlagsautor Klaus M. Rarisch, als Lothar Klünner ihn in einem mustergültig gebauten Sonett auf die Hörner nahm: Wenn am Sonette noch so nette Zeitgenossen Wie wahr! Doch narren uns noch stets die alten Possen: Die Welt? Wohl kaum! Kopflastig trifft der Pfeil Sonette schreiben, wißt ihr, was das heißt? Rarischens Replik kam prompt und beschwört Goethe klingt an mit Orpheus auch die nach wie vor wirkende Kraft seines Gesanges: Du bist Genosse einer netten Zeit, Statt Mut preist unsre Zeit Gemütlichkeit. Es spielt das Spielchen, bis er ausgeblutet, die Witze, die er reißt, besitzen Geist. (beide Sonette enthalten in «Hieb- und stichfest», Meiendorfer Druck Nr. 40) Er steht mit seinem Festhalten am Singen des Sonetts nicht allein. Einer kanadischen Internet-Quelle entnehme ich: Il sécrit encore des sonnets de nos jours. Même après des siècles dexistence, le sonnet nest pas considéré comme un genre périmé. Für sich spricht auch, daß sich die Times Saturday Review im Jahr 1992 eine ganze Weile lang in jeder Ausgabe mit einem Saturday Sonnet schmückte (die Leserschaft a small and devoted tribe ...?). 1. Mein Rechtschreib-Duden versieht das Wort «Sonett» mit einer Minimal-Erläuterung: «eine Gedichtform». Anders als beim Wort «Gedicht» setzte die Redaktion offenbar allgemeine Kenntnis der Bedeutung nicht unbedingt voraus. Das «Deutsche Wörterbuch» von Gerhard Wahrig geht ein bißchen weiter: «Gedicht aus zwei vier- u. zwei dreizeiligen Strophen [zu ital. sonare klingen]». Das reicht aus, Sonette nach dem Druckbild als solche zu identifizieren. Handelt es sich dann um ein einigermaßen mustergerechtes Sonett, lassen sich weitere Regularitäten ablesen: zumeist regelmäßig alternierende Zeilen mit fünf Hebungen, Reimschema mehr oder weniger streng. Das also ist die Form des Sonetts. Ob auch diese Form nach der von Louis Sullivan vertretenen These sich aus einer Funktion ergibt? Dazu wäre zu überlegen, welche oder was für eine Funktion das sein könnte. Ohne das ganze Feld wenigstens der deutschsprachigen Lyrik umzugraben, mit Abzählreimen, Gebetlein wie «Ich bin klein / mein Herz ist rein» und Gelegenheitsgedichten für Familienfeiern, Bänkelsang und Balladen, Storms «Abseits» und Ringelnatzens Kuddel Daddeldu, Walther, Klopstock und Heißenbüttel und vielerlei anderem, was ja alles irgendwie in einen Betracht gehörte. Bei der Frage nach der Funktion schränke ich also ein auf Sonette, wie sie mir begegnet sind, begegnen und aufs Papier geraten. So verengt und verzweigt sich die Frage: Funktion für mich als Leser, als Autor und als Mikroverleger. 2. Sonette sind mir wohl schon in der Schulzeit begegnet. Ich weiß nicht mehr, ob welche im Unterricht behandelt wurden. Außerhalb des Unterrichts könnte ich an Rilkesche Sonettoide geraten sein (sichere Erinnerung ist jedenfalls, daß damals sein «Cornet» bei ein paar literarisch Interessierten zirkulierte). In der Schule stockte Literaturvermittlung doch mehr bei Werner Bergengruen, Edzard Schaper, Agnes Miegel und Stefan Andres. Nach Schulschluß kamen auch expressionistische Dichter in den Blick. 