Archivierte Aushänge-Sonette
ab Juli 2000 |
Ernst-Jürgen Dreyer:
Gebet
Den Nächsten lieben sollst du, steht geschrieben.
Verzeih mir, Herr! ich hasse meine Nachbarn.
Steht mir Helene Harth, die böse Sieben,
im Weg mit ihrem zoophoben Dachsparrn,
spinnt in halbstundenlangen Diatriben
vorm Haus Herr Stierle-Stackelberg sein Fachgarn,
so will ich beide grüßen aber lieben?
das, Gütiger, liegt außerhalb des Machbarn.
Kannst du nicht gegen ihr Beiseitestieren,
mit dem sie die Entschlossenheit kaschieren,
den Kirschbaum gegenüber meinem Fenster
zu fällen, um dort Müll zu deponieren,
Gerechter, mich desensibilisieren?
und mich beruhigen: »Du siehst Gespenster«?
Anmerkung:
Da sich die namentliche Nennung der
Nachbarn von selbst verbot, setzt der
Dichter erfundene Namen, die sich
allenfalls durch Zufall mit den
Namen existierender Personen
überschneiden können.
«O zartes Blau des Nebels überm Stau»
= Meiendorfer Druck 59
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Hans Adler:
AFFENTHEATER
Ja, Herr Kollega, wenn wir Flügel hätten,
Dann starrten wir nicht fiebernd vor Verlangen
ins Weite durch des Käfigs Gitterstangen
nach flammendroten Wolkensilhouetten.
So klirren wir uns Trost mit unsern Ketten
Wir hören, ergo sind wir nicht gefangen,
Und wimmern unser namenloses Bangen
Zum Himmel in rachitischen Sonetten.
Gefügig zappeln wir wie Marionetten,
Nervöse Marionetten mit Gehirnen,
Die an die Drähte nicht recht glauben wollen,
Und spielen kalten Schweiß auf müden Stirnen
Mit Ernst und Pathos unsre Jammerrollen
in dieser traurigsten der Operetten.
Hans Adler:
Affentheater. Gedichte.
Leipzig, Wien, Zürich:
E. P. Tal u. Co., Verlag 1920
Rechte nicht bey mir
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Ab 2. X. 2000:
Herbert Laschet (HEL):
IV
Ich will es recht verstanden haben: das
was ich hier tu ist niemands nutz und frommen
kein krebs den s schert kein knurrhahn der s verbellt
Ich fülle bücher in ein leckes faß
Die bucht ist noch vom lichtersturz benommen
da haben wir (ich weiß nicht wo der rest
sich rumtreibt) lampen aufgehängt zum test
Und das orchester watet auf den strand
Und schaff ich hier nicht meine gegenwelt
schaff ich sie nirgends bleib ich ungeworden
Das ist nicht euer das ist mein problem
Schaut in das weiß und macht es euch bequem
Ich lade bis die leichter überborden
das strandgut auf vom wurmbelaßnen sand
HEL: autogensonette. Meiendorfer Druck 45
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Rechte bei fulgura frango
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Erste Dezemberhälfte 2000:
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Ab 16. Dezember 2000:
Klaus Gubener:
Sonett im Porsche
Nun laß die Hände endlich fest am Steuer
Und grapsch mir nicht mehr ständig unters Kleid!
Jetzt weißt du wieder mal Bescheid.
Nimm dich in acht, daß ich dir keine scheuer!
Schon als ich einstieg, wars mir nicht geheuer;
Daß ichs getan hab, tut mir ewig leid!
Du kennst nur: Saufen und Die-Beine-breit;
Damit entzündest du bei mir kein Feuer!
Und dazu ist mein Schlüpfer auch zu teuer;
Mit dem Gefinger dehnst du ihn zu weit.
Jedoch was red ich! Du wirst nie gescheit!
Du weißt doch: Jedes Ding hat seine Zeit.
Und nimmermehr ist immer Ewigkeit.