1954, zu Ende eines Englandaufenthalts, bekam ich vom englischen Austauschschüler die «Complete Works of Shakespeare» geschenkt. In den Sonetten las ich mich fest und setzte auch zu zwei oder drei Übertragungsversuchen an. Nr. 34 war dabei: Why didst thou promise such a beauteous day, Die damalige Annäherung ist perdü. Erst in jüngerer Zeit habe ich mich abermals darangemacht: Schuld und Sühne Die Wetterzeichen hast du toll getrickst: Du brichst umsonst durch deine Wolkenpest, Mich hats erwischt, kommst du auch angesoßt. Ach! Perlen sinds, was deine Liebe weint, [enthalten in «Sternzeichen», Meiendorfer Druck Nr. 46] Eine Lesart wäre, hier eine verletzte Liebe zu sehen, die in Auflehnung gegen erniedrigende Kränkung sich zur Absage sammelt, um Wert und Würde zu wahren. Dann aber mit einem rechnerischen Trick es bewerkstelligt, dennoch zu Kreuze zu kriechen. Zwischen den denunziatorischen ersten drei Strophen und dem abschließenden Verspaar, dem «heroic couplet», geschieht etwas wie eine Gehirnwäsche. Die schmerzhafte Dramatik, die sie fürs Subjekt gehabt haben muß, ist nur zu ahnen. Als ich das Sonett damals aufnahm, bin ich allerdings wohl kaum so weit gegangen, mir eine Erklärung zurechtzulegen. Es hat mich schlicht angerührt ... was immer damit nun bezeichnet ist. Anrührung ging auch aus insbesondere von Georg Heym. Mir ist fast so, als wären seine Berlin-Sonette im Spiel gewesen. Eins davon: BERLIN I Beteerte Fässer rollten von den Schwellen Zwei Dampfer kamen mit Musikkapellen. In allen Brücken, drunter uns die Zille Wir ließen los und trieben im Kanale Die Spuren der expressionistischen Verlorenheiten sind jedenfalls unverlierbar. Als ich fünf, sechs Jahre später ein paar Gedichte an die «ZEIT» schickte die damals in jeder Ausgabe ein Gedicht veröffentlichte , retournierte mir Dieter E. Zimmer das folgende mit dem Kommentar «perfekte Heym-Imitation»: Gaswerk Beim Gaswerk geht, am Wasser des Kanals, Mich narrt, was mich entsetzt: Was in mir ruht Am Grund der Kohlenhaldennächte wächst, Der Kohlenwind häuft Berge auf im Rund, [enthalten in «Falsch und wunderbar», Meiendorfer Druck Nr. 22] O wei! wie fühlte ich mich mißverstanden. An Heym hatte ich bei meinem Sonett doch überhaupt nicht gedacht! Das war doch mehr eine Übung in der Handhabung Klopstockscher Parenthesen. Und im übrigen ging es um das konkrete Gaswerk Tiefstack, damals noch in Betrieb ... die dortige S-Bahn-Station mir ein Begriff durch öftere Besuche von Teddy Zielinskis Bahnsteig-Kiosk. Nicht um nun bestimmte Formalien oder Traditionen zu erkunden, habe ich mich an Gedichte angenähert, sondern wegen der enthaltenen Chiffren mit ihrer Empfindens-Gravitation. Deutlicher und konziser erfaß- und begreifbar, als kämen sie in landläufiger Prosa daher. Also nicht fachliches oder gewerbliches Interesse hat mich gelenkt, sondern ich handelte wohl aus der unmittelbar erlebten Gewißheit heraus, über dies und jenes Gedicht an ein großes Potential des Empfindens angeschlossen zu sein: Da kann wie im Umgang mit Menschen eigenes Empfinden sich wiederfinden oder zu neuen Abschattungen gestalten. Die Dimension Zeit scheint aufgehoben zu sein: Ob der «Falke» dessen von Kürenberg, Gryphius Klagen über den nichtaushaltbaren Zustand der Welt oder Ernst-Jürgen Dreyers Ennui vor verordneter Mitmenschlichkeit ... alles springt lebendig gegenwärtig auf, ob vor Jahrhunderten oder jetzt geschrieben. Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr. Sît sach ich den valken schône fliegen: Menschliches Elende Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen. Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen. Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt Was itzund Atem holt, muß mit der Luft entfliehn, Gebet Den Nächsten lieben sollst du, steht geschrieben. spinnt in halbstundenlangen Diatriben Kannst du nicht gegen ihr Beiseitestieren, zu fällen, um dort Müll zu deponieren, Anmerkung: Da sich die namentliche Nennung der Nachbarn von selbst verbot, setzt der Dichter erfundene Namen, die sich allenfalls durch Zufall mit den Namen existierender Personen überschneiden können. Ich habe bemerkt, daß eigentlich alle mir wichtigen Gedichte gegen Schluß hin eine Zäsur aufweisen. Das wäre schon mal Kennzeichnung des guten Sonetts mit der Zäsur zwischen den Quartetten und den Terzetten. Ich finde Vergleichbares allerdings auch in Gedichten anderer Form, etwa im «Falken» des Kürenbergers, in Bashos «Frosch», in Klopstocks «Frühen Gräbern», in Hölderlins «Hälfte des Lebens», in Brechts «Radwechsel» oder in Ralf Theniors «Trapper». Damit hätte ich mein ganz persönliches Kriterium für GUTE Gedichte. Ich «sortiere» wohl auch nach «Textsorten» ... ohne die im einzelnen auflisten zu können; ich weiß nur: Versifizierte Leitartikel und feuilletonistische Raisonnements liegen mir eher weniger. The old pond: Die frühen Gräber (1764) Willkommen, o silberner Mond, Des Mayes Erwachen ist nur Ihr Edleren, ach es bewächst Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Weh mir, wo nehm ich, wenn DER RADWECHSEL Ich sitze am Straßenrand Der Trapper Aus den Savannen Ich glaube, meine ganze «Theorie» des Sonetts besteht nur in der Bestimmung dieser «Sprungschicht» oder «Diskontinuitätsebene». Was da jeweils geschieht, läßt sich auf keinen einfachen Nenner bringen. Die Überschreitung oder Durchquerung dieses Grenzbereichs ist nicht nur Änderung des Blickwinkels, die den «Schauenden» auf seinem Platz läßt. Nach meinem Eindruck geschieht da mehr ... so etwas wie der Übertritt in einen andren Raum für Denken und Empfinden. Das kann in manchen Sonetten (und auch andren Gedichten natürlich) an ganz heillose oder wenigstens fremdartige Zustände streifen. Bei der näheren Bestimmung dieser Grenze die mehr eine nichteuklidische Grenzfläche wäre, jenseits derer bestimmte Konstanten neue Werte annehmen sitz ich aber schon fest. Eine Benennung wie «Diskontinuitätsebene» ist einstweilen Behelf (wie auch «Sprungschicht» ist sie ja Anspielung auf konkrete Naturphänomene). Ein Bild noch: Seinerzeit die Fahrt mit der Berliner U-Bahn durch die ostsektoralen Stationen hatte ein bißchen was vom Quartett/Terzett-Übergang. Die Bruchzone oder Verwerfung zwischen Quartetten und Terzetten erprobt immer wieder aufs neue die Spannweite des Ungesagten. Sonette sind also eine Reinform der Texte, die das Verschweigen als Mitteilungskomponente haben. Entscheidendes Moment von «Poetizität» oder «Lyrizität». Die Zweiteilung mit dem Sprung oder Tauchgang ist nun aber kaum das, was mich eigentlich an dieser altehrwürdigen Renaissanceform Sonett fasziniert. Und sie mehr und mehr zu meiner bevorzugten Form für mein Schreiben hat werden lassen. Motivisch und thematisch ist ALLES möglich. Das Faszinierende könnte in der Spannung zwischen der knappen und streng regulierten Form einerseits und den oft doch unbegrenzt ausgreifenden Inhalten andrerseits liegen. Die Leistung beim Schreiben von Sonetten bestünde demnach darin, die Gedichte dem Explosionsdruck der Wörter standhalten zu lassen. Mir bildet sich die Idee, daß dies mit unsrer Existenzweise zusammenhängt ... stets vom Abdriften in fremde Seinszustände bedroht (wenn nicht in Zwänge oder Süchte einbetoniert): Scharfe Existenzerfahrung im beginnenden Abreißen von der «Schwelle» aus empfunden. Steht das dann geschehende Sonett als