Paß auf! Die Kurve! Unser schöner neuer
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Rechte bei Klaus Gubener
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Ab 1. Februar 2001:
Die letzten Zehn
von Arno Holz
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Ab 2. Februar 2001 im Sprechsaal:
Aus Nacht und Eis
Grabschrift für Frank Böhm
von Robert Wohlleben
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Ab 5. März 2001
Brigitte Lange:
ACH, BACH
Ach, Bach, ich bin in d-moll fortgegangen
und habe alle Fugen dicht gemacht,
auf der Empore nochmal Licht gemacht
und später viel Bekümmernis gefangen.
Zwar half der Geist der Schwachheit wieder auf,
im Dickicht jener neuen Oberkeeten;
doch wars, wie im Exil Zinnober beten,
gab um ein Haar die alten Lieder drauf.
Da ich zurück bin in die Stadt alleine,
denn Er hat Guts an mir getan, nee, nee,
will ich Ihn loben, mache kein Gegreine,
sing Ihm sehr bald ein neues Lied, in E.
So ruht denn wohl, ihr einzigen Gebeine.
Ach, Bach, daß ich an deinem Grabe steh.
1.10.95
Aus HEL: Sodoms Himmel (Meiendorfer Druck 39)
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Ab 24. März 2001 im Sprechsaal:
Zweckjahre
von Richard Klaus ( 1991)
Meiendorfer Druck 13
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Ab 7. April 2001:
Traum von der Stiefelspitze
von Klaus M. Rarisch
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Ab 7. Mai 2001:
Nr. 60
von William Shakespeare
in Übertragung von RW
Ab 7. Mai 2001 im Sprechsaal:
Diwan
von RW
Meiendorfer Druck 28
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Ab 1. Juni 2001:
RW:
Berg des Lebens
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Was wohnt im Berg, was hat dort sein Verlies,
sein heimliches Versteck vielleicht gefunden?
Hineinverwunschen, ins Gestein verschwunden
vor allem, was als schwindend sich erwies.
Seither verwittert Fels. Geröll und Kies
verfüllten talwärts Mulden, Klüfte, Schrunden.
Was anflog, ward Gewächs, zum Wald verbunden.
Es wächst sich fort, was aus dem Boden stieß.
Getier geht hin und hört vielleicht ein Singen
mit steten Wassern aus der Tiefe dringen
dann steht es still, als wäre es erschreckt.
Und Wind verspinnt verworrne Strömungsschlingen,
als wollt er Wolken um den Gipfel zwingen,
bis sich, was innen haust, als Blitz entdeckt.
Für Waltraut Körner zum 16. Mai 2001
Aus Nacht und Eis (Meiendorfer Druck Nr. 49)
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Ab 1. Juni 2001 im Sprechsaal:
Den Sonettisten
von Klaus M. Rarisch
Meiendorfer Druck 40
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Ab 15. September 2001 in Kapitelübersicht und Sprechsaal:
Sterbenslänglich
von Klaus M. Rarisch
Meiendorfer Druck 20
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Ab 11. Oktober 2001:
Feuerland
von Robert Wohlleben
Meiendorfer Druck 22
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Ab 24. November 2001:
RW:
Preisungen
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Oh heiße Dusche Du, Du sanfter Fön!
Oh warme Bö, oh lauer Hauch aus Kalmen!
Du schattenschöner Hain verwunschner Palmen!
Windharfenweich umweht mich dein Getön!
Wo bleibt Dein Bodycheck, bis daß ich stöhn
?
Geröllawine runter auf die Almen!
Wir Weidegrund mit buntem Kraut und Halmen!
Zermalmt sind Du und ich
der Rest obszön:
Das abgelaufne Bad (gefrierend Nässe).
Die Schlierenmuster ungeputzter Fenster.
Die Blumen sind aus Eis und kristallin.
Im blinden Spiegel stets dieselbe Fresse.
Der zugehängte Spiegel für Gespenster.
Solln wir das sein? Oh ja, geselle mîn!
Aus Nacht und Eis (Meiendorfer Druck Nr. 49)
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Ab 23. Dezember 2001 in Kapitelübersicht und Sprechsaal:
Warum
von Klaus M. Rarisch
aus Meiendorfer Druck 20
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Ab 22. Februar 2002 in Kapitelübersicht und Sprechsaal:
Mauer
von RW
aus Meiendorfer Druck 26
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Ab 11. November 2003 in der Kapitelübersicht:
Ernst-Jürgen Dreyer:
Auf ein altes Bild
Komm, spielen wir die Venus von Giorgione,
die hingegossen schläft im Niemandsland;
ein langer Arm begleitet sie, die Hand
liegt lässig in der erogenen Zone.
Komm, spiele du die liebliche Ikone!
Das Bettzeug stehe für die Leinewand.
Mein Arm geleitet deinen Leib; entspannt
ruht meine Hand in deiner krausen Krone.
So hingegossen träume ich, umschilft
im Kahn dahinzugleiten von der Insel;
flach ist das Wasser, unterm Kiel ist Schlick.
Die Tiefe wächst. Der Maler greift zum Pinsel.
Ein Engel führt des Meisters Hand und hilft
und stöpselt uns in eins zum Magnifique.
Verkaarstung und andere Sonette
(Meiendorfer Druck Nr. 53)
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Ab 8. März 2004 in der Kapitelübersicht:
Klaus M. Rarisch:
STILZCHEN
Noch einmal will dein innres Stilzchen rumpeln.
Es absentiert sich von der stumpfen Herde
gehörnter Ochsen und behufter Pferde;
es fühlt den Seelenkern zum Nullum schrumpeln,
verlornes Söhnlein unter dumpfen Kumpeln,
negiert als trüber Gast das Stirb und Werde,
vertut vor Wut sich, stampft sich in die Erde
da zieht ihn wer ans Licht zum Weiterhumpeln.
Und jener spricht: Wenn du dich sehen läßt
als Plumpsack ohne Frack, als Butzemann,
vergiß den einen nicht im Krähennest,
den über dir, der dich noch dann und wann
zu seinem hohen Zweck gebrauchen kann.
Gib her dein Geld, zahl ein bei Pay-Invest!
Des Glaubens aber (Meiendorfer Druck Nr. 55)
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Ab 26. August 2004 in der Kapitelübersicht:
Klaus M. Rarisch:
NUR EINE ROSE ALS STÜTZE
Ein Arbeitsplatz für tausend Arbeitslose.
Was tun? Verlosen? Oder auch verschenken?
Neunhundertneunundneunzig andre kränken
sich ölsardinengleich in enger Dose.
Sie denken nicht global. Denn läßt die Chose
ganz ohne sie sich halbwegs logisch denken?
Wer sinkt, muß tief ins Sinken sich versenken,
da blüht als Stütze ihm die Niemandsrose.
Maschinen stehen still, kann keiner schmieren.
Die Maschinisten können nur verlieren.
Man weiß: der Preis ist heiß, es fehlt an Ölen.
Die Arbeitsleere fristet man in Höhlen.
Da tönt ein allseits hochgeschätzter Köhler:
Uns stirbt der Staat. Ich bin sein letzter Öler.
Entferntere Nirwanen (Meiendorfer Druck Nr. 60)
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Ab 26. August 2004 in der Kapitelübersicht (alternativ):
Matthias Koeppel:
Troglodyten
Die Rose, Arbeitslosen-Niemandsrose,
für wahr, ein kaum zu treffend schönes Bild!
Doch steckt mir in die Ölsardinendose
den Köhler nicht, auch wenn man ihn jetzt schilt.
Vom Ölfleck reinige man ihm die Hose,
damit als Saubermann er weiter gilt;
dass neun plus neun mal hundert Arbeitslose
beruhigt sind und dass man ihn nicht killt.
Die unverschuldet armen Troglodyten,
die kauern dumpf in Plattenbauten-Höhlen.
Und nichts zu tun! Sie kleben nicht mal Tüten.
Doch lesend könnten sie sich stets beölen
an Trend-Autoren mit so Bettgeschichten,
und solchen, die gottlob, Sonette dichten.
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Ab 24. November 2004 in der Kapitelübersicht:
RW:
Fahr hin!
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Gedichte sind seit alters Massengut,
aus grauer Vorzeit finden sich noch Trümmer.
Vielleicht sind ihre treuen Publikümmer
nur blindlings hergeloffne Gassenbrut?