Beschwörungsformel ... das Weggehn in die «andre» Existenz zu verhindern, weils da so TODKALT ist? Oder als survival module, als Rettungskapsel, die den «Wiedereintritt» in «unsre», in atembare Atmosphäre garantiert? Ein Sonett von Klaus M. Rarisch soll als Beispiel stehen es liefert den Titel des Bandes mit 99 seiner Sonette: STERBENSLÄNGLICH Die Ewigkeit zerfällt uns zu Sekunden, Umsonst: der letzte Grund wird nicht gefunden. Für jeden Augenblick in Gottes Namen Der letzte Mensch verstummt in seinen Qualen [enthalten in «Die Geigerzähler hören auf zu ticken», Meiendorfer Druck Nr. 20] Das Sonett scheint, wie so viele andre, die Form zu nutzen, um die Wirksamkeit eines Gegenzaubers sicherzustellen. Wie schamanistisch oder alchemistisch garantiert durch die zauberische Regelhaftigkeit der 8 und 6 Zeilen, die den Goldenen Schnitt anklingen läßt: rund 8 zu 5. 3. Wer schrieb und schreibt Sonette? Angefangen haben Leute, die am Hof Friedrichs II. in Palermo in Amt und Würden waren ... bei einem Kaiser mit ausgeprägtem Interesse an Literatur und Kunst. Ein gewisser Giacomo da Lentini wird als Hauptvertreter genannt. Das seitherige Kollektiv der Sonett-Autoren und -Autorinnen ist bunt gemischt. Veritable Dichter bilden die Mehrheit: von Dante, Petrarca und Cavalcanti über Pierre de Ronsard und Shakespeare bis zu Platen, Rückert und Rilke. Doch auch andere Professionen tragen Sonett-Dichtung: Die Lyoneserin Louise Labé mit ihren 24 überkommenen Sonetten ist «la belle cordière»; der römische Verwaltungsmensch Giuseppe Gioacchino Belli schrieb fast 2300; «When you see millions of the mouthless dead» ist das letzte der wenigen Sonette des jungen Soldaten Charles Hamilton Sorley, 1915 in Frankreich gefallen; im Gefängnis und den Tod vor Augen, schrieb der 1945 hingerichtete Geograph Albrecht Haushofer seine achtzig Moabiter Sonette. Weil sich von Gedichten kaum leben läßt, arbeitete die Sonett-Dichterin Gertrud Kolmar mit taubstummen Kindern; der Sonett-Dichter Richard Klaus: Kriegsinvalide mit kleiner Rente; ein mir bekannter Sonettist von Graden dokumentierte Graue Literatur an einem wissenschaftlichen Institut ... Ähnlich uneinheitlich, über die Zeiten wechselnd und endlos mannigfach sind wohl die Motive, aus denen heraus das Sonett als Form poetischer Äußerung gewählt wurde und wird. Anpassung an Mode mag auch darunter sein ... schönes Beispiel dafür wäre Grabbes Dichter Rattengift: «Ich saß an meinem Tisch und kaute Federn, / So wie (indem er hinzuschreibt) der Löwe, eh der Morgen grauet, / Am Pferde, seiner schnellen Feder kauet ». Entsprechende Vielfalt findet sich vielleicht bei den Motiven, Sonette NICHT zu schreiben ...? Auch in neuester Lyrik-Produktion herrscht reim- und strophenlose Formvermeidung vor ... «possierlich in Zeilen gebrochene Prosa», wie Arno Schmidt das genannt hat. Spannweite des Ungesagten und die eingespeisten Induktionsströme mögen von Fall zu Fall die Lyrizität erzeugen. Solcherlei Gedichte erscheinen vielleicht insofern als etwas Lebensnäheres denn regelhaft gebaute Lyrik, als Prosa uns tagaus, tagein durch den Kopf, von den Lippen und in die Tippfinger geht. Andererseits braucht es schon Feinheiten und Raffinessen, um einem solchen Stück Prosa die Paßmarken von Lyrik mitzugeben. Von Mode-Erscheinung kann nun bestimmt nicht die Rede sein, wenn heute Sonette entstehen. Zumindest im deutschsprachigen Raum ist ja bald etwas wie ein Sonett-Verbot zu ahnen, mindestens seit Walter Höllerers 