Ob wer nun kriegen, lieben oder jassen tut,
den Doppelkopf hie schlauer und hie dümmer,
teils ganz Clarté, teils gänzlich ohne Schümmer
sorgt ein Gedicht, daß er gelassen ruht. *
Der Orpheuskarren, dem die Achse ächzt,
er poltert hin wie Kollers Gotthardpost.
In Reim und Versfuß fügt sich Hott wie Hü.
Seis flott geträllert oder flau gekrächzt
am Rain des abgefahrnen Weges sproßt
manch dunkler Wortreflex zum Aperçu.
22. XI. 2004
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* Am 29. 8. 1915 notiert Gorch Fock im Tagebuch:
»Im Norden und Osten heftiges Feuer. Unsere Artillerie trommelt den russischen Rückzugsmarsch.« Im selben Kontext (und ein bißchen paradox):
»Ringsum atmet die Sonntagswelt. Kornblumen nicken im Winde. Storms Abseits, Uhlands Tag des Herrn, Lenaus Gedichte gehen mir durch den Sinn.«
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Für den Kaminsims (Meiendorfer Druck Nr. 58)
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Ab 11. Juli 2005 in der Kapitelübersicht:
Ernst-Jürgen Dreyer:
Falls
Erneut schminkt sich als Strategie die Taktik;
auf den TV-Kanälen segelt zickzack
des Kanzlers und der Kandidaten Schnickschnack:
»Ins offne Meer! und drüber die Galaktik!«
Ein Brausen aber hinter der Didaktik
durchwächst den Text. Das möderische Hickhack
des Hahnenkampfs verblaßt zum stummen Trictrac:
Die Stühle schwimmen schon wir fühlen Faktik
mit uns im Sog in eine Zukunft gleiten,
breit wie der Nil inmitten der Sahara,
breit wie die Wolga, wie der Brahmaputra.
Noch einmal flüchtet euch ins Kamasutra:
Grün wölbt sichs abwärts, und was tost vom Weiten,
ist nicht die See. Es ist der Niagara.
O zartes Blau des Nebels überm Stau
(Meiendorfer Druck Nr. 59)
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Ab 9. Februar 2006 in der Kapitelübersicht:
RW:
Entscheidungen (An mich)
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Macht hoch die Tür! Wars nicht allmählich Zeit,
die rein- und rauswolln ab- und auszuzählen?
Sie nach Bedarf zu rädern und zu pfählen,
bis daß kein Hansel mehr zum Himmel schreit?
Bloß keine Bange jetzt: Die Tor macht weit!
Hier gehts nicht drum, das liebe Herz zu quälen.
Hier heißts, gelassen die Courage stählen,
ob auch ein Abgrund Gift und Galle speit.
Auf Grund des Dolus in Verzicht und Pflicht
zur Last gelegt: der Sünden Siebenzahl
in all dem Wirrsal zwischen Sein und Schein.
Verspricht die Rolle für das Selbstgericht
die Aussicht auf gerechtes Tribunal?
Ich weiß schon: Einer muß der Bluthund sein.
für Klaus M. Rarisch zum Siebzigsten
Für den Kaminsims (Meiendorfer Druck Nr. 58)
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Ab 5. März 2006 alternativ in der Kapitelübersicht:
Klaus M. Rarisch:
Entscheidung gegen mich
Für Robert Wohlleben
Ich könnte mich ja an mich selber wenden.
Die Tür ist hoch, das Tor steht immer weit.
Ich wär der Hansel, der zum Himmel schreit
vor Qualen, ausgelöst durch pralle Lenden,
und nicht gelöscht mit eignen schwachen Händen.
Der Abgrund, der mir Gift und Galle speit
von nun an bis in alle Ewigkeit,
er klaffte breit. Es würde niemals enden.
Doch besser leist ich auf mein Ich Verzicht
und schleppe andere zum Tribunal;
denn meine Sünden sind es nicht allein,
auch die der Feinde müssen vor Gericht.
Die Richter dort sind ungerecht? Egal!
Ich Erdenwurm will nicht der Bluthund sein.
Memento mori (Meiendorfer Druck Nr. 64)
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Ab 9. Juni 2006 in der Kapitelübersicht:
Matthias Koeppel:
Pfußßpall
(Ommarsch à Raunaltünjuh)
Drr Hörrgutt dut, wosz ühm geföllt.
Örr tschuf dm Manschn, duch zevorr
dar pauhte örr doss Pfußßpalltorr,
hott zwui tarvunn gleuch hünngestöllt.
Drr Hörrgutt schprachh: jitzzt föhlt mür norr
oin Geignur, drr mütt Ardamm spöllt;
dar wordte Öwar uffgestöllt.
duch Ardamm tschoßß ünz fultsche Torr.
Drr Hörrgutt schprachh: Wullt ühr norr pfeuguln,
donn mößßt ühr Pfußßpallschpülar zeuguln!
Mütt Tschwuineschteigur pfüngk öss arn
Pudulzki, Pallarck, Olli Kahrn
dar tschumpft drr Hörr: Hhau rüchtig rünn you,
wür prauchn nuch nn Raunaltünjhu!
Mai 2006
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Ab 19. Juni 2006 in der Kapitelübersicht:
RW:
Filmkunst
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Das Filmprogramm für jeden Lebensgang
bestehts aus ewig neu gedrehten Streifen?
Verschlang sich nicht beim Schnitt der Plot zu Schleifen,
so daß die Story vor- und rückwärts sprang?
Die Tonspur liefert Lärm samt Sang und Klang,
dieweil Akteure durch die Szenen schweifen.
Das Licht strahlt auf, verlischt, im Dunkeln pfeifen
nur Mann und Maus, ein Weltkind mittenmang.
Die Nachtvorstellung für die Eingeweihten
bringt Vor- und Rückschau aller Kostbarkeiten,
von denen sonst im Hauptprogramm nichts bleibt.
Da kippt das Licht und kontern sich die Seiten,
da läuft die Handlung in entzerrten Zeiten.
Was zählt die Frage, wer am Drehbuch schreibt?
Für Veronika Gassmann
Volketswil (ZH), 9. Juni 2005
Für den Kaminsims (Meiendorfer Druck Nr. 58)
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Ab 4. Juli 2006 in der Kapitelübersicht:
RW:
Für den Kaminsims
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Ach weh
! wer rauscht nun durch die Nacht
nach Norden, Süden oder Westen?
Wer lauscht noch nach den letzten Gästen
den Reden nach, verstummt und lacht?
Wer tauscht die falschen Bärte, macht
das Licht aus in den Kummerkästen?
Wer bauscht nun Sorgen und Gebresten
zu gantz verwirrter Wörterfracht?
Verglasend stocken Wasserfälle
und junge Sterne stehn verwaist
an ihrer halbverkohlten Stelle.
Obwohl noch Rauch die Augen beißt,
empfängt der Blick versehrte Helle
vom Himmel, wo die Leere kreißt.
Für Robert Gernhardt
Volketswil (ZH), 30. VI. / 1. VII. 2006
Für den Kaminsims
(Meiendorfer Druck Nr. 58)
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Ab 7. Oktober 2006 in der Kapitelübersicht:
RW:
Rabenrapport
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Da schau: Die Raben sind zurückgekehrt.
Und hör: Was als Erinnerung und Wissen
gedacht war, ist zerkrächzt und ganz zerschlissen.
Du ahnst: Die Kunde läßt Dich unbelehrt.
Was Dich des Tags, was Dich im Traum versehrt,
das taugt zu trostlosen Gewissensbissen:
die je gehißten Banner abgerissen,
die je durchstreiften Marken längst verheert.
Im Sand zerbröckelt ein Libellenkopf,
im Stackgeröll vergeht ein Möwenflügel
ihr Flug und Ziel entglitten schon zu sehr.
Du packst Dich selber am Rebellenzopf,
verpaßt wohl auch den Wappenlöwen Zügel,
gehst nicht perdü
doch mit Dir selbst zu Kehr.