1956 erschienenem «Transit Lyrikbuch der Jahrhundertmitte» mit grade mal zwei (leicht «verwilderten») Sonetten, von Jesse Thoor ... von dem nun auch kaum etwas Andres zu haben war. Nichtsdestoweniger erschienen seither Sonette auch durchgängig oder vorübergehend breiter gehandelter Autoren: Ulla Hahn, Wolf Wondratschek, Wolf Biermann, Günter Grass, was dann immer als mutige Wundertat galt. Nicht besonders dagegen fiel es beim gewiegten und ausgefuchsten Peter Rühmkorf auf, der sich ja sogar zu Oden verstieg ... warum also nicht auch Sonette? 4. Der Umgang mit Klaus M. Rarisch hat sicher entscheidend dahin gewirkt, daß mir Gedichte zunehmend und inzwischen fast ausschließlich in Sonettform sich fügen. Vor strophischer und gereimter Lyrik war ich nie bange. Benn und Rühmkorf/Riegel als meine frühen Lyrikheiligen bewahrten schon davor. Eine Neigung zur sogenannten Chevy-Chase-Strophe ist mir lieb: Bon jour, Signor! Sie hier, Mefrouw? Doch es ging durchaus auch ohne Reim und Strophe: Abends (Ein Gedichtlein, das weitläuftig über die Dörfer ging und außer im Brigitte-Kalender auch in Lesebüchern und in der Werbung strandete.) Meiner schlechthinnigen Überzeugung nach sind Strophe und Reim heut so lebendig wie eh und je und dank unsrer Mediengesellschaft in weit höherem Maße allgegenwärtig denn je. Also vertraut. «As the sun went down and the music did play / On Black Diamond Bay» höre ich von Bob Dylan, «So welcome to the free for all / The smash and grab, the freeloaders ball / Where everything is here for us / If we scream, shout, make a fuss» von New Model Army, «God is a tender pervert and the angels are voyeurs / Watching us forever, their vision never blurs» von Momus. Deutscher Rap-Gesang ist mir nicht so geläufig, aber beim Dichter-Kollegen, Freund und Verlagsautor Ernst-Jürgen Dreyer ist er irgendwie angekommen:
5. Manchen meiner Sonett geschieht es, als allzu rätselhaft verbucht zu werden. Ich zitiere Ernst-Jürgen Dreyer: seit Du mir auf einen zugegebenermaßen ratlosen Versuch, mich Deinen Gedichten anzunähern, einmal geantwortet hast, es sei Dir «so was von egal», was die Leute zu Deinen Gedichten meinen, habe ich mir die Mühe einer zuweilen aussichtslosen Vertiefung erspart [...]. Daß sich viele Deiner Gedichte dem Verständnis verweigern, liegt denke ich an einem Nomen-und-Verben-Vokabular, bei dem notfalls kein Duden, kein Wahrig und kein Fremdwörterbuch hilft. Ich kenne das längst, und da ich mich nicht anzupassen gedenke, Rücksichtnahme mir insofern fremd ist, sind mir Ankreidungen hinsichtlich Schwerverständlichkeit eben «egal». Mehrfach kam im Anschluß an Lesungen die Frage, was ich denn brotberuflich treibe: Flüchtlinge und Spätaussiedler unterrichten, mein Fach also «Deutsch als Fremdsprache» ... das erwies sich stets als todsicherer Lacher. Ich weiß ja, daß ein Wort wie Tesserakt für «unverständliche Zeilen» verantwortlich eher schwer in gängigen Nachschlagewerken zu finden ist. Aber wenn ich es doch als überhaupt Keim- und Erstwort des betreffenden Sonetts BRAUCHE?! Und handreichende Fußnoten das Seitenbild zerstören, angehängte Erläuterungen so schwerfüßig dahergetappt kommen würden? Kurz: Wie der Schatten eines Würfels eine Fläche in Form eines Vierecks sein kann, wäre der Würfel der «Schatten» eines Tesserakts. «Tesserakt» war erstes Wort und Keim des betreffenden Sonetts und hat zu tun mit meinem Eindruck von der Seelengestalt des angesprochenen Verschiedenen nichteuklidische Geometrien: Grenze Wer fahndet nun nach unverwehtem Fakt? Wer pulst dem Wellenfeld von Sand den Takt, Im Lug und Trug von flackernden Kontrollen Den Grund- und Aufriß nun umreißen wollen Grabschrift für Peter Jagenteufel [enthalten in «Falsch und wunderbar», Meiendorfer Druck Nr. 22] Für eine weitere Art von Schwerverständlichkeit diese Beispiele: Für weit weniger als Dritte verständliches Lied Uns weht ein Wind von hier bis nach Chaillot, Da hätten wir zumindest ein morceau, Ach, laß nur das Verbrehm- und das Verschmeilte, Von selbst vergißt sich das je Angepeilte Der große Heraus Kratz Fuß, nick Kopp, begreif den Unbegriff Und sei wahrschaut: Im Triebe ging das Schiff, Nun sichten wir wohl Karten und Papiere An allen Vieren beten wir seit je [beide Sonette enthalten in «Kino», Meiendorfer Druck Nr. 41] Kalauer Mouton Cadet. Sächsisch entstelltes Loco sigilli. Darin ganz persönliche Tradition bewahrt wie in Gedichten von Anfang der Siebziger: Sehrichtik, Luft lauflüssig, Wind aus wischelnden Richtungen. [enthalten in «Veilchen und Mährrettich», Meiendorfer Druck Nr. 3] Meine Vorstellung, damit ein Äquivalent zu geben zu «halbabstrakter» Malerei und Graphik: Jan Voss, Robert Rauschenberg, Bernard Schulze mit seinen Migofs. Wo in unentzifferbare Figuration erkenn- oder erahnbar Gegenständliches eingearbeitet ist. Was DIE dürfen, darf ich auch. Musikalität. Fürs Ohr geschrieben. 6. Sonette eigentlich alle persönlich adressiert. Auch ad me ipsum. 7. Das Gespräch: Tenzonen Kreuzspinne leiblich Aufgespannt und abgenetzt: Iris flirrt noch unverletzt, Azeton und Kampfer stechen Kork zerbröckelt, Klinker brechen, (Robert Wohlleben) [enthalten in «Zug und Gegenzug», Meiendorfer Druck Nr. 28] Spinne weiblich Windgeschaukelt und bewegt kauert sie, nur dann erregt, Sie, die stets nur lauern kann, kriecht in Schüben still heran, (Richard Klaus) [enthalten in «Eisprung III», Meiendorfer Druck Nr. 23] SPINNE AM MITTAG Pendelnd an dem Silberfaden, Königin in andren Reichen, Bist du enger nicht vernetzt? Hast du je das Netz zerfetzt, (Klaus M. Rarisch) [enthalten in «Bilanz», Meiendorfer Druck Nr. 35]
Bethanien oder nicht Bethanien, das Nein, hier berieselt Gottes Gnadennaß Du Arbeitsmann im Weinberg unsres Herrn, schütz, heg und pfleg die Blümelein, die zarten! (Klaus M. Rarisch) [enthalten in «Ausfluß der Muse», Meiendorfer Druck Nr. 43] Verdämmernd Der spacke Jüngling neigte stark zum Bösen Zwar suchten manche ihn davon zu lösen, Der Jüngling ward zum Priester einer Sekte, von Fackeltänzen, während grinsend bleckte (Richard Klaus) [enthalten in «Eisprung II», Meiendorfer Druck Nr. 17] Antisisyphos Der alles straft, die Götzen wie die Welt, Als Reichtum gilt ihm, was ein Rausch vergällt. Aus Buchs wurd ihm ein Publikum gedrechselt, Ihn rührt auch nicht der Blitz des Augenblicks, (Robert Wohlleben) [enthalten in «Der grinsende Vater», Meiendorfer Druck Nr. 16] 8. Going Down It is the BBC which keeps us all honest. The lifts go up and down in Portland Place, Roger Woddis Mein erster Anlauf ... da meinte ich, das Akrostichon unterschlagen zu dürfen: Voll ins Auge Das Fahrstuhl-Auf-und-Ab am Rundfunkplatz Aber dann rührte sich das Gewissen ... und es geht doch: Voll ins Auge An jedem Fahrstuhlschacht am Rundfunkplatz POSH Port-Outward Starboard-Home, a heavy trip Hilary Corke Meine (fast) erste Version: Erster Klasse An Backbord fort, an Steuerbord nach Haus ... 9. Der Verlag |
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