Mergoscia (TI), 2. August 2006
für K. Peter Grune, Waterloo, NY
Für den Kaminsims (Meiendorfer Druck Nr. 58)
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Ab 15. Oktober 2006 in der Kapitelübersicht:
Klaus M. Rarisch:
Zynische Zitate
Zum Zauber Satanischer Verse
Zitierend einen Kaiser von Byzanz
hat so der Papst das Christentum verteidigt,
auf dessen Heilsparolen er vereidigt?
Entkleidete er sich des Amtsgewands,
entledigend sich eigenen Verstands,
hat er die Stimme wölfisch nur bekreidigt,
bestreitend, daß er den Islam beleidigt?
Vielleicht aus Neid auf fremden Glaubens Glanz?
Entehrt das Schwert der Mensch, der Frieden lehrt?
Verdient der Gläubige das Paradies
als Mörder, wie es der Prophet verhieß?
Die Heiden, die ein Märtyrer bekehrt,
sind sie vor der Verdammnis nun bewahrt?
Und bleibt dem Teufel schließlich nichts erspart?
Memento mori (Meiendorfer Druck Nr. 64)
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Ab 5. März 2007 in der Kapitelübersicht:
RW:
Überschach
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Und gäbs an Feldern mehr als acht mal acht?
Und lösten sie sich auch mal aus den Nähten?
Und hätte da das Werk von Schneidgeräten
die Zahl verhundert- oder -tausendfacht?
Und die Figuren
ob sie ihre Macht
hinaus in ausgestülpte Räume blähten?
Entwickelten sie neue Qualitäten
für Zug und Schlagen in entgrenzter Schlacht?
Da stehn in Frage Sendung, Rang und Name.
Da ist ein Feld für Ein- bis Endloszüger.
Beständig bleiben Trieb und Wille wach.
Ein König und sein Volk bis hin zur Dame
befinden sich zum Schluß dann endlich klüger
und ganz allein beim Matt im Überschach.
Altona, 4. März 2007
für Lars Clausen
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Ab 25. April 2007 in der Kapitelübersicht:
RW:
Die Welt ist schlecht
in einem andern Ton
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Konstante fünf vor zwölfe weist die Klock:
Die Schlechtigkeit der Welt ist hochverläßlich
und unentrinnbar, wie längst unvergeßlich
besiegelt mit Sonetten des Barock.
Prinzip ist klar: Es gärtnert jeder Bock,
schützt beste Absicht vor, beträgt sich gräßlich,
weiß nichts von Schuld, bis sich am Ende häßlich
die Fratze zeigt: ein immer neuer Schock.
Beliebter Irrtum: Eine Satanshaxe
sei Merkmal all der bösen Schandgesellen
und ihrer rastlos regen Schlangenbrut.
Nee, nee! sind Menschen, die die Seelenachse
justieren, dann auf Dauerfeuer stellen:
aus altem Erbe ewig Tunichtgut.
Ottensen, 29. III. 2007
für Klaus M. Rarisch
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Ab 11. September 2007 in der Kapitelübersicht:
Klaus M. Rarisch:
Müll
für Ernst-Jürgen Dreyer
Längst ist die Welt von Pol zu Pol vermüllt,
doch wir vermissen immer noch den Schleier,
der uns das Elend trügerisch verhüllt.
Wir beten hoffnungslos nach alter Leier
und sind von Selbstzerstörungswut erfüllt.
Von Zwängen fühlen wir uns frei und freier,
wenn uns der Urlaub blüht: drei Wochen Sylt.
Wer das nicht glaubt, der lese nur den Dreyer.
Vergebens glaubten wir an einen Reinen
es blieb uns nur ein Leichentuch aus Leinen.
Geziefer überlebt auf Fliegenbeinen.
Erwarten wir, daß wer das Urteil spricht?
Errichtet keiner je das Weltgericht?
Es dichtet einer uns ein Weltgedicht.
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Ab 7. November 2007 in der Kapitelübersicht:
RW:
Mahnung zur Güte
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Was hat uns aufgebracht und so erbost,
daß sich die Augenlider enger stellen?
Daß an der Stirn die Zornesadern schwellen,
in den Pupillen dumpfe Glut verglost?
Enthemmt durch die Neuronennetze tost,
was alles fortreißt, was doch könnt mit schnellen
Reflexen Würde retten vorm Zerspellen.
Doch nein: nicht bei sich und nicht recht bei Trost.
Wozu bloß potenziert sich all der Schrecken,
als wären Galle, Gift und Zähneblecken
was wert und für den Weltenzustand not?
Der Geifer und der Schaum vorm Maul erwecken
nur Abscheu, statt Signale aufzustecken,
vermeldend: alles gut und ganz im Lot.
Ottensen, 7. XI. 2007
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Ab 23. Februar 2008 in der Kapitelübersicht:
Ernst-Jürgen Dreyer:
Werch ein Illtum
mit einem Vers von Klaus M. Rarisch
Ich kaufte einen Krimi »Nahtlos braun«
und freute mich auf Unzucht in den Dünen,
auf nackte Phrynen unter nackten Hünen,
und nahtlos Braunen »dabei« zuzuschaun.
Wie hatt ich mich betrogen und verhaun!
Anstatt um Nymphen ging es um Rankünen
Gesinnungsroter mit Gesinnungsgrünen,
um Neonazimord statt um den Faun!
Der sonnenlichtumflossene Nudist
ward Neo-, Anti und Sozialfaschist
erkannte er, wem da sein Bildnis glich?
Von wegen Freiheit, Sonne, Sand und Strand!
Er wütet: »Rechts von mir ist nur die Wand!«
und »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!«
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Ab 19. April 2008 in der Kapitelübersicht:
RW:
On a wing and a prayer
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für Peter Rühmkorf
Im Abendgrauen ists wie leichter Schritt.
Was kommt uns nun zum Nachtmeerflug shanghaien?
Ein Käuzchenflug führt hin zu kleinem Schreien,
uns scheint: Viel tiefer unten schreit es mit.
Der Film im Kopf läuft hin von Riß zu Schnitt,
ist abgespielt, beginnt schon zu verschneien.
Doch hin ist hin, Kopie nicht auszuleihen.
Erinnert bleibt die Tonspur mit »Kiwitt«.
Was noch? Ein bißchen Bilderflucht von Brandung,
die sacht in Meeresleuchten übergeht,
ein Inselsaum mit Zeichen von Versandung
Wohin solls gehn? Was meint der Paraklet?
Was reicht denn wohl für letztgewollte Landung?
Ein Flügel nur? Zur Not noch ein Gebet
?
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Ab 20. Mai 2008 in der Kapitelübersicht:
Ausnahmsweise mal kein Sonett
Rudi Faßbender:
Der Hüter des Kastens
(hier zu hören, beginnt bei 2:11)
Sein Blick ist vom Vorüberflug der Bälle
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob der strammen Bälle Welle
ihn hilflos überquellend überfällt.
Des Gegners Tanz papieren leichter Schritte,
fast sindelar auf engstem Raum gedreht,
verwirbelt Freund und Feind, bis aus der Mitte
erneut ein Schuß in den Triangel geht.
Nur manchmal blockt ein Bein die delle Pille,
er atmet durch, denkt: «Na, datt war ma Schwein!»,
entspannt nur kurz und in die Stille
wünscht er, es möge Sabbath sein.
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Ab 1. September 2008 in der Kapitelübersicht:
Klaus M. Rarisch (Quartette) &
Matthias Koeppel (Terzette):
Englar im Eppan
Ob man hier Rilkes Geist begegnet?
Denn eine Gräfin ist vorhanden;
man will an ihrem Busen landen;
vorausgesetzt, daß es nicht regnet.
Die Muse hat uns hier gesegnet.
Andreas Hofer lag in Banden;
bekümmert fragt man sich: seit wann denn?
Man weiß es nicht; i kenn den Weg net.
Und Hühner gackern rings ums Schloß;
es kräht der Hahn, doch Rilke schweigt?
Der einst das Leben hier genoß,
schleicht nun ums Haus herum und zeigt
verzaubert sich als weiße Ziege
und meckert, anstatt daß er schwiege.
Memento mori (Meiendorfer Druck Nr. 64)
Matthias Koeppel:
Hauskapelle St. Sebastian von Schloß Englar (2008)
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Ab 29. März 2009 in der Kapitelübersicht:
Sabine Römmer:
Es taut
Auf allen Straßen schliert der Brei,
zerfließt zu Unbehagen
aus langen, kalten Tagen.
Der Himmel trägt den letzten Schrei,
ein bißchen Weiß, ein bißchen Blei,
und aus diversen Lagen,
als würde es sich fragen,
ob es bald Zeit sei, blinzelt Blau,
noch etwas pubertär verwirrt:
ein Heißsporn, der an Kraft verliert,
bei seinen aussichtslosen,
leicht frostigen Symbiosen.
Die Erde töpfert unbeirrt:
erst Schneeglöckchen, dann Rosen.
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Ab 27. Juni 2009 in der Kapitelübersicht:
Herbert Rosendorfer:
Kater Boris spricht
Ein Turm von Trauer überragt das Land
des Grames. Pyramide steht daneben;
ein Hohnkanal durchzieht das triste Leben,
im Gras ich eine tote Amsel fand.
Ich bin, so sagt ein Gott, dazu imstand,
aus Kummer einen Teppich dir zu weben,
und dessen Farben, Schwarz und Grau, ergeben
das Tränenwappen, weit und ohne Rand.
Die Tinten sind vertrocknet, alles leer,
der Regen rinnt bis in der Seele Kern,
und irgendeiner, irgendwo und irgendwer
sucht ganz vergeblich in der Nacht den Stern.
Es dunkelt, es ist kalt und es ist schwer,
und hatt ich doch die ganze Welt so gern.
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Ab Ende August 2009 in der Kapitelübersicht:
RW:
Ebene von Nazca
Die Trajektorie stimmte. Doch sieh an:
Voraus ein Netz von wirren Landebahnen,
verzackte Linien, die sich quer verzahnen,
wies niemand niemals nicht berechnen kann.
Wer hat sich da verscharrt und hat sich dann
verirrt im Wahn, dem endlos filigranen
Gewirk, als könnt er über Kopf entahnen,
was jetzt der Kurs wär
oder irgendwann?
Nach nirgendwo in aller Weit- und Breite
all rückwärts Eingeschnittnes abgesteckt.
Da ist nichts mehr mit sicherem Geleite.
Wir starten durch. Und bleiben unentdeckt
das stets Vermale- oder Benedeite,
das ewig unbekannte Flugobjekt.
für Jochim Maack
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Ab 21. September 2009 in der Kapitelübersicht:
RW:
Abenteuerreise
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»Wohin des Wegs?« Da schweigt der Wandrer still
und könnte doch leichthin Romane dichten,
das Vorbestimmte taghell zu belichten
als Garn zu fein fürs ungefüge Spill.
Es führt sein Weg vielleicht dahin, wo schrill
ein Lärmen aufbricht aus verworfnen Schichten.
Dann wär von einem Wirrsal zu berichten,
wie ers schon kennt. Und gar nicht kennen will.
Ihn gibts nur einmal
oder kommt er wieder?
Er stand, entstellt von bitterem Gelächter,
auf hoher Kanzel oder vor Gericht.
Er sieht uns an durch kaum noch offne Lider.
Vorab gerichtet oder als Gerechter.
Wohin des Wegs? Wir fragen lieber nicht.
für Mirko Schädel
anläßlich der Übersetzung »Die Monikins«
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oooOooo
Ab 13. Dezember 2009 in der Kapitelübersicht:
Raphael B. Schwartz:
toter code
die leiche liegt am kompilierten teich
verkeilt ins wrack von der frisierten kutsche
aus dem kadaver quakt die alte hutsche
der vollmond scheint in seiner schleife bleich
ich folg dem unkenruf zum fundort gleich
wo ich prompt gegen unsern herrgott putsche
den voodoospruch mir aus den fingern lutsche
ein laufzeitfehler linkt zum geisterreich
dem nebelschleier dieser subroutine
entsteigt der zombie mit der alten leier
spielt streng die klinggedichte und besiegelt
sein schicksal abseits der funktionsmaschine
verharrt vor schönheit wie erstarrt am weiher
wo er sich selbstverliebt im quelltext spiegelt
für Robert Wohlleben
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